Titel
Bevölkerun
gsgeschichte.
[* 2] Die Bevölkerungslehre oder Bevölkerungswissenschaft ist ein Zweig der Sozialwissenschaften und zwar derjenige, welcher sich mit Stand und Bewegung der Bevölkerung, [* 3] betrachtet nach Zeit, Raum und Gesellschaftsklassen, beschäftigt. Früher wurde sie meist als ein Teil der Nationalökonomie angesehen und gipfelte in dem sogen. ¶
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Bevölkerungsgesetz. Erst in jüngster Zeit ist infolge der Fortschritte der Sozialwissenschaften im allgemeinen und der
Statistik im besondern ihre Stellung als besonderes Wissenschaftsgebiet zur Geltung und Anerkennung gekommen. Damit ergab sich
gleichzeitig auch die Möglichkeit und Notwendigkeit einer geschichtlichen Erforschung und Betrachtung der durch die Bevölkerungswissenschaft
der Kenntnis vermittelten gesellschaftlichen Erscheinungen, d. h. die Bevölkerungsgeschichte.
Eine solche gehört jedoch erst
der allerjüngsten Zeit an, und ihre Resultate sind daher bis jetzt nur Stückwerk.
Dies darf nicht wundernehmen, da ja doch die ungleich ältere und mehr gepflegte Wirtschaftsgeschichte, welche überdies
mit der Bevölkerungsgeschichte
auf das engste zusammenhängt, bis heute auch nur Stückwerk geblieben
ist. Dennoch aber ist es interessant und wertvoll, die bisherigen Resultate der bevölkerungsgeschichtlichen Forschung zusammenzufassen,
da deren Bedeutung in der That eine sehr große ist. Es bietet ja an sich schon einen eignen Reiz, die Zahlenverhältnisse
des Menschengeschlechts, der einzelnen Völker, welche im Verlauf der Zeit eine Rolle gespielt haben, und
der einzelnen Gesellschaftsklassen zu verfolgen und im ursachlichen Zusammenhang zu erkennen.
Man kann wohl sagen, daß hierüber höchst abenteuerliche und völlig ungerechtfertigte Vorstellungen bestehen, mit denen
die Wissenschaft noch immer im Kampf steht, ohne im stande gewesen zu sein, sie auszurotten. Dann aber bedenke man, welchen
Wert die Bevölkerungsgeschichte
für die allgemeine geschichtliche Forschung Überhaupt besitzt.
Keine geschichtliche Darstellung ist im stande, sich ziffermäßiger Angabe über Größe und Stärke
[* 5] der Volksstämme, der Gesellschaftsklassen,
der Kriegsheere zu Land und zu Wasser, der Kolonien u. dgl. zu entschlagen.
Die vorwiegend politisch-geschichtlichen, dann aber auch die kulturgeschichtlichen Nachrichten der sogen.
Weltgeschichte erlangen erst durch einen dergestaltigen plastischen Hintergrund ihre wahre Bedeutung. Und
zwar liegt der Wert der Bevölkerungsgeschichte
für die sogen. Weltgeschichte nicht nur darin, daß die Darstellung ungemein an Anschaulichkeit
gewinnt, sondern auch darin, daß die Aufhellung der Thatsachenzusammenhänge nicht selten von der Erkenntnis quantitativer
Verhältnisse geradezu abhängig ist.
Dasselbe gilt selbstverständlich auch für die kulturgeschichtliche Forschung und zwar vornehmlich für die Erforschung der klassischen Zeit und des mittelalterlichen Lebens. Je wichtiger der Klassizismus der griechisch-römischen Welt für die Ausgestaltung des heutigen Geistes- und Völkerlebens überhaupt zu bezeichnen ist, desto notwendiger ist es, diese Epochen der Geschichte der Menschheit auch auf gegründete Zahlenverhältnisse zu fundieren. Dazu kommt dann noch ein weiteres Moment.
Die Methode der Bevölkerungslehre ist nahezu ausschließlich die statistische Induktion. [* 6] Die Erkenntnis der einschlägigen Phänomene wird nun um so vollkommener, je mehr wir im stande sind, dieselben nicht nur in der Gegenwart, sondern auch im geschichtlichen Verlauf unter den verschiedenartigsten Darstellungsformen zu betrachten. Die wichtigen Probleme des Sexualverhältnisses der Gebornen und in der Bevölkerung, des Altersaufbaues und der Absterbeordnung, der Wanderungen etc. bieten in geschichtlicher Form ganz neue Gesichtspunkte dar, welche die durch die Betrachtung zeitgenössischer Vorgänge vermittelte Erkenntnis wesentlich ergänzen.
Nicht zum wenigsten gilt dies bezüglich der enorm wichtigen Frage des sogen. Bevölkerungsgesetzes. Im 17. und 18. Jahrh. war die Bevölkerung der europäischen Staaten im allgemeinen eine sehr dünne, und es entwickelte sich demgemäß eine Richtung in der Bevölkerungslehre, jene der Populationisten (Süßmilch, Sonnenfels, Justi etc.), welche die Hebung [* 7] der Volkszahl als Aufgabe der Staatsverwaltung hinstellten und zahlreiche konkrete Maßnahmen hierfür empfahlen, unter welchen die Kolonisation nicht an letzter Stelle zu nennen ist. Im Gegensatz dazu entwickelte gegen Ende des vorigen Jahrhunderts in England Malthus seine Ansichten über das Bevölkerungsgesetz, welche auf das gerade Gegenteil hinausliefen und von der Anschauung einer bereits gegenwärtig bestehenden oder doch in Zukunft zu erwartenden Übervölkerung getragen wurden.
Die Ereignisse der auf Malthus folgenden Zeit gaben ihm scheinbar recht, indem mit dem allgemeinen Aufschwung der Industrie und der Verdichtung des Verkehrs eine außerordentlich starke Bevölkerungszunahme erfolgte. Im Zusammenhang damit sehen wir in der Bevölkerungslehre Richtungen vertreten, welche auf Abhilfe dieser Übervölkerung hindrängen. Dazu gehört die vornehmlich im Deutschen Reich vertretene kolonialpolitische Richtung, dann aber der sogen. Neomalthusianismus (vertreten von Stille u. a.). Diese letztgenannte Richtung will die rasche Vermehrung der Völker durch Maßregeln hindern, welche eine verminderte Fruchtbarkeit des weiblichen Geschlechts zur Folge haben sollen. Dabei kann man sagen, daß im allgemeinen über die Zukunft des Menschengeschlechts vom Standpunkte des Verhältnisses zum Nahrungsspielraum ziemlich trübe Ansichten verbreitet sind, über welche man sich allerdings nur selten genaue Rechenschaft abgibt.
Zur nüchternen und eigentlich wissenschaftlichen Beurteilung des Bevölkerungsgesetzes, d. h.
des Verhältnisses der Volkszahl zum Nahrungsspielraum im Verlauf der Entwickelung der Völker, ist es nun durchaus
nicht genügend, nur die gegenwärtigen oder jüngstvergangenen Verhältnisse zur Untersuchung heranzuziehen; es ist vielmehr
erforderlich, den Blick historisch zu erweitern und zur Bevölkerungsgeschichte
zu greifen, soweit dieselbe überhaupt Nachrichten
zu geben vermag.
Dabei gelangen wir dann zur Einsicht, daß es nicht angeht, von einem allgemeinen Gesetz der zahlenmäßigen Entwickelung des Menschengeschlechts im allgemeinen zu sprechen, sondern daß eine solche Regelmäßigkeit nur betreffs einzelner Völker angenommen werden darf. Hiermit aber stehen wir vor einer für jedes Volk sehr wichtigen Kenntnis. Indem wir im großen und ganzen der geschichtlichen Entwickelung die Völker in die Geschichte eintreten, sich entwickeln, absterben oder sich erneuern und ununterbrochen weiter bestehen sehen, erkennen wir auch die Stellung, welche ein jedes konkrete Volk in seinem historischen Entwickelungsgang im gegenwärtigen Moment einnimmt.
Diese Erkenntnis ist aber wichtig, um den steten Rivalitätskampf zu verfolgen, welchen die Staaten im Verlauf der Zeit führen.
Die zeitweise Hegemonie Griechenlands, dann Roms, der stete Rückgang der politischen Macht Frankreichs,
das Anwachsen der politischen und ökonomischen Bedeutung der Vereinigten Staaten
[* 8] Nordamerikas, all diese Erscheinungen finden
eine sehr natürliche Auflösung bis in die letzten Ursachen durch das Zurückgehen auf die populationistischen Veränderungen
dieser Völker. Somit unterliegt es keinem Zweifel, daß die Bevölkerungsgeschichte
von hohem Interesse und hoher Bedeutung
ist, und daß eine Zusammenfassung ihrer Resultate selbst jetzt schon wertvoll genannt werden kann, wo diese letztern noch
als sehr lückenhaft hinzustellen sind.
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Sollte die Bevölkerungsgeschichte
ihre Aufgabe ganz erfüllen, so müßte es möglich sein, sowohl den Stand als auch die Bewegung der Bevölkerung,
d. h. der einzelnen Völker und der Völkersysteme, im ununterbrochenen geschichtlichen Zusammenhang zu erfassen. Davon ist
die heutige Forschung noch weit entfernt. Ja, es kann sogar wohl auch gesagt werden, daß die Forschung
niemals dazu gelangen wird, dieser Aufgabe nach allen Richtungen gerecht zu werden. Denn in der Entwickelung der Menschheit
und der Völker gibt es große Epochen, für welche alle jene Behelfe fehlen, welche zur bevölkerungsgeschichtlichen Erforschung
notwendig sind, und vermutlich werden diese Lücken nie ausgefüllt werden. Es beschränkt sich daher
die Bevölkerungsgeschichte
im allgemeinen darauf, den Gang
[* 10] der populationistischen Erscheinungen der Völker und Völkersysteme im großen und ganzen
zu skizzieren und zu umschreiben, ohne dabei auf ziffermäßige Fixierungen allzu tief einzugehen.
Aber auch hier sind gewisse Grenzen [* 11] gezogen. So beginnt die Forschung im wesentlichen erst bei der griechisch-römischen Epoche. Weiter zurück liegen nur bruchstückweise Nachrichten, z. B. über die uralte Kultur der Chinesen oder über das Volk der Juden, vor. Aber auch während der antik-klassischen Zeit ist es nur ein begrenzter Erdstrich, nämlich die Gegend des Mittelmeers, [* 12] über welche wir genauere Nachrichten besitzen, während über die übrigen europäischen, einige wenige asiatische und afrikanische Gegenden nur vage Vermutungen möglich sind und über die übrigen Teile Asiens und Afrikas sowie über Amerika [* 13] und Australien [* 14] begreiflicherweise die Nachrichten vollkommen fehlen.
Übrigens ist diesbezüglich auch in der Folge bis heute noch die Kenntnis höchst lückenhaft. Die gesamte Zeit des Mittelalters bleibt bis in das 13. oder 14. Jahrh. hinein im großen und ganzen vom populationistischen Standpunkt auch bezüglich Europas ein dunkles Gebiet, das kaum durch ganz vereinzelte Notizen bevölkerungsgeschichtlich erhellt wird. Erst um die Wende des Mittelalters und der Neuzeit gelangen wir zu festern Anhaltspunkten, die anfangs sehr unvollständiger Natur sind, sich aber mit jedem Jahrhundert erweitern.
Zunächst treten die städtischen Verhältnisse aus dem Dunkel in ein helleres Licht, [* 15] dann erst folgen in viel weiterm Abstande die Daten über größere Landstriche oder ganze Völker. Mit der allgemeinen Einführung der Volkszählungen, etwa zu Beginn des 19. Jahrh., kommen wir endlich zu deutlichen Zahlenvorstellungen über die Völker Europas (ausschließlich einiger Gebiete, wie Rußland, Türkei), [* 16] über Nordamerika [* 17] und die meisten übrigen amerikanischen Staaten, über die Kolonien in allen Weltteilen und vereinzelte außereuropäische Völker mit einigermaßen europäischer Kultur, z. B. Ägypten. [* 18]
Der Umkreis der Erkenntnis ist somit, wenn wir Nordamerika und die Kolonien hinzufügen, eigentlich auf Europa
[* 19] und
kulturell zugehörige Gebiete benachbarter Kontinente beschränkt. Abgesehen von diesem Mangel ist aber die auch insofern
lückenhaft, als sie durchaus nicht im stande ist, die Phänomene aller Kategorien historisch zu erfassen. Sie ist vornehmlich
nicht im stande, die Bewegungserscheinungen zu ermitteln, und auch von den Erscheinungen des Zustandes der Völker
gelangt sie kaum zu etwas mehr als zur Feststellung der einfachen Volkszahl. Glücklicherweise ist aber damit auch die Hauptsache
gegeben. Gemäß dem heutigen Zustande der Bevölkerungsgeschichte
beschränken sich also ihre zahlenmäßigen Resultate höchstens auf die Feststellung
der Größe einzelner Völker, städtischer oder Staatsbevölkerungen zu einzelnen markanten
Epochen der geschichtlichen Entwickelung.
Demzufolge kann sich auch die vorliegende Skizze nur darauf beziehen, einerseits die Entwickelung der Volkszahl der wichtigsten Kulturvölker seit der antik-klassischen Zeit bis auf unsre Tage im allgemeinen zu umschreiben und anderseits für einige wichtigere Epochen Zahlenbelege beizubringen. Als solche sollen vorwiegend die Verhältnisse der griechisch-römischen Welt, der alten und mittelalterlichen deutschen Städte und des französischen Volkes seit den Zeiten der Gallier gelten. Zuvor aber ist es erforderlich, die Hilfsmittel der bevölkerungsgeschichtlichen Forschung zur Sprache [* 20] zu bringen.
I. Quellen und Methode.
Die vollkommenste Art der Ermittelung der Größe eines Volkes oder eines Teiles desselben ist die Zählung, in deren Wesen es liegt, daß jedes einzelne Individuum zur Verzeichnung gelangt, und daß die Absicht der Vornahme einer solchen Operation direkt auf die Erfassung der Volkszahl abzielt. Sie ist stets eine von der Obrigkeit ausgehende Maßregel. Im Effekt stimmen mit der eigentlichen Zählung solche Maßnahmen überein, welche eine Verzeichnung aus irgend einem speziellen administrativen Grunde darstellen, wenn diese auch alle Individuen umfaßt, wie z. B. die Anlegung der Heberollen der allgemeinen Personalsteuer, des Peterspfennigs im Mittelalter etc. Die ältesten Volkszählungen sind wohl jene in China [* 21] und jene der Juden, von denen die Bibel [* 22] berichtet, dann die ägyptischen, welche durch die jüngste Forschung bekannt wurden.
Was die antik-klassische Zeit anbelangt, so haben wir Nachrichten von einer Volkszählung des Demetrios von Phaleron, welche in Athen [* 23] in der Zeit zwischen 317 und 307 v. Chr. vorgenommen wurde und sich zwar auf alle Gesellschaftsklassen, aber nur auf die Männer und vermutlich nur auf die rechtliche, d. h. staatszugehörige, Bevölkerung erstreckte. Über etwanige sonstige gleichzeitige oder spätere Volkszählungen der griechischen Zeit fehlen Nachrichten, wohl aber ist bekannt, daß solche in der hellenistischen Zeit in den Großstaaten vorgenommen und auf die Gesamtbevölkerung ausgedehnt wurden; es ist dies dieselbe Epoche, in welche auch die Ausbildung des römischen Zensus fällt: der wichtigsten Quelle [* 24] für die Erkenntnis der Bevölkerungsverhältnisse in den Mittelmeerländern zur ersten römischen Kaiserzeit.
Dieser Zensus verband mit dem Zweck der Volkszählung jenen der Vermögenseinschätzung und reicht in eine sehr frühe Zeit zurück (Servius Tullius). Eine eigne Behörde hierfür, die Zensoren, wurde im J. 443 v. Chr. eingesetzt. Die Perioden der Einschätzung, des Lustrums, sind sehr ungleichmäßig. Man unterscheidet einerseits den republikanischen Zensus und seinen Nachfolger, den kaiserlichen Zensus, welcher die römischen Bürger umfaßte, und anderseits den Provinzialzensus, welcher seit dem 3. Jahrh. v. Chr. vorgenommen wurde.
Ähnliche Einrichtungen wurden auch auf die Bundesgenossen etc. übertragen. Verzeichnet wurde jeder Selbständige mit den Familiengliedern und dem Vermögen, wozu auch die Sklaven gehörten. Der letzte Zensus der Republik wurde in den Jahren 70-69 v. Chr. und der erste in der Kaiserzeit von August 28 v. Chr. durchgeführt. Derselbe Monarch ordnete noch Zählungen in den Jahren 8 v. Chr. und 14 n. Chr. an, während der letzte italische Zensus unter Vespasian 72 n. Chr. abgehalten wurde. Nun dauert es wohl an 1½ Tausend Jahre, ehe Nachrichten über Volkszählungen von neuem vorliegen. Erst nach der Reformation, ¶