Blutarmut
oder Anämie, auch Oligämie, nennt man ebensowohl den abnorm geringen Blutgehalt eines Organs oder des ganzen Körpers als auch den abnorm geringen Gehalt des Blutes an festen, für die Ernährung wichtigen Stoffen, d. h. also die Wässerigkeit des Blutes (Hydrämie oder Oligocythämie). Eine Verminderung der normalen Blutmenge des ganzen Körpers kommt nur vorübergehend als akute Anämie nach starken Blutverlusten vor; sehr schnell nehmen die Blutgefäße an Stelle des verlorenen Blutes Wasser auf; die frühere Blutmenge wird dadurch zwar wiederhergestellt, aber das Blut ist nun ärmer an den ihm eigentümlichen Stoffen, d. h. an Blutkörperchen [* 2] und Eiweißstoffen, dagegen reicher an Wasser.
Ein ähnlicher Zustand kann sich ganz allmählich (chronische
Anämie) entwickeln, wenn die Blutbereitung eine mangelhafte
ist, insofern der
Verlust, welchen das
Blut durch die
Ernährung des gesamten Körpers erleidet, nicht wieder
ersetzt, somit das
Blut allmählich verschlechtert und zur
Ernährung des Körpers untauglich wird. Diese Art der Blutarmut
entwickelt
sich in allen schweren, fieberhaften
Krankheiten;
ferner bei chronischen Krankheiten einzelner, der Blutbereitung dienenden Organe, insbesondere der Verdauungswerkzeuge, der Milz und der Lymphdrüsen, der Lunge [* 3] u. s. w.;
weiterhin bei länger dauerndem Verluste von Säften, besonders von Eiweißstoffen, wie nach fortgesetztem Hungern und nach zu langem Säugen, nach rasch aufeinander folgenden Wochenbetten, nach größern Eiweißverlusten bei Nierenkrankheiten, chronischen Eiterungen u. s. w.;
endlich immer dann, wenn durch schlechte Nahrung und schlechte Luft oder aber durch übermäßige körperliche und geistige Anstrengungen oder irgendwelche, den Organismus erschöpfende Ausschweifungen ein Mißverhältnis zwischen Verbrauch und Ersatz der Stoffe im Organismus eintritt.
Daher sehen wir Rekonvalescenten,
Magen- und
Darmkranke, Lungenleidende, Skrofulöse, ferner die Bewohner dumpfer, finsterer Wohnungen, Gefangene, schlecht genährte
und übermäßig geistig angestrengte, stubenhockende
Kinder u. s. w. anämisch werden.
Schwere Formen
der Blutarmut
werden endlich im Verlaufe gewisser chronischer
Vergiftungen, namentlich der
Arsen-,
Blei- und
Quecksilbervergiftung beobachtet.
Man pflegt diejenigen Formen der Blutarmut
, welche auf einer Erkrankung oder mangelhaften Thätigkeit der blutbildenden
Organe beruhen, als primäre oder essentielle
Anämie zu bezeichnen, im Gegensatz zur sekundären
Anämie,
die infolge von
Blut- und Säfteverlusten oder infolge von mangelhafter Nahrungszufuhr entsteht.
Die allgemein beobachtete Zunahme des Vorkommens der in unserer Zeit erklärt sich aus dem engen Zusammenwohnen der
Menschen
in den großen
Städten, aus der Fabrikindustrie, der Zunahme
des Proletariats, insbesondere aber aus den übermäßigen
Ansprüchen,
die man an die
Kinder macht, sei es bei den ärmern
Klassen in körperlicher, sei es bei den wohlhabendern
in geistiger
Arbeit; anderer
Ursachen nicht zu gedenken, wie der vorzeitigen geschlechtlichen
Entwicklung der Stadtkinder und
der durch die Genußsucht und Lebenshast unsers Zeitalters bedingten allgemeinen Überreizung des
Nervensystems. (S.
Nervenschwäche.)
Die
Anämie verrät sich durch allgemeine
Blässe und durchscheinende Beschaffenheit der
Haut
[* 4] und Schleimhäute,
was nicht ausschließt, daß die
Wangen rot gefärbt sind oder daß die gewöhnliche
Blässe bei jeder Aufregung einer starken
Röte weicht; ferner durch Schwäche und Schlaffheit aller Funktionen, Verminderung der
Temperatur, schnelle
Ermüdung nach
jeder körperlichen oder geistigen Anstrengung, Reizbarkeit des gesamten
Nervensystems, daher häufige
Schmerzen in verschiedenen
Teilen
(Kopfschmerzen, Brustschmerzen,
Gesichtsschmerzen,
Herzklopfen, Atembeschwerden, Schwindel
u.
dgl.). Die
Heilung der Blutarmut
ist nur möglich, wenn ihre
Ursachen entfernt werden können, am ehesten also noch da, wo sie die
Folge anderweiter heilbarer
Krankheiten oder einer verkehrten Lebensweise ist.
Vor allem ist für Herstellung einer guten
Verdauung und einfache, aber nahrhafte Kost sowie für frische,
reine Luft zu sorgen; kommt hierzu eine mäßige geregelte Thätigkeit des Körpers und
Geistes, so wird die Blutarmut
sich bald
bessern, wenn sie überhaupt heilbar ist. Besonders ist nie zu vergessen, daß gute Luft und Licht
[* 5] zum
Gedeihen des Körpers ebenso nötig sind als gute Kost.
Zur Unterstützung der Kur pflegt man vielfach bittere
Arzneimittel, insbesondere
Chinin, und das
Eisen
[* 6] mit Erfolg anzuwenden.
Besondere
Arten der Blutarmut
sind die
Bleichsucht (s. d.), bei welcher das
Blut zwar den normalen Gehalt an
Eiweißstoffen, aber zu
wenig
Blutkörperchen enthält, die
Leukämie (s. d.), bei welcher die farblosen
Blutkörperchen übermäßig
zahlreich sind, und die sog. progressive perniciöse
Anämie, eine noch rätselhafte
Krankheit, welche auf dem Zerfall und
Untergang zahlloser
Blutkörperchen beruht und unaufhaltsam in kürzester Frist unter Fiebererscheinungen zum
Tode führt.
Vgl. Immermann, Allgemeine Ernährungsstörungen, in Ziemssens «Handbuch der Pathologie und Therapie», Bd. 13 (2. Aufl., Lpz. 1879);
Pfaff, und Bleichsucht (ebd. 1870).
Unter lokaler Anämie versteht man die auf einen bestimmten Körperteil beschränkte Blutleere. Jeder Druck auf die Haut macht dieselbe vorübergehend blutarm und blaß; ebenso alles, was die Muskulatur der Arterien zur Zusammenziehung bringt oder diese das Blut zuführenden Gefäße sonstwie verengt. Daher bewirkt der Reiz der Kälte Anämie, jedoch nur auf einige Zeit, während nachher infolge der Erlahmung der Gefäßnerven und Gefäßmuskeln eine um so stärkere Blutfülle folgt.
Schreck und Furcht wirken als Reiz auf die Nerven [* 7] der Arterien des Gesichts, infolgedessen sie sich verengen und weniger Blut zu den Haargefäßen der Haut zulassen: daher das plötzliche Erblassen des Gesichts. Die lokale Anämie bewirkt Erkaltung des betroffenen Teils und Herabsetzung seiner Funktionen. Anämie der Haut wird daher als Kälte empfunden, Anämie der Drüsen bedingt Verminderung und Abänderung der Sekrete, Anämie des Gehirns Schwindel und Ohnmacht, Anämie der Muskeln [* 8] ¶
mehr
Schwäche oder Lähmung derselben. Die ausgedehnteste Anwendung findet die lokale Anämie in der von Prof. Esmarch in Kiel [* 10] eingeführten künstlichen Blutleere bei Operationen (s. Amputation). -
Vgl. Esmarch, über künstliche Blutleere bei Operationen (Lpz. 1873).