Billigkeit
(jurist.). Das Recht stellt allgemeine Regeln auf. Wäre es dem Menschen möglich, die Regeln so genau und so gerecht zu formulieren, daß die einfache logische Konsequenz aus der allgemeinen Vorschrift genügte, um für jeden einzelnen Fall eine für alle Beteiligten angemessene Entscheidung zu treffen, so hätten wir vollkommene Gesetze. So aber erfahren wir auf allen Gebieten des Rechts durch die Praxis, daß das Gesetz hier und da nicht paßt. Ein überraschender Specialfall eröffnet eine neue Perspektive.
Wollte man hier das Gesetz in seiner
Strenge anwenden, so würde man zu einer unbilligen Konsequenz kommen.
Die Billigkeit
ist kein
Mitleid, sie fordert nicht eine Modifikation des Gesetzes, weil dasselbe wegen zufälliger Umstände, welche
für die Regelung rechtlicher Verhältnisse nicht maßgebend sind, den Einzelnen hart trifft, sondern sie fordert, daß das
Gesetz dem, was der Idee des Rechtsverhältnisses entspricht, was seiner innern Natur gemäß ist, Genüge
leistet.
Wer im fremden Auftrag verreist, hat den Anspruch auf Ersatz der Kosten, welche er im Interesse seines Auftraggebers aufgewendet hat. Wird er auf der Reise ohne sein Verschulden von Räubern überfallen, welche ihm das, was er als Reisegeld mitgenommen hat, rauben, so ist das Geraubte nicht im Interesse des Auftraggebers verwendet. Auf jenen Rechtssatz kann er also einen Anspruch gegen den Auftraggeber nicht gründen. Aber es wäre unbillig, wenn den Schaden der Reisende tragen sollte, welcher die Reise lediglich im Interesse des Geschäftsherrn unternimmt. Er hätte sich das Reisegeld vom Auftraggeber vorschießen lassen können, um die Kosten von diesem Barbestande zu bestreiten.
Dann wäre das Geld des Auftraggebers geraubt, und dieser hätte selbstverständlich den Schaden gehabt. Ein billiges Urteil wird den Auftraggeber für haftbar erklären. Daß etwa der Beauftragte reich ist, und daß den Auftraggeber nach seinen Vermögensverhältnissen der Verlust härter trifft, entscheidet nicht, das wäre Mitleid. Wenn ein Wechsel durch Vollindossament übertragen wird, so stehen dem Indossator Einreden aus der Person seines Indossanten nicht entgegen.
Das ist formales
Recht. Wenn aber der Indossatar den Wechsel nur aus Gefälligkeit für den
Indossanten übernommen hat, um
ihn für dessen
Rechnung, aber in eigenem
Namen einzuklagen, so verlangt es die Billigkeit
, daß er die Einwendungen gegen sich gelten
läßt, welche der
Acceptant gegen den
Indossanten hätte vorschützen können, wenn dieser selbst geklagt hätte. Nach allgemeinen
Rechtsgrundsätzen muß jeder den Schaden tragen, welcher ihm aus einem unglücklichen Zufall erwächst,
der ihn trifft, er sei arm oder reich.
Die Eisenbahnverwaltungen betreiben aber ein Gewerbe, welches besonders leicht Zufälle mit sich führt. Sie ziehen daraus Vorteile und sind allein in der Lage, durch die möglichst besten Einrichtungen, sorgsame Überwachung, Auswahl der besten Kräfte, angemessene Besoldung derselben den Kreis [* 2] der Unfälle einzuschränken. Der Reisende und der Absender von Gütern kann dazu gar nichts thun, der Dritte, welcher durch den Eisenbahnbetrieb verletzt wird, noch weniger.
Deshalb war es billig, daß die deutsche Gesetzgebung die allgemeine Rechtsregel für den Eisenbahnbetrieb änderte, den
Unternehmer für den Schaden an
Personen und Sachen schlechthin haftbar erklärte. Aber es war wieder billig,
daß die Haftung ausgeschlossen wurde für die Fälle höherer Gewalt, welche auch die beste
Verwaltung nicht abwenden kann.
Die Gesetzgebung überläßt teils dem
Richter die Hereinziehung der Billigkeit
, zumal wenn sie seinem Ermessen die
Entscheidung überläßt.
Hier hat das billige Ermessen zu walten, welches auch in Vertragsverhältnissen maßgebend ist. (S. Arbitrium.) Zum Teil korrigiert sich die Gesetzgebung selbst, indem sie allgemein gefaßte Gesetze durch speciellere Bestimmungen einschränkt, unzureichende Bestimmungen erweitert, neue Satzungen trifft. Das großartigste geschichtliche Beispiel eines allmählichen Fortschreitens vom unvollkommenen strengen Recht (jus strictum) mit seinen dürftigen abstrakten Satzungen zu einem reichen Schatze von die individuellern Gestaltungen, die Gestaltungen des allgemeinen Verkehrs zwischen röm. Bürgern und Nichtbürgern, berücksichtigenden billigen Rechtsregeln (jus aequum) bietet das röm. Recht. Daher der enge Zusammenhang einerseits zwischen jus strictum und jus civile (dem alten Recht der röm. Bürger), andererseits zwischen jus gentium, dem Bürgern und Nichtbürgern ¶
mehr
gemeinsamen Recht, und dem jus aequum. Die Fortbildung geschah weniger durch Gesetze als durch in bewußter Weise mittels der Gerichtsbarkeit der röm. Prätoren und der Wissenschaft der röm. Juristen fortgebildetes Gewohnheitsrecht. Im engl. und amerik. Recht besteht ein ähnlicher Gegensatz zwischen Common law (s. d.) und Equity; denn obwohl es jetzt nur einen High Court giebt, der an die Stelle der Common Law Courts und Equity Courts getreten ist, so werden doch von der Rechtswissenschaft die Grundsätze der beiden Systeme noch auseinander gehalten. Auch werden in der Chancery Division noch vorzugsweise die Sachen verhandelt, für welche die Grundsätze der Equity besonders anwendbar waren. In jeder Abteilung des High Court gilt aber die Regel, daß im Falle eines Konflikts die Regeln der Equity anzuwenden sind.