ein dogmatischer
Kunstausdruck, welcher sich an das in den
Parabeln Jesu vorkommende
Bild vom Einladen zum
messianischen
Mahl und an die Paulinische Lehrsprache anlehnt. In der
Dogmatik heißt Berufung die erste
Station aus dem Heilsweg,
da der
Mensch das
Wort von der
Gnade vernimmt und auf solche
Weise eingeladen wird, dieselbe zu ergreifen. Gegenüber den Calvinisten
(Prädestinatianern) wird von den
Lutheranern behauptet, die Berufung sei ernsthaft gemeint, Verlangen wirkend,
erstrecke sich auf alle
Sünder, trete an jeden heran, könne aber abgewiesen werden.
(Appellation), im Rechtswesen dasjenige
Rechtsmittel, wodurch ein gerichtliches
Urteil angefochten werden kann,
um eine nochmalige
Prüfung und
Entscheidung der
Sache durch das zuständige höhere
Gericht herbeizuführen. Das höhere
Gericht,
an welches dieBerufung geht, ist das
Obergericht (Appellationsgericht, Berufungsrichter, judex, ad quem); dasjenige
Gericht, gegen dessen
UrteilBerufung eingelegt (appelliert) wird, ist das Untergericht
(Vorderrichter, judex, a quo).
Die
Gerichte, welche zu einander in dem
Verhältnis der Unter- und Überordnung stehen, werden
Instanzen genannt, und man spricht
vom Instanzenzug als von der Reihenfolge, in welcher die gerichtlichen
Entscheidungen in ebenderselben
Rechtssache herbeigeführt werden können. Die Berufung muß binnen einer gesetzlich bestimmten ausschließlichen
Frist (Appellationsfrist,
Notfrist) eingelegt werden. Diese
Frist war früher eine zehntägige. Die hat Suspensiveffekt, d. h.
sie hat suspensive oder aufschiebende
Wirkung, sie hemmt (suspendiert) die
Rechtskraft des erstinstanzlichen
Urteils.
Sie hat aber auch Devolutiveffekt, d. h. sie überträgt (devolviert) die
richterliche
Entscheidung vom
Unterrichter auf das
Obergericht. Das
Rechtsmittel der Berufung kommt nicht nur in bürgerlichen Rechtsstreitigkeiten,
sondern auch in
Strafsachen vor, ebenso in Angelegenheiten der freiwilligen
Gerichtsbarkeit und im Verwaltungsstreitverfahren,
indem z. B. in
Preußen
[* 2] gegen erstinstanzliche
Entscheidungen der Kreisverwaltungsgerichte die an die Bezirksverwaltungsgerichte
und die Berufung gegen erstinstanzliche
Entscheidungen der letztern an das
Oberverwaltungsgericht geht (s.
Verwaltung).
Übrigens wird der
AusdruckBerufung neuerdings auch zur Bezeichnung der
Beschwerde oder des
Rekurses gegen
Entscheidungen der Verwaltungsbehörden
gebraucht, so auch zur Bezeichnung der
Beschwerde, welche gegen
Mißbrauch der geistlichen
Gewalt an die
weltliche Behörde gerichtet wird (s.
Recursus ab abusu). Die gerichtliche Berufung (lat. appellatio) ist aus dem römischen
Recht in das moderne Rechtsleben übergegangen. Der römische
KaiserAugustus setzte zuerst ein bestimmtes
Verfahren und einen
bestimmten Instanzenzug fest, welcher bis an den
Kaiser selbst ging. In
Deutschland
[* 3] fand derGrundsatz,
daß namentlich in bürgerlichen Rechtsstreitigkeiten eine mehrfache
Entscheidung durch Unter- und
Obergerichte möglich sein
müsse, durch die Errichtung des
Reichskammergerichts als oberster Appellationsinstanz in wichtigern
Rechtssachen für das
ganze
Reich eine ausdrückliche
Anerkennung. Wenn sich nun auch in der Folgezeit nicht wenige Territorien durch Privilegien
de non appellando von derGerichtsbarkeit des
Reichskammergerichts und des neben ihm bestehenden
Reichshofrats
zu befreien
¶
mehr
wußten, so wurde doch stets der Grundsatz anerkannt, daß auch diese Territorien eine Appellationsinstanz haben müßten.
Die deutsche Bundesakte vom (Art. 12) aber bestimmte ausdrücklich, daß es in jedem Bundesstaat drei Instanzen geben
und daß sich kleinere Staaten unter 300,000 Einw. zur Bildung gemeinsamer Appellationsgerichte zusammenschließen sollten.
Die Oberberufung an die dritte Instanz, Oberappellation) war in bürgerlichen Rechtssachen jedoch nur bei einem bestimmten höhern
Wertbetrag des Streitgegenstandes zulässig (Appellationssumme, summa appellabilis). Je mehr sich jedoch in dem modernen
Prozeß der Grundsatz der Mündlichkeit des VerfahrensBahn brach, desto mehr machte sich auch das Streben nach einer
Einschränkung der Berufung geltend.
Wohl sprachen für die Beibehaltung der und Oberberufung die gewichtigen Gründe einer gründlichern, sorgfältigern und wiederholten
Prüfung der Sache. Aber dem stand das Bedenken entgegen, daß der erste Richter auf Grund mündlicher Verhandlung, der zweite
und dritte dagegen wesentlich auf Grund des Aktenmaterials entscheide, und daß somit die Erkenntnisquelle
des ersten Richters eine andre sei als die des Obergerichts. Dazu fand das französische System in Deutschland mehr und mehr
Anerkennung, welches die Thätigkeit des Obergerichts auf eine nochmalige Prüfung und Entscheidung der Rechtsfrage, d. h. der
Frage, ob die rechtliche Beurteilung der Thatumstände eine richtige sei, beschränkt, eine wiederholte
Feststellung und Prüfung der Thatfrage dagegen ausschließt. Gleichwohl hat die neue deutsche Justizgesetzgebung das Rechtsmittel
der Berufung nicht beseitigt, sondern nur beschränkt, und zwar ist diese Beschränkung im Strafprozeß eine erheblichere als im
Zivilprozeß. Der gegenwärtige Stand der deutschen Gesetzgebung ist folgender.
Berufung in bürgerlichen Rechtsstreitigkeiten.
Nach der deutschen Zivilprozeßordnung ist ohne Rücksicht auf den Wert des Streitgegenstandes eine einmalige
Berufung gegeben. Diese Berufung ist der Regel nach statuiert gegen Endurteile erster Instanz im Gegensatz zur Beschwerde (s. d.), welch letztere
gegen Zwischenurteile, Beweisbeschlüsse und sonstige dem Endurteil vorausgehende richterliche Entscheidungen gerichtet ist,
insofern dieselben überhaupt anfechtbar sind. Ein Versäumnisurteil kann von der dadurch betroffenen
Partei nur dann mit der Berufung angefochten werden, wenn dagegen ein Einspruch nicht statthaft war, und auch dann nur aus dem Grund,
weil die Voraussetzungen eines Versäumnisurteils nicht vorhanden gewesen.
Die Berufung geht gegen das einzelrichterliche Urteil des Amtsgerichts an das kollegiale Landgericht und in denjenigen
Fällen, in denen das Landgericht in erster Instanz entscheidet, an das Oberlandesgericht. Die ausschließende Berufungsfrist
beträgt einen Monat vom Tag der Zustellung des erstinstanzlichen Urteils an. Diejenige Partei, welche die Berufung einlegt, wird Berufungskläger
(Appellant) genannt; die Gegenpartei ist der Berufungsbeklagte (Appellat). Die Berufung erfolgt, ähnlich wie
die Klagerhebung, durch die Zustellung eines Schriftsatzes (Berufungsschrift), welcher nicht bei dem Untergericht, sondern
bei dem Berufungsgericht zur Bestimmung des Termintags für die Berufungsverhandlung übergeben wird.
Die Berufungsschrift muß von einem bei dem Berufungsgericht zugelassenen Rechtsanwalt unterzeichnet sein. Sie muß die Bezeichnung
des angefochtenen Urteils, die Erklärung der Einlegung der und die Ladung des Berufungsbeklagten vor das
Berufungsgericht zur mündlichen Verhandlung über
die Berufung enthalten. Als vorbereitender Schriftsatz soll die Berufungsschrift
auch das zur Vorbereitung der mündlichen Verhandlung Erforderliche, insbesondere die einzelnen Beschwerdepunkte (gravamina)
und die Berufungsanträge auf Abänderung des angefochtenen Urteils, enthalten.
Der Gerichtsschreiber des Berufungsgerichts hat binnen 24 Stunden die Akten vom Untergericht einzufordern.
Sodann wird gleichfalls binnen 24 Stunden vom Vorsitzenden des Berufungsgerichts der Terminstag bestimmt. Durch die Berufung wird
der ganze Rechtsstreit zu anderweiter Verhandlung und Entscheidung vor das Berufungsgericht gebracht. Die Rechtskraft des angefochtenen
Urteils ist dadurch zu gunsten beider Parteien suspendiert. Der Berufungsbeklagte kann sich der Berufung »anschließen«,
d. h. auch seinerseits Abänderungen des angefochtenen Urteils beantragen, selbst wenn er auf die Berufung verzichtet hatte, und
selbst wenn die Berufungsfrist verstrichen ist.
Anschließung (Adhäsion) während der Berufungsfrist gilt als selbständige Berufung (Prinzipaladhäsion), während die sonstige
Anschließung (accessorische Adhäsion) hinfällig wird, wenn die Berufung vom Berufungskläger zurückgenommen
oder vom Berufungsgericht als unzulässig verworfen wird. Zwischen der Zustellung der Berufungsschrift und dem Verhandlungstermin
muß dem Berufungsbeklagten eine Einlassungsfrist von mindestens einem Monat, in Meß- und Marktsachen von mindestens 24 Stunden
frei bleiben.
Innerhalb der ersten zwei Dritteile dieser Frist muß der Berufungsbeklagte dem Berufungskläger die ebenfalls
von einem Rechtsanwalt unterschriebene Beantwortung der Berufung zustellen lassen. Es ist dies ein vorbereitender Schriftsatz,
welcher namentlich die Anträge enthält, die der Berufungsbeklagte im Verhandlungstermin zu stellen gedenkt, desgleichen
die neuen Thatsachen und Beweismittel, welche er vorbringen will. Die mündliche Verhandlung vor dem Berufungsgericht richtet
sich im wesentlichen nach den für den landgerichtlichen Anwaltsprozeß geltenden Grundsätzen.
Der Rechtsstreit wird in thatsächlicher wie in rechtlicher Hinsicht vor dem Berufungsgericht nochmals neu verhandelt. NeueAngriffs- und Verteidigungmittel, Thatsachen wie Beweismittel (nova), können nachgebracht werden; doch ist eine Änderung
der Klage selbst nicht zulässig. Der Prozeßstoff erster Instanz gilt auch für die Berufungsinstanz als
solcher. Es kann jedoch auch in der letztern ein neuer Beweisbeschluß und eine neue Beweisaufnahme erfolgen.
Abgeändert wird das Urteil erster Instanz nur insoweit, als die Abänderung beantragt ist und rechtlich wie thatsächlich
als begründet erscheint. Nur ausnahmsweise (Zivilprozeßordnung, § 500) wird die Sache an das Gericht erster Instanz
zurückverwiesen. Je nachdem das zweitinstanzliche Urteil (in appellatorio) bestätigend oder abändernd ausfällt, wird es
konfirmatorisch (sententia confirmatoria) oder reformatorisch (sententia reformatoria) genannt; doch kann der Vorderrichter
auch teilweise reformiert und teilweise in seinem Urteil bestätigt werden.
Versäumt der Berufungskläger den Verhandlungstermin, so wird er auf Antrag seines Gegners abgewiesen. Versäumt
sich der Berufungsbeklagte, so werden die Thatsachen der Berufung für zugestanden erachtet. Erscheint keine Partei, so wird das
Verfahren ausgesetzt. Eine nochmalige Anfechtung des zweitinstanzlichen Erkenntnisses im Weg der Oberberufung (Oberappellation)
ist ausgeschlossen. Nur gegen zweitinstanzliche Urteile des Oberlandesgerichts ist das Rechtsmittel der Revision (s. d.) bei
einem Beschwerdewert
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mehr
von über 1500 Mk. gegeben. Hierdurch kann jedoch nur eine nochmalige Prüfung der Rechtsfrage herbeigeführt werden.
Die Bedenken, welche gegen die Berufung überhaupt bestehen, liegen im Strafprozeß noch offener zu Tage als im Zivilstreitverfahren.
Denn der gegenwärtige Strafprozeß wird von dem Grundsatz der Mündlichkeit des Verfahrens und der Unmittelbarkeit
der richterlichen Entscheidung auf Grund der mündlichen Verhandlung beherrscht. Darum wollte der Entwurf der deutschen Strafprozeßordnung
die Berufung gänzlich beseitigen und gegen Urteile in Strafsachen nur das Rechtsmittel der Revision (s. d.) statuieren, also nur dasjenige
Rechtsmittel, welches sich mit der Frage beschäftigt, ob die thatsächlichen Feststellungen rechtlich richtig
beurteilt sind, während es sich bei der Berufung wesentlich auch um die Frage handelt, ob die thatsächlichen Feststellungen selbst
richtig sind. Es erschien als widersinnig, eine nochmalige Prüfung und Verhandlung in zweiter Instanz auf Grund des Aktenmaterials
zuzulassen., nachdem der erste Richter auf Grund mündlicher Verhandlung sein Urteil gesprochen.
Selbst eine vollständige oder teilweise Wiederholung der mündlichen Beweisaufnahme kann dem zweitinstanzlichen
Richter nicht ebendieselbe Erkenntnisquelle verschaffen, aus welcher der erste Richter schöpfte. Denn das Gedächtnis der Zeugen
kann z. B. nicht ausreichend sein, ein Zwischenfall kann der Anschauungsweise der letztern
eine andre Richtung gegeben haben, und dieses oder jenes Beweismittel ist vielleicht gar nicht mehr oder
doch nicht mehr in derselben Art und Weise vorhanden wie bei der Verhandlung in erster Instanz.
Die deutsche Strafprozeßordnung hat diesen Gründen auch insoweit Rechnung getragen, als sie Erkenntnissen der Strafkammern
der Landgerichte und Urteilen der Schwurgerichte gegenüber das Rechtsmittel der Berufung ausschließt. Dafür hat
sie dem Beschuldigten im landgerichtlichen Verfahren besondere Garantien für eine gründliche und gewissenhafte Prüfung gegeben,
indem sie namentlich eine stärkere Besetzung des erstinstanzlichen Gerichts (mit fünf Richtern) anordnet, und indem sie vorschreibt,
daß zur Verurteilung des Beschuldigten eine Mehrheit von vier Stimmen erforderlich sei.
Dazu ist die rechtliche Stellung des Angeklagten in mehrfacher Hinsicht verbessert, auch die Wiederaufnahme
eines durch rechtskräftiges Urteil abgeschlossenen Strafverfahrens in erweitertem Umfang gestattet worden. Dagegen erschien
es bedenklich, die auch gegenüber den Urteilen der Schöffengerichte auszuschließen und ebenso denjenigen Urteilen gegenüber,
welche der Amtsrichter mit Zustimmung der Staatsanwaltschaft ohne Zuziehung von Schöffen bei bloßen Übertretungen
erlassen kann, wenn der vorgeführte Beschuldigte die That zugesteht (Strafprozeßordnung, § 211, Abs. 2). Die summarische
Art und Weise der Verhandlung und die sonstigen Eigentümlichkeiten des Verfahrens schienen hier gegen die Ausschließung der
Berufung zu sprechen.
Die Berufung geht vom Schöffengericht, resp. Amtsrichter an die Strafkammer des zuständigen Landgerichts. Sie
ist bei dem erstinstanzlichen Gericht schriftlich oder zu Protokoll des Gerichtsschreibers innerhalb einer Woche von der Verkündigung
oder, wenn diese bei Abwesenheit des Angeklagten erfolgte, von der Zustellung des Urteils an denselben an einzulegen. Die Berufung kann
auch von der Staatsanwaltschaft und von dem Privatkläger eingewendet werden. Eine Ausführung der Berufung binnen
einer weitern achttägigen Frist ist gestattet.
Ist
die Berufung verspätet, so wird sie vom Gericht erster Instanz verworfen. Doch kann der Beschwerdeführer in diesem Fall binnen
einer Woche auf die Entscheidung des Berufungsgerichts hierüber antragen. Weist das Berufungsgericht die Berufung nicht zurück,
so ist über die Berufung durch Urteil zu entscheiden. Die Entscheidung erfolgt nach vorgängiger zweitinstanzlicher
Hauptverhandlung. Die in erster Instanz vernommenen Zeugen und Sachverständigen sind zu dieser Verhandlung nur dann nicht mit
vorzuladen, wenn deren wiederholte Vernehmung zur Aufklärung des Sachverhalts nicht erforderlich erscheint.
Neue Beweismittel sind zulässig. Erscheint der Angeklagte zur Hauptverhandlung nicht, und ist sein Ausbleiben
nicht genügend entschuldigt, so ist, insofern der Angeklagte die Berufung eingelegt hatte, dieselbe sofort zu verwerfen.
Insoweit die Staatsanwaltschaft die Berufung eingewendet hatte, ist über dieselbe zu verhandeln oder die Vorführung
oder Verhaftung des Angeklagten anzuordnen. In der Appellationsverhandlung erfolgt zunächst der Vortrag des Berichterstatters
(Referenten) über die Ergebnisse des bisherigen Verfahrens, sodann die Vernehmung des Angeklagten und die
Beweisaufnahme.
Hieran schließen sich die Ausführungen der Staatsanwaltschaft und des Angeklagten an, welch letzterm das letzte Wort gebührt.
Erachtet das Gericht die Berufung für begründet, so wird das erste Urteil aufgehoben, und es wird in der Sache selbst
erkannt. Leidet das Urteil an einem Mangel, welcher die Revision wegen Verletzung einer Rechtsnorm über das Verfahren begründen
würde, so kann das Berufungsgericht die Sache an die erste Instanz zur anderweiten Entscheidung zurückverweisen. Erscheint
das erste Gericht als unzuständig, so erfolgt Verweisung an den zuständigen Richter. War das erstinstanzliche Urteil
nur von dem Angeklagten oder zu gunsten desselben von der Staatsanwaltschaft angefochten, so darf dasselbe nicht zum Nachteil
des Angeklagten abgeändert werden (Unzulässigkeit der Reformatio in pejus).
Neuerdings haben sich gewichtige Stimmen für die Wiedereinführung der auch in denjenigen Strafsachen ausgesprochen, welche
in den landgerichtlichen Kompetenzkreis gehören. Namentlich im deutschen Anwaltstand ist die Ansicht
vielfach vertreten, und auch auf dem deutschen Anwaltstag und auf dem deutschen Juristentag ist es zum Ausdruck gekommen, daß
es ein Mißstand sei, wenn in schweren Fällen, wo es sich um langwierige und entehrende Freiheitsstrafen handeln könne, kein
zur Geltendmachung neuer Thatsachen und Beweismittel und zur Aufklärung und Berichtigung thatsächlicher
Irrtümer geeignetes ordentliches Rechtsmittel gegeben sei.
Unter den berufsmäßigen Richtern, so wird weiter angeführt, treten oft einseitige Anschauungen hervor; der Angeklagte entnehme
zudem nicht selten erst aus den Verhandlungen erster Instanz mit Sicherheit, worauf es eigentlich ankomme; endlich könne auch
eine allzu strenge Bemessung des Strafmaßes nur durch Berufung aufgehoben werden. Auch im Reichstag (Antrag
Munkel-Lenzmann) ist diese wichtige Frage verhandelt worden, ohne daß es jedoch zu einer entscheidenden Abstimmung darüber
gekommen wäre. Die österreichische Strafprozeßordnung vom statuiert die Berufung gegen die Endurteile der Gerichtshöfe
erster Instanz und der Schwurgerichte, soweit es sich dabei um den Ausspruch der Strafe und um etwanige Privatansprüche
handelt.
ist nach der deutschen Strafprozeßordnung nur gegen die Strafurteile der Schöffengerichte und
gegen diejenigen Urteile des Amtsrichters gegeben, welche ohne Zuziehung von Schöffen mit Zustimmung der Staatsanwaltschaft
dann ergehen, wenn der Beschuldigte dem Amtsrichter wegen einer bloßen Übertretung vorgeführt wird und die ihm zur Last gelegte
strafbare That einräumt. Die Berufung, welche eine nochmalige Prüfung und Entscheidung der Sache, und zwar nicht
nur der Rechtsfrage, sondern auch der Thatfrage, herbeiführt, geht in jenen
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Vielfach ist jedoch die Unzulässigkeit der Berufung gegen die erstinstanzlichen Urteile der landgerichtlichen Strafkammern als ein
erheblicher Mangel bezeichnet worden, und für die Wiedereinführung der in diesen Strafsachen ist namentlich im deutschen
Anwaltstand eine Bewegung entstanden. Der deutsche Anwaltstag hat sich einstimmig für die Wiedereinführung
ausgesprochen. Man verlangt dieselbe namentlich im Interesse einer größern Gründlichkeit der Entscheidung zur thunlichsten
Verminderung der Gefahr ungerechter Verurteilung, während die Gegner der Berufung dieselbe als mit dem Grundsatz der Mündlichkeit
und Unmittelbarkeit des Verfahrens sowie der freien richterlichen Veweiswürdigung unverträglich bezeichnen.
Wiederholt ist im Reichstag über diesen wichtigen Gegenstand verhandelt worden, und zwar waren es zuletzt
zwei Anträge von Abgeordneten, welche die Grundlage der Beratungen bildeten. Ein Antrag des klerikalen Abgeordneten Reichensperger
will das Rechtsmittel der Berufung dem Staatsanwalt in gleicher Weise wie dem Beschuldigten geben, während der Antrag des freisinnigen
Abgeordneten Munckel die Staatsanwaltschaft im Recht zur Berufung beschränkt wissen will. Nur durch die Anführung
neuer Thatsachen oder Beweismittel soll nach Munckels Vorschlag die von der Staatsanwaltschaft zum Nachteil des Beschuldigten
eingelegte Berufung gerechtfertigt werden können.
Munckel will ferner die gegenwärtige Zahl von fünf Richtern bei der Besetzung der Strafkammern beibehalten wissen, während
Reichensperger die Zahl der erstinstanzlichen Richter auf drei reduzieren will. Die Berufung selbst will Reichensperger nicht an ein
höheres Gericht, sondern an Berufungskammern für Strafsachen gehen lassen, welche bei den Landgerichten gebildet und mit fünf
Richtern besetzt werden sollen. Munckel schlägt dagegen vor, die an den mit fünf Richtern besetzten Strafsenat
des Oberlandesgerichts gehen zu lassen. Zu einer Entscheidung ist es in dieser Frage jedoch bisher nicht gekommen.
die der Übertragung eines Amtes vorhergehende Aufforderung zur Übernahme. Ein Vormund wird berufen durch
Bestimmung des Vaters, durch Gesetz auf Grund der Verwandtschaft, durch Beschluß des Gerichts. Bei Erbschaften
bedeutet Berufung den Anfall (s. d.). Im Sinne der DeutschenCivil- und Strafprozeßordnung ist Berufung dasjenige Rechtsmittel, durch welches
ein in erster Instanz ergangenes Urteil zur Entscheidung einer höhern Instanz in thatsächlicher und rechtlicher Beziehung
gebracht wird. Dieselbe ist aus der römisch-rechtlichen Appellation hervorgegangen.
I. Im Civilprozeß (vgl. Civilprozeßordn. §§. 472-500) ist dies
Rechtsmittel dahin gestaltet:
Statthaft ist dasselbe gegen Endurteile und gewisse diesen gleichgestellte Zwischenurteile (s. d.), welche
in erster Instanz, d. h. von Amtsgerichten oder von Civilkammern der Landgerichte oder den Kammern für Handelssachen, erlassen
sind. Das in den meisten frühern Prozeßgesetzen aufgestellte Erfordernis eines bestimmten Streitwerts
ist fallen gelassen. Versäumnisurteile (s. d.) unterliegen der Berufung von
seiten dessen, gegen welchen sie erlassen, nur insoweit, als der Einspruch (s. d.)
dagegen gesetzlich überhaupt nicht statthaft ist und die Berufung auf das Nichtvorliegen eines Versäumnisfalles
gestützt wird.
Ein Verzicht auf die Berufung ist wirksam, sofern er nach Erlaß des anzugreifenden Urteils erfolgt. Die Zurücknahme
einer eingelegten Berufung ist ohne Einwilligung des Gegners nur bis zum Verhandlungsbeginne des letztern zulässig;
sie erfolgt, wenn nicht in der Verhandlung, durch Zustellung eines Schriftsatzes an den Gegner, und sie hat den kostenpflichtigen
Verlust des Rechtsmittels zur gesetzlichen Folge, auf deren richterliche Festsetzung der Gegner antragen
darf.
Die Einlegung der Berufung ist an eine Notfrist von einem Monat seit Zustellung des ersten Urteils geknüpft. Sie erfolgt wirksam
nicht durch Anmeldung bei Gericht, sondern nur durch Zustellung eines Schriftsatzes an den Gegner, welcher wesentlich die
Bezeichnung des angefochtenen Urteils, die Berufungseinlegung und die gegnerische Ladung zur Berufungsverhandlung
enthalten muß und außerdem als vorbereitender Schriftsatz namentlich die Berufungsanträge und das neue Vorbringen ankündigen
soll.
Der Berufungsbeklagte kann sich, soweit das erste Urteil ihm nachteilig ist und er nicht auch fristgemäß Berufung eingelegt hat,
der (Haupt-)B. des Gegners anschließen (s. Anschließung). Diese Anschlußberufung ist noch bis zum Schluß
der mündlichen Verhandlung über die Hauptberufung statthaft. Sie verliert aber als bloß accessorischer Rechtsbehelf ihre
Wirkung wieder, sobald die Hauptberufung zurückgenommen oder als unzulässig verworfen wird.
Die hat einerseits Suspensiveffekt, d. h. sie hemmt die Rechtskraft und die Vollstreckbarkeit des Urteils, soweit letzteres
nicht für vorläufig vollstreckbar erklärt ist. Andererseits übt sie Devolutiveffekt, indem sie den
Rechtsstreit von dem Gericht erster Instanz (judex a quo) an den höhern Richter (judex ad quem), also im Amtsgerichtsprozeß
an das Landgericht, im
Landgerichtsprozeß an das Oberlandesgericht, bringt (devolviert), und zwar dergestalt, daß vor dem
Berufungsgericht, wenn auch auf Grundlage der erstinstanzlichen Verhandlung und Entscheidung, eine wesentliche
Erneuerung und Wiederholung des Rechtsstreits, nicht bloß eine Nachprüfung im Rechtspunkte Platz zu greifen hat.
Auf das Berufungsverfahren finden im allgemeinen die Vorschriften über das Verfahren erster Instanz im Landgerichtsprozeß
Anwendung; jedoch mit folgenden Maßgaben: Die Neuverhandlung ergreift das erste Urteil nur insoweit, als dessen Abänderung
beantragt wird, also in den durch die Berufungsanträge bestimmten Grenzen.
[* 8] Die Parteien dürfen neue Augriffs- und Verteidigungsmittel
(Thatsachen, Beweismittel) vorbringen (jus novorum), früher unterbliebene oder verweigerte Erklärungen über Thatsachen, Urkunden,
Eideszuschiebungen nachholen.
Unzulässig ist dagegen eine Klageänderung, sowie die Erhebung neuer Ansprüche außer zum Zwecke einer in erster Instanz
unverschuldet versäumten Aufrechnung. Im übrigen bleibt der frühere urteilsmäßige Prozeßstoff auch
für die zweite Instanz maßgebend. Daher ist derselbe von den Parteien vorzutragen, und ein früheres gerichtliches Geständnis,
eine frühere Eidesannahme oder Zurückschiebung, die Leistung, Verweigerung oder Erlassung eines (auch von der zweiten Instanz
für erheblich erachteten) Eides behalten ihre Wirksamkeit.
Bei der Entscheidung hat das Berufungsgericht vorerst von Amts wegen die formale Zulässigkeit des eingelegten Rechtsmittels
zu prüfen und, falls solche nicht vorhanden, die Berufung als unzulässig zu verwerfen. Andernfalls hat es regelmäßig
eine Entscheidung in der Sache selbst, immer im Umfange der durch die Sache gezogenen Grenzen, abzugeben, nötigenfalls
nach zuvoriger Beweisaufnahme. Nur in gewissen Fällen, denen es gemeinsam ist, daß dann das erste Urteil noch keine eigentliche
Endentscheidung getroffen hat, muß das Berufungsgericht, um den Parteien die erste Instanz nicht zu entziehen, die Sache
an letztere zurückverweisen.
Eine gleiche Zurückverweisung steht im Ermessen der zweiten Instanz, wenn das Verfahren erster Instanz
an einem wesentlichen Mangel leidet. Dem Gedanken dieser civilprozessualischen Berufung nachgebildet, aber durch Reichs- oder Landesgesetze
besonders geordnet, sind die Berufung gegen Entscheidungen des Patentamtes über Nichtigkeitsklagen und Anträge auf Zurücknahme eines
Erfinderpatents an das Reichsgericht (Gesetz vom die in Streitsachen der Armenverbände an
das Bundesamt für Heimatswesen (Gesetz vom an die Schiedsgerichte für die Unfallversicherung (Gesetz vom
vom Verordnung vom und für die Invaliditäts- und Altersversicherung (Gesetz vom die in
Auseinandersetzungssachen, in Preußen an das Oberlandeskulturgericht (Gesetz vom 18. Febr. 1880), in
Verwaltungsstreitsachen, in Preußen an den Bezirksausschuß (Gesetz vom
II. Im Strafprozeß. Die Deutsche Strafprozeßordnung gestattet dieses Rechtsmittel (§§. 354 fg.) nur gegen Urteile der Schöffengerichte
oder Urteile der Amtsrichter ohne Zuziehung der Schöffen (8-211, Abs. 2). Die Österr. Strafprozeßordnung vom in
den §§. 283, 345 gestattet die Berufung gegen Endurteile der Gerichtshöfe erster Instanz
¶
mehr
und der Schwurgerichte in sehr beschränktem Maße nur hinsichtlich des Ausspruchs über die Strafe und über privatrechtliche
Ansprüche. Gegen Urteile der Bezirksgerichte wegen Übertretungen findet nach ßß.463fg. der Österr. Strafprozeßordnung die
an den Gerichtshof erster Instanz als einziges Rechtsmittel statt, mittels dessen auch Nichtigkeitsgründe geltend gemacht
werden können und die Entscheidung der Schuldfrage auch durch neue Anführungen und Beweise angefochten
werden darf.
Nach der Deutschen Strafprozeßordnung muß die Berufung bei dem Gerichte erster Instanz binnen einer Woche nach Verkündung
(bei Verkündung in Abwesenheit des Angeklagten nach Zustellung) des Urteils zu Protokoll des Gerichtsschreibers oder schriftlich
eingelegt werden. Die rechtzeitige Einlegung bewirkt, daß das Urteil, soweit es angefochten ist, nicht
rechtskräftig wird. Nach derselben ist das Urteil mit den Gründen, sofern dies noch nicht geschehen, dem Beschwerdeführer
zuzustellen, der binnen einer weitern Woche nach Ablauf
[* 10] der Einlegungsfrist oder nach der später erfolgten Zustellung das
Rechtsmittel ebenfalls bei dem Gericht erster Instanz zu Protokoll des Gerichtsschreibers oder schriftlich
rechtfertigen kann.
Ist die Berufung auf bestimmte Beschwerdepunkte beschränkt, so unterliegt das angefochtene Urteil nur insoweit der Prüfung des
Berufungsgerichts; ist dies nicht geschehen oder eine Rechtfertigung überhaupt nicht erfolgt, so gilt das ganze Urteil als
angefochten; doch darf auch dann auf eine vom Angeklagten oder zu dessen Gunsten eingelegte Berufung keine
Abänderung zu seinem Nachteile (reformatio in pejus) erfolgen. Hinsichtlich der Begründung unterliegt die Berufung keiner Beschränkung;
insbesondere kann sie auf neue Thatsachen und Beweismittel gestützt werden.
Das Amtsgericht kann die Berufung durch Beschluß als unzulässig verwerfen, wenn sie verspätet eingelegt ist,
wogegen der Beschwerdeführer binnen einer Woche nach Zustellung des Beschlusses auf die Entscheidung des Berufungsgerichts
antragen kann, was jedoch die Vollstreckung nicht hemmt. Das Berufungsgericht kann das Rechtsmittel, falls es die Bestimmungen
über dessen Einlegung nicht für beobachtet erachtet, durch Beschluß als unzulässig verwerfen; andernfalls entscheidet
es über dasselbe nach vorgängiger Hauptverhandlung durch Urteil.
Zur Hauptverhandlung sind in der Regel die in erster Instanz vernommenen Zeugen und Sachverständigen zu laden und ist im
übrigen bei Auswahl derselben auf die vom Angeklagten zur Rechtfertigung der Berufung benannten Personen Rücksicht zu nehmen. In der
Hauptverhandlung erfolgt nach Verlesung des Urteils erster Instanz und Vortrag eines Berichterstatters
über die Ergebnisse des bisherigen Verfahrens die Vernehmung des Angeklagten und die Beweisaufnahme. Bei der Berichterstattung
und der Beweisaufnahme dürfen Protokolle über Aussagen der in erster Instanz vernommenen Zeugen und Sachverständigen ohne
Zustimmung der Prozeßbeteiligten nicht verlesen werden, wenn die wiederholte Vorladung derselben erfolgt oder von
dem Angeklagten rechtzeitig vor der Hauptverhandlung beantragt worden war.
Nach dem Schluß der Beweisaufnahme werden der Staatsanwalt und der Angeklagte, und zwar der Beschwerdeführer zuerst, gehört.
Dem Angeklagten gebührt das letzte Wort. Ist weder der Angeklagte noch zulässigenfalls (s. Abwesenheit) ein Vertreter desselben
erschienen, so ist die von ihm eingelegte
ohne weiteres zu verwerfen, über die von der Staatsanwaltschaft
eingelegte aber entweder zu verhandeln oder die Vorführung des Angeklagten anzuordnen. (S. auch Ungehorsamsverfahren und
Wiedereinsetzung in den vorigen Stand.) Im übrigen verwirft das Berufungsgericht entweder die Berufung oder hebt, falls es dieselbe
als begründet erachtet, das angefochtene Urteilauf und erkennt dann entweder in der Sache selbst oder
verweist die Sache bei Verletzung von Rechtsnormen über das Verfahren in die Vorinstanz zurück (Deutsche Strafprozeßordn.
§§.355 fg.). Berufungsgerichte sind die Strafkammern der den Amtsgerichten übergeordneten Landgerichte. Sie sind in der
Berufungsinstanz bei Übertretungen und in Privatklagesachen mit drei Richtern, in allen andern Fällen
mit fünf Richtern, einschließlich des Vorsitzenden, besetzt.
Bei der umfassenden Bedeutung der und da gegen die Berufungsurteile der Strafkammern noch die Revision (s. d.) wegen Verletzung
des materiellen Gesetzes zulässig ist, scheint für die geringern Straffälle jede mögliche Gewähr gerechter Entscheidung
gegeben zu sein. Anders bei den schwerern Fällen, die der Zuständigkeit der Strafkammern oder des Schwurgerichts
unterliegen. Wenn nun auch mit dem Wesen des Schwurgerichts (s. d.) eine auf
wiederholte thatsächliche Prüfung beruhende höhere Instanz nicht vereinbar sein mag und demgemäß Schwurgerichtsurteile
überall und von jeher nur der Anfechtung aus Rechtsgründen, also jetzt mittels der Revision, unterworfen
sind, so erscheint doch die Forderung der Einführung der Berufung gegen erstinstanzliche Urteile der Strafkammern nicht unberechtigt.
Der Entwurf der Deutschen Strafprozeßordnung wollte die Berufung gänzlich beseitigen, weil er dieselbe grundsätzlich mit der Mündlichkeit
und Unmittelbarkeit des Verfahrens und der von allen Regeln befreiten Beweiswürdigung nicht vereinbar hielt und
weil bei der bisherigen verschiedenen Gesetzgebung der Einzelstaaten mehr Klagen über die - meistens allerdings sehr unvollkommen
gestaltete - Berufung als über den Mangel derselben laut geworden waren; die Reichstagskommission wollte ursprünglich die Berufung sowohl
für schöffengerichtliche als auch für landgerichtliche Strafsachen einführen.
Zwischen diesen beiden folgerichtigen Wegen einigte man sich in zweiter Lesung auf den Mittelweg, daß
man die Berufung nur in schöffengerichtlichen Strafsachen zuließ. Die strenge Durchführung des Grundsatzes der
Mündlichkeit und Unmittelbarkeit spricht zweifellos gegen die Berufung; denn selbst wenn die Verhandlung in der Berufungsinstanz
eine vollständig neue ist, so sind doch die Zeugen nicht mehr so unbefangen als in der ersten Instanz;
einesteils fühlen sie sich durch den dort geleisteten Eid gebunden, andernteils ist durch die inzwischen verlaufene Zeit
ihre Erinnerung abgeschwächt, der Unterschied ihrer eigenen Wahrnehmung und dessen, was in erster Instanz verhandelt ist,
leicht verwischt. So kann es geschehen, daß die wiederholte Beweisaufnahme ein minder treues Bild der
Wirklichkeit giebt als die erste. Für die Berufung spricht ebenso entschieden die Erfahrung, daß der erste Richter vielleicht häufiger
noch als in der Gesetzesanwendung bei Beurteilung des Beweisergebnisses irrt, daß aber auch, abgesehen von dem Irrtum des
Richters, der vor derStrafkammer in der Regel ohne Verteidiger erscheinende Angeklagte häufig erst durch
die Hauptverhandlung, wenn nicht gar
¶
mehr
durch das Urteil darüber klar wird, wie er sich hätte verteidigen sollen, daß endlich die Gerichte den vom Angeklagten
erst in der Hauptverhandlung gestellten Veweisanträgen nicht immer, besonders nickt wenn dadurch eine Vertagung nötig wird,
mit Wohlwollen entgegenkommen. Gegen die Ablehnung von Beweisanträgen hilft zwar, falls sie ungenügend begründet ist,
die Revision (s. d.); gegen die unterlassene Vorbringung von Verteidigungsthatsachen
oder Beweisen unter gewissen Voraussetzungen die Wiederaufnahme (s. d.) des Verfahrens, gegen thatsächliche Irrtümer des Richters
aber nur die Gnade. (S. Begnadigung.) Die Freunde der Berufung meinen nun, daß man sie dem praktischen Bedürfnis gegenüber nicht
theoretischen Grundsätzen zu Liebe auf diese und andere Abhilfen der auch von den Gegnern anerkannten
Mißstände verweisen dürfe, da jene Grundsätze doch nicht streng durchgeführt seien.
Wenn nicht nur im Civilprozeß, für welchen die Grundsätze der Mündlichkeit und Unmittelbarkeit und der freien Beweiswürdigung
ebenfalls gelten, sondern auch im Strafprozeß für die der Zahl nach weit überwiegenden minder schweren
Fälle, die vor dem Schöffengericht verhandelt werden, die Berufung zugelassen werde, so könne man sie für die
geringere Zahl der schwerern Fälle, die der Inständigkeit der Strafkammern unterliegen, nicht versagen, seitens der Gegner
der Berufung wird, abgesehen von den grundsätzlichen Bedenken, die Verzögerung des Verfahrens, die Kostspieligkeit der
neuen Beweisaufnahme, die Notwendigkeit und Schwierigkeit von Änderungen in der Gerichtsorganisation geltend gemacht.
Aber auch unter den Anhängern der Berufung gehen die Ansichten über deren Gestaltung auseinander. Während die einen die Berufung nur
zu Gunsten des Angeklagten wollen, gestehen die andern sie auch dem Staatsanwalt zu. Während die einen zur
Vermeidung der durch die größere Entfernung entstehenden Kosten und Umstände eine andere Strafkammer desselben Landgerichts
als Berufungsgericht einsetzen wollen, geben andere dem Oberlandesgericht den Vorzug, weil einer andern Abteilung desselben
Gerichts das Ansehen gegenüber den in erster Instanz urteilenden Kollegen, namentlich aber auch in den Augen der Beteiligten
fehle, die die Entscheidung eines höhern Gerichts verlangen.
Eine Vermittelung zwischen diesen beiden Gegensätzen ließe sich finden, wenn in besonders großen Oberlandesgerichtsbezirken
für entferntere Teile des Bezirks periodisch zusammentretende auswärtige Berufungssenate aus Mitgliedern des Oberlandesgerichts
und der Landgerichte gebildet würden. Endlich streitet man über die Besetzung der Gerichte. Wenn man über die
bisherige erstinstanzliche Strafkammer von fünf Mitgliedern ein aus sieben Mitgliedern bestehendes Berufungsgericht setzte,
so würde dadurch ein großer Mehrbedarf von Richtern eintreten.
Begnügt man sich aber bei Zulassung der in erster Instanz mit drei Richtern, denen fünf in zweiter Instanz entsprechen würden,
so würde damit für die Mehrzahl der Sachen, die nur in erster Instanz verhandelt werden, eine Veränderung
der Stimmenverhältnisses dahin eintreten, daß die Schuldfrage (s. d.) statt
mit vier gegen eine künftig mit zwei gegen eine Stimme bejaht werden könnte. Freilich hätte der Angeklagte die und könnte
in der Berufungsinstanz nur mit vier gegen eine verurteilt werden.
Die Bewegung für die von der Mehrheit der Gerichte nicht für
notwendig erachtete Berufung ist am lebhaftesten von
dem Anwaltsstande (besonders Rechtsanwalt Munckel-Berlin) betrieben, und so hat sich denn auch der Deutsche Anwaltstag 1881 in
Heidelberg,
[* 12] 1884 in Dresden
[* 13] mit großer Mehrheit für die Berufung ausgesprochen. Ebenso hat der Deutsche Juristentag 1884 in
Würzburg
[* 14] mit 85 gegen 58 Stimmen, einem Antrage Dr. Harburgers folgend, trotz des Widerspruchs namhafter Gegner (Reichsanwalt,
jetzt Reichsgerichtsrat Stenglein, Professor Gneist, Landgerichtspräsident Becker-Oldenburg) seine Überzeugung dahin ausgesprochen,
daß die Einführung der Berufung zum Oberlandesgericht gegen die Urteile der Strafkammern wenigstens hinsichtlich der Schuldfrage
dringend zu wünschen sei.
Auch im Reichstag sind seit der Tagung 1882/83 wiederholt Gesetzentwürfe betreffend Zulassung der Berufung gegen Urteile der Strafkammern
eingebracht und zwar von den Abgeordneten Munckel, Meibauer und Lenzmann, welche die Strafsenate der Oberlandesgerichte als
Berufungsgerichte vorschlugen, und von dem AbgeordnetenReichensperger, welcher bei den Landgerichten einzurichtende Berufungskammern
in Vorschlag brachte. Ein auf letzterm Standpunkt stehender Regierungsentwurf ist zwar 1885 vom Reichskanzler
beim Bundesrat eingebracht; letzterer hat aber sowohl diesen Entwurf abgelehnt als auch dem 1886 vom Reichstage angenommenen
Reichenspergerschen Gesetzentwurf im März 1887 die Zustimmung versagt.
In der Tagung von 1887/88 brachten Munckel und Reichensperger ihre Gesetzentwürfe wiederum ein; der Reichstag
beschloß deren zweite Beratung im Plenum. wurde abermals ein AntragReichenspergers auf Wiedereinführung der Berufung angenommen.
In ein neues Stadium ist die Frage seit 1894 getreten. Ein dem Reichstag vorgelegter, an den von 1885 anknüpfender Regierungsentwurf,
der auch die sachliche Zuständigkeit der Schöffengerichte und Strafkammern verändert, den unschuldig
Verurteilten Entschädigung gewährt u. s. w., will die Berufung gegen erstinstanzliche Urteile der Strafkammern (nur 3 Mitglieder)
den Oberlandesgerichten zuweisen und für die entferntern Landgerichte besondere Strafsenate (5 Mitglieder) errichten, denen
für den betreffenden Bezirk die gesamte Thätigkeit des Oberlandesgerichts als Berufungsinstanz zugewiesen werden soll.
Für die Berufung Munckel, Einführung der Berufung gegen Urteile der Strafkammern (Berl. 1884); von Weinrich, Die
Frage der Einführung der Berufung (Straßb. 1884); Jacobi, Der Rechtsschutz im deutschen
Strafverfahren (Berl. 1884).
Der Berufung im Strafverfahren nachgebildet, aber auf besonderer gesetzlicher Regelung beruht die Berufung im Disciplinarverfahren
(vgl. z. B. Reichsgesetz vom §§. 110-117, Rechtsanwaltsordnung
vom §$. 90-92).