Berserkerwut.
In seinem Werk über die Flora Norwegens hat Schübeler gezeigt, daß jene in der nordischen Sagengeschichte oft erwähnte Raserei, die periodisch Wikinger und andre Leute aus Skandinavien befiel und sie veranlaßte, einen sogen. Berserkergang zu thun, höchst wahrscheinlich durch den Genuß von Fliegenschwamm (Amanita muscaria) erzeugt wurde, eine Ansicht, die schon vor 100 Jahren durch Ödmann aufgestellt wurde. Ohne diesen Vorgänger zu kennen, ist Schübeler durch die genaue Vergleichung der Symptome der Fliegeschwammvergiftung mit dem von den alten Schriftstellern geschilderten Gebaren der Berserker zu demselben Schluß gelangt.
Dieser Zustand hat danach angeblich mit Zittern, Zähneklappern und Kältegefühl begonnen, worauf das Antlitz sich rötete und anschwoll. Sie fingen darauf an zu heulen, bissen in den Rand der Schilde, rissen sich die Kleider vom Leibe und schlugen, ohne zwischen Freunden und Feinden zu unterscheiden, alle nieder, die ihnen in den Weg kamen, wobei man sie so leicht nicht überwältigen konnte, denn ihre Kräfte schienen verdoppelt, sie selbst aber unempfindlich gegen Schmerzen geworden zusein.
Nachher folgte eine mehrere Tage andauernde große Kraftlosigkeit und Erschöpfung. Von dem Abreißen der Kleider leiten neuere Forscher auch wohl richtiger den Namen her, der von dem skandinavischen sarkr, dem Namen des wattierten Panzerhemdes, welches die nordischen Krieger unter der Rüstung [* 2] trugen, herrührt, so daß Berserkir nach Bergmann so viel heißt wie barhemd, hemdenlos, mit entblößtem Oberkörper. Wahrscheinlich war die Erscheinung schon seit sehr alten Zeiten bekannt, und es mögen sich darauf wenigstens teilweise die Angaben griechischer und römischer Schriftsteller vom furor teutoniens beziehen. Man sieht auf den ersten Blick, eine wie große Ähnlichkeit [* 3] der geschilderte Zustand mit demjenigen des durch Opiumgenuß erzeugten Amok- oder Amucklaufens (s. d., Bd. 1) besitzt; da aber Opium vor 1531 in Norwegen [* 4] unbekannt war, darf man nicht daran denken, daß es sich um Opiumuergiftung handelte.
Verschiedene skandinavische Geschichtsforscher, wie z. B.
P. A.
Munch, haben gemeint, daß es sich bei der Berserkerwut
um einen bei
den Nordvölkern »periodisch austretenden
Wahnsinn«, um eine Art von Besessenheit gehandelt habe, weshalb der
Isländer
Thorstein
Ingemundsön den
Göttern
Gelübde leistete, damit sein Sohn
Thorer von diesem Unglück befreit werde. Aus
mancherlei skandinavischen Gesetzesverordnungen, die bis ins 11. Jahrh, zurückreichen, geht nun deutlich hervor, daß man
die Berserkerwut
als einen anormalen, selbstverschuldeten Zustand anerkannte und die Befallenen außerhalb der
Gesetze stellte. Als
Erik
Jarl 1015
Norwegen verließ, rief er die Landesvorsteher und angesehensten
Bauern zusammen, um mit ihnen
über die
Gesetzgebung und Reichsverwaltung zu beraten. Bei dieser Zusammenkunft wurden die
Berserker gerade so wie später
die Amuckläufer in
Indien für vogelfrei erklärt, d. h. jedermann sollte berechtigt sein, sie im Notfall
zu erschlagen.
In Thorlaks und Ketils isländischem Christenrecht, welches im J. 1123 als Gesetz für Island [* 5] angenommen wurde, heißt es: Wenn einer auf Berserkergang geht, wird er mit dreijähriger Verweisung von der Insel bestraft und ebenso diejenigen, welche zugegen sind und nicht Hand [* 6] anlegen, um ihn zu binden und zu bewachen, bis die Erregung vorüber ist.
Wenn man nun die
Symptome der Berserkerwut
mit denjenigen vergleicht, welche der
Genuß des
Fliegenschwammes
nach den sorgfältigsten Beobachtern (wie Langsdorf, Krascheninnikow.
Erman u. a.) bei den Bewohnern
Sibiriens und
Kamtschatkas
erzeugt, so kann man kaum an der Übereinstimmung zweifeln. Im besondern merkwürdig ist die von mehreren Beobachtern festgestellte
Steigerung der Körperkraft während des Fliegenschwammrausches, die nachher natürlich in eine desto größere
Erschlaffung
ausläuft. Langsdorf sah einen solchen Mann während seines 12-15stündigen Rausches einen 120 Pfd.
schweren
Sack 15
Werst (d. h. 1 ¾
Meile) weit tragen, ebenso stellt sich die Unempfindlichkeit gegen körperliche
Schmerzen
ein, welche der Berserkerwut
eigentümlich sein soll. Die merkwürdigen
Sinnestäuschungen, welche derselbe
Rausch erzeugt, erinnern
in ihrer Eigenart, indem z. B. der Berauschte einen großen
Anlauf
[* 7] nimmt, um über einen Strohhalm zu
springen, der ihm wie ein
Balken aussieht, ungemein an jene
Erzählungen von der »Augenverblendung«, die in nordischen
Mythen
so häufig vorkommen.
Odin führte beispielsweise in diesem
Sinn den Beinamen Biblindi oder Byblindi (»der Blender«).
Bei den vielfachen Beziehungen, welche die alten Skandinavier und besonders die Norweger in frühern
Jahrhunderten mit
Lappen und
Finnen unterhielten, wäre ihre Kenntnis des sibirischen Berauschungskrauts keineswegs auffallend,
und man darf mit Bezug auf das Letztgesagte daran erinnern, daß in der nordischen Litteratur das
Wort
Finne fast stets gleichbedeutend
mit Zauberer ist. Die sibirischen Schamanen aber setzten sich früher allgemein, wie Matjuschkin berichtet,
durch den Fliegenschwammtrank in ekstatische Zustände, wobei zu starke
Dosen häufig den dem
Säuferwahnsinn und der Berserkerwut
ähnlichen
Zustand hervorriefen.
Vielleicht war der in Skandinavien häufige Fliegenschwamm ein schon der Urbevölkerung bekanntes Berauschungsmittel, welches aber durch den schon vor Beginn unsrer Zeitrechnung im Norden [* 8] bekannt gewordenen Met ebenso verdrängt wurde, wie in neuester Zeit der Branntwein in Sibirien den Muchamortrank, d.h. das Fliegenschwammgebräu, verdrängt hat, obgleich es ehemals so geschätzt war, daß man für 1-2 Schwämme [* 9] ein Renntier hergab, einen Preis, den die Kamtschadalen von den nomadisierenden Korjaken, den letzten Fliegenschwammverehrern, noch heute erzielen sollen.