Boccaccio
(spr. -kattscho),
Giovanni, einer der größten ital. Dichter und hochverdienter Humanist, war der natürliche
Sohn eines in
Florenz
[* 2] ansässigen
Kaufmanns, dessen
Familie von
Certaldo, einem bei
Florenz gelegenen
Flecken,
stammte, weshalb
Boccaccio
seinem
Namen stets da
Certaldo hinzufügte, und wurde nach einigen 1313 zu
Paris,
[* 3] wohin seinen
Vater
Handelsgeschäfte gerufen
hatten, nach andern zu
Florenz von einer Pariserin geboren. Zum
Kaufmann bestimmt, widmete er sich sechs
Jahre lang mit Widerwillen diesem
Beruf, während ihn seine
Neigung zu den
Wissenschaften und der schönen Litteratur zog.
Auf einer Geschäftsreise nach Neapel, [* 4] wo er längere Zeit verweilte, wurde der Tradition nach beim Anblick von Vergils Grab, in Wahrheit aber wohl durch den Verkehr mit den Gelehrten, welche sich um den Hof [* 5] König Roberts I. von Neapel sammelten, die Begierde nach wissenschaftlichem und dichterischem Ruhm so mächtig in ihm, daß sein Vater nicht umhin konnte, seinem Verlangen, sich den Studien widmen zu dürfen, nachzugeben. Doch sollte er zur Vorbereitung auf einen einträglichen Beruf das kanonische Recht studieren.
Erst nach mehrjähriger fruchtloser Beschäftigung mit diesem seiner Neigung durchaus widerstrebenden Studium erhielt er von seinem Vater die Erlaubnis, dasselbe aufzugeben und sich ganz seinen Lieblingswissenschaften zu widmen. Zunächst legte er sich mit dem größten Eifer unter der Leitung des gelehrten Leontius Pilatus auf die gründlichere Erlernung des Griechischen, studierte fleißig die römischen Dichter und wurde von da an einer der wärmsten Beförderer der klassischen Studien in Italien. [* 6] Um die Verbreitung der Kenntnis der griechischen Sprache [* 7] und Litteratur insbesondere hat er sich unsterbliche Verdienste erworben, indem er zahlreiche griechische Handschriften sammelte und eigenhändig abschrieb.
Ebenso widmete er ein gründliches Studium den Werken seines großen Landsmannes Dante und wurde dessen erster Biograph und Kommentator. Zu seinen ersten eignen poetischen Werken begeisterte ihn die Liebe, deren Gegenstand der gewöhnlichen Annahme nach eine natürliche Tochter König Roberts von Neapel, Maria, gewesen sein soll, welche er unter den Namen Fiammetta in seinen frühsten Dichtungen feiert. Durch diese hatte er sich, kaum in der Blüte [* 8] des männlichen Alters stehend, bereits den Ruf eines vorzüglichen Schriftstellers sowie durch seine wissenschaftlichen Kenntnisse den eines der gelehrtesten Männer seiner Zeit erworben. Zu den hervorragendsten Geistern des damaligen Italien stand er in mehr oder weniger genauen Beziehungen.
Keine dieser Verbindungen aber wurde wichtiger für ihn als die mit Petrarca, den er wahrscheinlich schon in Neapel kennen gelernt hatte, und mit dem er etwa seit 1350 in Briefwechsel trat. Eine vertraute Freundschaft aber entwickelte sich zwischen beiden Männern, als er im folgenden Jahr Petrarca das Schreiben der florentinischen Regierung überbringen durfte, durch welches derselbe sein konfisziertes väterliches Vermögen zurückerhielt und zur Rückkehr in seine Vaterstadt eingeladen wurde.
Seit 1348 hatte Boccaccio
seinen festen
Wohnsitz in
Florenz, machte aber von dort aus häufig
Reisen, teils eigens zu dem
Zweck,
Handschriften zu sammeln, teils in wichtigen
Missionen, zu welchen das Vertrauen der
Regierung zu seiner Einsicht, seinen
Talenten
und Kenntnissen ihn öfters berief. Nachdem er schon vor 1347 Gesandter der
Republik bei Astasio da
Polenta,
Herrn von
Ravenna,
gewesen war, wurde er 1351 an den
Markgrafen
Ludwig von
Brandenburg,
[* 9] Sohn
Ludwigs des
Bayern,
[* 10] geschickt, um
denselben zu einem Zug
nach
Italien und zur Demütigung der mächtigen
Visconti zu veranlassen, eine Sendung, die jedoch ohne Erfolg
blieb. Zwei Jahre
¶
mehr
darauf sandte ihn die Regierung an den päpstlichen Hof in Avignon, um mit Innocenz VI. über das bei der erwarteten Ankunft
Kaiser Karls IV. zu beobachtende Verfahren zu verhandeln. 1359 stattete er seinem Freund Petrarca in Mailand
[* 12] einen Besuch ab, und
bei dieser Gelegenheit gelang es letzterm, den sinnlichen Genüssen übermäßig ergebenen Boccaccio
zu
einer Änderung seiner bis dahin ziemlich leichtfertigen Lebensweise zu veranlassen. Er gab sich seitdem mehr als bis dahin
religiösen Betrachtungen und Übungen hin; doch steht es nicht ganz fest, daß er, wie einige behaupten, in den geistlichen
Stand getreten sei. Nachdem sich die florentinische Regierung in den nächsten Jahren seiner noch mehrmals
zu diplomatischen Sendungen bedient hatte, erteilte sie ihm 1373 den ehrenvollen Auftrag, öffentliche Vorlesungen über
Dantes »Divina commedia« zu halten, die er im Oktober d. J. begann. Er starb aber schon in Certaldo. Nach länger
als 500 Jahren (Juni 1879) wurde ihm daselbst auf der Piazza Solferino
[* 13] ein Denkmal errichtet.
Boccaccios
Werke sind sehr zahlreich und sowohl in italienische als in lateinischer Sprache geschrieben. Von den italienischen
in gebundener Rede ist seine »Teseide« (erste Ausg., Ferrara
[* 14] 1475),
auch »Amazonide« genannt, das älteste romantische Epos
der Italiener, der genannten Prinzessin Maria gewidmet. Es besteht aus zwölf Gesängen in Ottaven, und sollte
Boccaccio
, wie von den meisten angenommen wird, der Erfinder dieser Strophenform sein, der schönsten, die für diese
Gattung der Dichtkunst gefunden werden konnte, so würde er sich schon dadurch allein ein hohes Verdienst erworben haben. Im
übrigen ist das Gedicht weder dem Inhalt noch dem Stil nach von großem Wert. Ein andres langes Gedicht:
»Amorosa visione« (noch ungedruckt),
besteht aus 50 Gesängen in Terzinen und ist ebenfalls der Prinzessin gewidmet in zwei
Sonetten und einer Kanzone, die in den Anfangsbuchstaben jedes Terzetts versteckt sind. »Ninfale Fiesolano« (zuerst Vened.
1477) und »Il Filostrato« (das.
1480; deutsch von Beaulieu-Marconnay, Berl. 1884), welches die Liebe von Troilus und Cressida besingt, sind gleichfalls romantische
Gedichte in Ottaven. Dazu kommt noch eine Reihe von Sonetten und Kanzonen. Von allen diesen Werken war Boccaccio
selbst nicht sehr erbaut
und soll manche andre verbrannt haben, als ihm Petrarcas Gedichte bekannt wurden.
Das Urteil seiner Landsleute hat sein eignes bestätigt, denn weder bei seinen Zeitgenossen noch bei der Nachwelt haben diese Gedichte großen Anklang gefunden. Von seinen Prosawerken ist wahrscheinlich das älteste, »Filocopo« (zuerst Vened. 1472),
eine weitschweifige und schwülstige Bearbeitung der französischen Sage von Flor und Blancheflor. Besser geschrieben ist »L'amorosa Fiammetta« in 7 Büchern, die Liebesklagen der von ihrem Geliebten verlassenen Fiammetta enthaltend (erster Druck, Padua [* 15] 1472; deutsch unter andern von Diezel und Kurz mit dem »Decamerone«, Stuttg. 1855). Ferner sind zu nennen: »Il Corbaccio, o Labirinto d'amore« (zuerst Flor. 1487),
eine heftige Satire auf das weibliche Geschlecht;
»L'Ameto« (zuerst Rom [* 16] 1478),
ein Schäferroman, aus Prosa und Versen gemischt;
seine Biographie Dantes: »Origine, vita e costumi di Dante Alighieri«, zwar sehr viel Romanhaftes enthaltend, aber durch die Schreibart ausgezeichnet, und der »Commento sopra la Commedia di Dante« (beste Ausg. von Milanesi, Flor. 1863, 2 Bde.), der zwar nur bis zum 17. Gesang der Hölle reicht, aber mancherlei wertvolle Aufschlüsse gibt.
Der große Ruhm Boccaccios
gründet
sich indessen
auf keins der vorhergenannten Werke, sondern einzig und allein auf sein »Decamerone«, welches durch die außerordentliche
Schönheit der Sprache und des Stils ein Muster für alle Folgezeit geworden ist und seinem Verfasser mit
vollem Rechte den Namen eines »Vaters der italienischen Prosa« und somit den des dritten Begründers der italienischen Litteratur
neben Dante und Petrarca erworben hat. Das »Decamerone« ist eine Sammlung von 100 Novellen, die nach orientalischer Weise durch
einen Rahmen miteinander verbunden sind, indem der Dichter sie von einer Gesellschaft von zehn jungen Leuten
beiderlei Geschlechts, die während der Pest aus Florenz geflüchtet sind, zu ihrer gegenseitigen Unterhaltung nach der Reihe
während zehn Tagen (daher der Name) erzählen läßt.
Die allerwenigsten dieser Geschichten, welche der mannigfachsten Art und teils tiefernsten und rührenden, teils heitern, ja ausgelassenen Inhalts sind, scheinen von seiner Erfindung zu sein. Die meisten sind nachweislich teils aus französischen »Fabliaux«, teils aus der ältern Sammlung der »Cento novelle antiche« geschöpft, teils gründen sie sich auf wahre Begebenheiten. Die Verschiedenheit der dem Leser vorgeführten Menschenklassen und Persönlichkeiten, ihre vortreffliche Charakteristik, die Mannigfaltigkeit der Begebenheiten, der reizvolle Wechsel von Ernst und Scherz, die Anmut der Erzählungsweise, verbunden mit der Fülle und Gewandtheit der Sprache, haben das »Decamerone« nicht nur zu einer Lieblingslektüre der Italiener aller Zeiten gemacht, sondern ihm eine Bedeutung für die Weltlitteratur erworben.
Beeinträchtigt wird sein Wert allerdings durch die nur allzu oft frivole Behandlung sittlicher Verhältnisse und den bis zur Schlüpfrigkeit freien Inhalt eines Teils der Erzählungen, weshalb das »Decamerone« stets mit Recht als verderblich für jugendliche Gemüter erklärt worden ist. Doch fällt dieser Fehler nicht allein dem leichtfertigen Sinn des Dichters, sondern der ganzen Richtung seiner Zeit zur Last. Das »Decamerone« ist unendlich oft gedruckt und wiederholt in alle gebildeten Sprachen übersetzt worden.
Die erste Ausgabe desselben, die sogen. Deo gratias-Ausgabe, erschien ohne Angabe des Jahrs und des Orts, die zweite in Venedig [* 17] 1471, beide in Folio und sehr selten; außerdem brachte das 15. Jahrh. noch elf Ausgaben. Sehr geschätzt wegen ihrer Korrektheit wird die Florentiner [* 18] Ausgabe von 1527 (die sogen. »Ventisettana«). Weitere Ausgaben sind: Lyon [* 19] 1555;
Amsterdam [* 20] (Elzevir) 1665;
Paris 1757, 5 Bde.;
1768, 3 Bde.;
nach einer Handschrift Amaretto Manellis vom Jahr 1384, Lucca [* 22] 1761;
von Poggiali, Livorno [* 23] 1789-90, 4 Bde., und die Pisaner 1815, 4 Bde.;
die kritische Ausgabe von Biagoli mit historisch-litterarischem Kommentar (Par. 1823, 5 Bde.);
die von Ugo Foscolo mit geschichtlicher Einleitung (Lond. 1825, 3 Bde.) und namentlich die von Fanfani (Flor. 1857, 2 Bde.; dazu als 3. Bd. die berühmten »Annotazioni dei deputati«).
Eine gute Textausgabe enthält Brockhaus' »Biblioteca d'autori italiani« (Leipz. 1861, 2 Bde.). Außerdem gibt es zahlreiche Auswahlen der nicht anstößigen Novellen, so: »Trenta novella« (Flor. 1859). Bereits um 1471 wurde das »Decamerone« ins Deutsche [* 24] von Heinrich Steinhöwel übertragen (hrsg. von Keller, Stuttg., Litterar. Verein 1860); neuere deutsche Übersetzungen lieferten Soltau (Berl. 1803, 3 Bde.; neue Ausg. 1884),
Schaum (Quedlinb. 1827, 6 Bde.), Ortlepp (Stuttg. 1841, 8 Bde.), Witte (3. Aufl., Leipz. 1859, 3 Bde.), Diezel und G. Kurz ¶
mehr
(Stuttg. 1855). Eine Übersicht der Ausgaben gibt Passano, »I novellieri italiani in prosa« (2. Ausg.,
Turin
[* 26] 1878); über die Quellen handeln Landau
[* 27] in »Quellen des Dekameron« (2. Aufl., Stuttg. 1884) und Bartoli, »I precursori del
e alcune delle sue fonti« (Flor. 1876). Boccaccios
»Opere complete« gab Moutier heraus (Flor. 1827-33, 17 Bde.),
eine Auswahl in deutscher Übersetzung Röder (»Boccaccios
Romane und Novellen«, Stuttg. 1844, 4 Bde.).
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In lateinischer Sprache schrieb Boccaccio
außer verschiedenen mythologischen und historischen Abhandlungen: »De genealogia deorum«, 15 Bücher;
»De montibus, silvis, fontibus, fluminibus, stagnis etc.«, in alphabetischer Ordnung;
»De casibus virorum et feminarum illustrium«;
»De claris mulieribus«;
Vgl. Hortis, Studj sulle opere latine del Boccaccio
(Triest
[* 28] 1879).
Über Boccaccios
Leben schrieben Manetti (hrsg. von Mehus),
Manni (in der »Storia del Decamerone«, Flor. 1742),
Mazzuchelli,
Tiraboschi und namentlich Graf Baldelli (das. 1806). Neue Aufschlüsse gibt das Memorandumbuch Boccaccios
, welches Ciampi in
Florenz aufgefunden und als »Monumenti d'un manuscritto autografo di Giovanni Boccaccio«
(Flor. 1827) herausgegeben hat.
Vgl. Landau,
Boccaccio
, sein Leben und seine Werke (Stuttg. 1877);