Blutegel
[* 1] (Discophori Gr., Hirudinei auct.), Ordnung der Anneliden oder Ringelwürmer, langgestreckte, nicht selten abgeflachte Würmer [* 2] mit großer Haftscheibe am hintern Leibesende und meist noch einer kleinern Sauggrube vor oder in der Umgebung der Mundöffnung. Die für die meisten Ringelwürmer charakteristischen Borsten und Fußstummel fehlen. Die schmalen, äußerlich sichtbaren Ringel sind nicht die eigentlichen Segmente, vielmehr bilden erst vier oder fünf Ringel ein solches.
Der Kopf ist niemals scharf gesondert, die Mundöffnung liegt in der Nähe des vordern Körperendes und leitet in einen muskulösen Schlund, der entweder mit drei bezahnten Kieferplatten bewaffnet oder als Rüssel mehr oder minder weit vorstülpbar ist. Der vom Schlund aus beginnende Magendarm bildet ein gerade gestrecktes Rohr und führt in einen kurzen Enddarm, welcher oberhalb der hintern Sauggrube in die Afteröffnung mündet. Zahlreiche Drusen [* 3] unter der Haut [* 4] sondern eine schleimige Flüssigkeit ab, während tiefer liegende Drüsen ein zähes, helles, außerhalb des Körpers rasch erstarrendes Sekret abscheiden.
Auf der Rückenfläche der vordern
Ringel stehen in einer Bogenlinie paarweise hintereinander die
Augen,
welche aber wohl nur
Hell und
Dunkel wahrnehmen können; auch eine Art Geschmacksorgan ist vorhanden. In Betreff des
Nervensystems,
der
Zirkulations- und
Exkretionsorgane s.
Anneliden.
Alle Blutegel
sind
Zwitter und begatten sich, wie es scheint, zum Teil
in Wechselkreuzung; die männliche Öffnung liegt beim medizinischen Blutegel
zwischen dem 24. und 25.
Ring, die weibliche zwischen
dem 29. und 30. Zur Ablage der
Eier,
[* 5] welche vorher im Innern des
Körpers befruchtet worden sind, suchen sich die
Tiere geeignete
Stellen an
Steinen und
Pflanzen auf oder wühlen sich in feuchte
Erde ein, heften sich dann mit der Bauchscheibe
fest und umhüllen den Vorderleib mit einer schleimigen
Masse, welche allmählich zu einer festern
Hülle erstarrt.
Dann treten aus den
Geschlechtsorganen eine Anzahl kleiner
Eier und eine ansehnliche
Menge
Eiweiß aus, und der
Wurm zieht sein
Kopfende aus der nun gefüllten tonnenförmigen
Hülle heraus, welche sich zu einem ziemlich vollständig
geschlossenen
Kokon gestaltet. Wenn die jungen Blutegel
ihn verlassen, haben sie bereits eine ziemlich ansehnliche
Länge (beim medizinischen
Blutegel
von ungefähr 2
cm) und bis auf die mangelnde
Geschlechtsreife die
Organisation der ausgewachsenen
Tiere. - Die Blutegel
leben großenteils
im
Wasser, bewegen sich teils kriechend mit
Hilfe der Haftscheiben, teils schwimmend. Viele leben parasitisch
außen an
Fischen und
Krebsen; die meisten aber suchen nur zur Befriedigung ihres Nahrungsbedürfnisses die äußere oder innere
Halt von
Warmblütern auf, heften sich auf ihr an, durchbohren sie mit ihren
Kiefern, die wie eine
Kreissäge wirken
(s. Figur), und saugen sich voll
Blut, das meist für lange Zeit ausreicht. Einige
Arten, wie der
Pferdeegel, verzehren
Schnecken
[* 6] und
Regenwürmer.
Man unterscheidet drei
Familien: die Rüsselegel (Rhynchobdellidae), Kiemenegel (Branchiobdellidae) und Kieferegel (Gnathobdellidae).
Zur letztern (mit drei häufig gezahnten Kieferplatten im
Schlund und einem eine Art Mundsaugnapf bildenden, geringelten,
löffelförmig vorspringenden Kopfschirm
vor der Mundöffnung) gehört die
Gattung Blutegel
(Hirudo L., Sanguisuga,
Sav.), mit 80-100
Ringen und 5
Paar
Augen. Die 25-30
Arten greifen vielleicht alle den
Menschen an und bilden zum Teil, besonders in tropischen
Gegenden, eine förmliche Landplage. Der offizinelle Blutegel
(H. medicinalis L.) wird spannenlang und
ist im kontrahieren Zustand olivenförmig.
¶
mehr
Die Färbung wechselt so sehr, daß man 64 Varietäten aufgezählt hat, von dienen die häufigsten der deutsche Blutegel
(H. medicinalis
Sav.), mit sechs rostroten Längsbinden auf dem Rücken, und der ungarische Blutegel
(H. officinalis Sav.), mit vier roten oder braunen
Längsbinden, sind. Der offizinelle Blutegel
war ursprünglich in ganz Europa,
[* 8] dem südwestlichen Asien
[* 9] und Nordafrika
einheimisch, ist aber jetzt in vielen Gegenden, besonders Deutschlands,
[* 10] vollkommen ausgerottet.
Der kleinere, zahnärmere Dragoneregel (H. interrupta Moq. Tand.), mit sechs Reihen gelber, schwarz getüpfelter Flecke auf
dem Rücken, besonders in Algerien,
[* 11] Italien
[* 12] und Spanien,
[* 13] wird in großer Zahl nach Frankreich, England und Südamerika
[* 14] ausgeführt.
Der senegalische Egel (H. mesomelas Virey) wird aus Senegambien nach Frankreich gebracht, absorbiert aber
nur halb soviel Blut wie der offizinelle Blutegel.
Der Pferdeegel (Haemopis vorax Moq. Tand.), mit mehr cylindrischem Körper, auf dem
Rücken olivenfarben oder bräunlich, mit sechs Reihen kleiner, schwarzer Flecke, dunklerm Bauch
[* 15] und gelber oder bräunlicher
Längsbinde am Rand, bewohnt Gräben und Teiche in Mittel- und Südeuropa, besonders auch in Nordafrika und
wird an manchen Orten für Menschen und Vieh gefährlich, indem die jungen Tiere beim Trinken verschluckt werden und sich dann
für längere Zeit im Rachen, am Kehldeckel und in der Luftröhre festsetzen.
Gelingt die Entfernung der Egel nicht, so tritt Abmagerung, selbst Schwindsucht ein. Hirudo ceylanica Moq. Tand.,
ein 3-20 mm langer Landblutegel
, findet sich zur Regenzeit überall in Ceylon,
[* 16] mitunter in ungeheuern Schwärmen, und lebt auf
der Erde, im Gebüsch und auf Bäumen. Er bewegt sich mit großer Geschwindigkeit, wirft sich aus dem Gras auf seine
Opfer oder läßt sich von den Bäumen herabfallen und zwängt sich geschickt durch die Kleidung. Der Biß ist an sich nicht gefährlich,
wird es aber bei großer Zahl und schlechter Behandlung durch die lang dauernde Eiterung. Ähnliche Landblutegel
finden sich
auf den Sundainseln, den Philippinen, in den Nilgiri, im Himalaja, in Südaustralien und Chile.
[* 17]
Die medizinischen Blutegel
leben gern in ruhigen Teichen und Sümpfen mit Lehm- oder Thonuntergrund und Pflanzenwuchs, schwimmen am
Tag, namentlich bei warmem Wetter,
[* 18] lebhaft umher, rollen sich dagegen bei nebligem und kaltem Wetter zusammen. Im Herbst vergraben
sie sich so tief wie möglich im Schlamm. Die Fortpflanzung geschieht von Mai bis Juli. Nach der Begattung
bohren sie Gänge in die feuchte Ufererde über dem Wasserspiegel und formen ihre Kokons von Größe und Gestalt einer Eichel.
Jeder enthält 10-16 Eier von 0,15 mm Durchmesser und wird von dem Tier mit einer weißen, schaumigen Masse umgeben, welche durch
Eintrocknen schwammig wird. Nach 6 Wochen kriechen die Jungen aus, aber erst nach 3 Jahren sind sie zum medizinischen Gebrauch
tauglich; sie erreichen im 5. Jahr ihre volle Größe und können 20 Jahre alt werden. Man züchtet sie in Blutegel
teichen,
in denen sie vor ihren Feinden (Wasservögel, Hühner,
[* 19] Ratten etc.) geschützt sind und mit kleinen Fischen
oder Kaulquappen gefüttert werden.
Einige Züchter treiben wohl dem Tod verfallene Pferde,
[* 20] Esel oder Kühe in die Gruben, um Tausende von Egeln zu gleicher Zeit sich
an ihnen vollsaugen zu lassen. Im Winter bedeckt man die Gruben mit Tannenzweigen und Laub. Zur Aufbewahrung der Blutegel
benutzt
man weite, mit Leinwand überbundene Cylindergläser voll weichen Wassers, zur Versendung meist feuchte leinene Säckchen,
welche, von feuchtem Moos umgeben, in einem mit
feinen Löchern durchbohren Kistchen liegen.
Früher lieferte Deutschland [* 21] sehr viele Blutegel für den Markt, dann auch Südrußland, Ungarn, [* 22] Polen. Gegenwärtig ist man meist auf künstliche Zucht angewiesen. Die Stöltersche Anstalt bei Hildesheim [* 23] vertreibt jährlich fast 3½ Mill. Blutegel. Ein großer Markt für Blutegel ist Paris; [* 24] auch das südliche Europa, besonders die Gegend an den Donaumündungen, ist reich an Blutegeln, und die Ausfuhr aus Triest [* 25] soll einen jährlichen Wert von 3 Mill. Frank repräsentieren. Sehr große Mengen sendet Australien [* 26] nach Europa, besonders nach Paris und London, [* 27] wo die Blutegel noch immer sehr beliebt sind; die meisten australischen Blutegel konsumiert aber Amerika. [* 28] - Sehr große Egel saugen nicht selten gegen eine Stunde und nehmen dabei bis zu 10 g Blut auf, kleine von 0,2 g saugen eine Quantität Blut, welche 4½mal soviel wie ihr eigner Körper wiegt; große lassen aber schon los, wenn ihr Gewicht um das 3½fache gestiegen ist. Die Verdauung währt bei jungen Blutegeln immerhin 3-5 Monate, bei alten wohl über 1½ Jahr. Nach 2-4 Monaten beißen die Blutegel zwar wieder an, aber ihre volle Saugkraft erreichen sie erst nach viel längerer Zeit. Der völlig leere Blutegel kann über 2 Jahre fasten.
Der medizinische Gebrauch der Blutegel ist nicht sehr alt. In den Pariser Hospitälern sollen von 1829 bis 1836 jährlich 5-6 Mill. Blutegel verbraucht worden sein, gegenwärtig ist aber die Benutzung wieder sehr zurückgegangen. Die Blutentziehung durch Blutegel unterscheidet sich vom Aderlaß besonders durch ihre Dauer und führt daher nicht jenen Kollapsus herbei, welchen der Blutverlust aus einer großen Aderöffnung zu bewirken pflegt. Die Anwendung der Blutegel ist indiziert: bei Entzündungen aller Art, wo man die kleinen Gefäße entleeren will, auf welche das Aderlassen keinen Einfluß übt, bei Quetschungen und Kongestionen, ferner bei Kindern an Stelle des Aderlasses etc.;
zu vermeiden: aus entzündeten und entarteten sowie auf sehr dünnen und leicht verschiebbaren Hautstellen, z. B. an den Augenlidern, sowie an Stellen, unter denen größere Blutgefäße liegen.
Auf der Wange erregen Blutegel leicht Rotlauf. Bei sogen. Blutern (s. Bluterkrankheit) vermeidet man das Ansetzen der Blutegel ganz. Die Zahl der Blutegel richtet sich nach der Krankheit, dem Organ und dem Individuum. Erwachsenen setzt man 4-30 Stück auf einmal an, Kindern selten über 6. Die Hautstelle wird von Haaren und anhaftenden Unreinigkeiten sorgfältig befreit, mit kühlem Wasser abgewaschen, mitunter mit Milch, Zuckerwasser oder Blut (am besten aus der unreifen Feder eines Huhns oder einer Taube) benetzt, um die Tiere anzulocken. Zu gewissen Stellen, wie Zahnfleisch, Mandeln, Zunge, wählt man eigne Führungsapparate, gerollte Kartenblätter, Glascylinder u. dgl. Nach dem Ermessen des Arztes werden die Blutegel früher oder später durch Bestreuen mit Salz, [* 29] Asche, Tabak [* 30] von der Haut entfernt, wenn sie nicht von selbst abfallen;
nachher unterhält man in der Regel die Nachblutung durch feuchte Wärme; [* 31]
doch ist hier Vorsicht geboten, da sie sich oft schwer stillen läßt und bei Kindern tödliche Verblutung vorgekommen ist;
man schließt später die kleinen Wunden durch Druck oder Schwamm, Scharpie oder kaltes Wasser, Alaunlösung, Höllenstein etc.
Ist ein in den Magen [* 32] geraten, so gibt man Kochsalzlösung und später ein Brechmittel ein; ist er in den Mastdarm geschlüpft, so setzt man ein Klystier [* 33] von verdünntem Essig.
Vgl. Brandt und Ratzeburg, Medizinische Zoologie (Berl. 1829);
Moquin-Tandon, Monographie des hirudinées (neue Ausg., ¶
mehr
Montpellier [* 35] 1846);
Egidy, Die Blutegelzucht (Zittau [* 36] 1844);
Ebrard, Monographie des sangsues (Par. 1857);
Rathke, Beiträge zur Entwickelungsgeschichte [* 37] der Hirudineen (Leipz. 1862);
Leuckart, Die menschlichen Parasiten, Bd. 1 (2. Aufl., das. 1879 ff.);
Stölter, Praktische Resultate der Blutegelzucht (Hildesh. 1860).