Blutrache
,
eine alte
Satzung, in welcher man den ersten
Versuch zur Begründung eines Rechtsschutzes, die Urform der
Rechtspflege, erblicken darf; sie ist die Wiederherstellung des durch die
Tötung eines Familiengenossen zerstörten Rechtszustandes
auf dem Weg des Selbstschutzes. Sie legt dem nächsten Blutsverwandten eines Getöteten die
Pflicht auf,
an dem
Mörder oder dessen Verwandten mit eigner
Hand
[* 2]
Rache zu nehmen, wird oft jahrelang und durch eine
Reihe von Geschlechtern
ausgeübt und verwickelt nicht selten ganze
Familien und
Stämme in blutige
Fehden. Das älteste
Recht kennt keine Bestrafung
des Totschlägers von
Staats wegen. - Die
Idee der Blutrache
ist eine allen Völkern des
Altertums ursprünglich
eigentümliche (s.
Ciceros
»Pro Roscio Amerino« 24; Ovids
»Metamorphoses« XII, 603). Wir finden sie bei ihnen in der frühsten
Zeit ihrer
Entwickelung, wo das Gemeinwesen noch nicht geordnet und stark genug ist, um dem Einzelnen
Recht zu verschaffen;
sie ist auch jetzt noch bei manchen Völkern, namentlich im
Orient, üblich, z. B. bei den Arabern, Persern, kaukasischen
Völkerschaften etc. Die alte
Poesie der
Beduinen ist durchdrungen von dieser
Sitte. Bei den
Hebräern wurde die Blutrache
durch
Anweisung
von sechs
Freistädten für unfreiwillige
Totschläger und durch die
Verordnung beschränkt, daß bloß
der
Totschläger selbst bestraft werden solle; in dieser Form aber bestand sie zweifellos bis zum
Exil. - Bisweilen kann die
Blutrache
durch
Geld abgelöst werden, wie z. B. bei den Persern.
Auch bei den alten Germanen hatte sie ihren Preis (s. Wergeld), blieb aber, selbst als das Christentum bei ihnen Eingang gefunden, trotz aller Verbote der Kirche und der Kaiser, trotz aller Umwälzungen in Sitte und Gesellschaft das ganze Mittelalter hindurch lebendig und erlosch erst mit der vollen Entfaltung der Territorialhoheit und dem Ersterben des Familienbewußtseins. Den Mohammedaner ist die Abfindung durch eine Lösungssumme nach dem Koran (Sur. 2, 179) gestattet.
Bei den Griechen lag in den ältesten
Zeiten die Rächung eines
Mordes der
Familie des Getöteten ob, doch beschränkte sich
die Blutrache
später auf Verfolgung des Mörders bei den
Gerichten. Bei den
Römern wurde in den frühsten
Zeiten die Blutrache
nach strengem
Wiedervergeltungsrecht
(jus talionis) vollzogen.
Allen
Germanen eigen und besonders üblich in
Island
[* 3] waren
die
Blutbrüderschaften, feierlich geschlossene
Verbindungen auf
Leben und
Tod zwischen Männern, von denen der eine für den
andern die Blutrache
übernahm und, wenn er sie nicht ausüben konnte oder jener starb, sich selbst tötete.
Auch bei den Slawen sowie bei den Illyriern kamen solche Verbindungen vor, und die Dajak auf Borneo schließen sie noch jetzt unter Vermittelung eines Priesters, welcher sie von ihrem Blute trinken läßt. Noch bis auf die neueste Zeit herrschte die in Corsica [* 4] (s. d.), wo alle Bemühungen der französischen Regierung um deren Beseitigung lange Zeit ziemlich erfolglos geblieben sind, während sich in Deutschland [* 5] nur bis in die Mitte des 16. Jahrh. diese Totschlagsühne nachweisen läßt.
Vgl.
Eichhoff, Die Blutrache
bei den Griechen (Duisb. 1873);
P. Frauenstädt, und Totschlagsühne (Leipz. 1881);
Post, Die Geschlechtsgenossenschaft der Urzeit (Oldenb. 1875).