Titel
Berninamassiv
(Kt. Graubünden). Dieser Name wird in verschiedenem Sinne gebraucht. Im weitern Sinn versteht man darunter die ganze Gebirgsmasse von der Clevner Ebene (Piano di Chiavenna) im Südwesten bis zur Malser Haide im Nordosten und zwischen dem Bergell und Engadin einerseits und dem Veltlin (Val Tellina) und Trafoier Thal andererseits. Im engern Sinn ist die Berninagruppe der westlich vom Berninapass gelegene Teil der soeben umschriebenen grössern Gebirgsmasse, während der östlich, resp. nordöstlich von diesem Pass gelegene Teil dann etwa als Ofenpassgruppe bezeichnet wird.
Jene, die Berninagruppe im engern Sinne, erfüllt zwar ein kleineres Areal, steigt aber in ihren Gipfeln weit höher auf als die Ofenpassgruppe. Dort überschreiten zahlreiche Gipfel 3500 m, und das Haupt der Gruppe, der Piz Bernina, erreicht 4052 m; hier dagegen, in der Ofenpassgruppe, bleibt auch der höchste Gipfel, die Cima di Piazzi (3439 m) noch immer unter 3500 m zurück, und nur wenige Gipfel erreichen und überschreiten 3200 m. Die Berninagruppe ist ein glänzendes Schnee- und Eisgebirge mit weiten Firnfeldern und mächtigen Gletscherzungen, die Ofenpassgruppe ein rauhes Felsengebirge mit zerhackten Gräten, kahlen Mauerwänden und weiten Trümmerhalden, aber nur sehr geringer Gletscherentwicklung.
Auch ist die Berninagruppe ein weit geschlosseneres, kompakteres, von Thälern weniger zerteiltes Gebirge als die Ofenpassgruppe, die von grösseren Thälern in allen Richtungen durchschnitten und in eine ganze Reihe selbständigerer Gebirgsglieder aufgelöst wird. Ferner baut sich die Berninagruppe wesentlich aus krystallinischen Felsmassen (Granit, Syenit, Diorit, Gabbro, Porphyr, Protogin, Gneiss, krystallinischen Schiefern) auf, während das Ofengebirge fast ganz aus geschichteten Sedimenten, vorherrschend der Trias- und Liasformationen, zusammengesetzt ist. Nach der äussern Form ist die Berninagruppe ein typisches Massiv, d. h. eine einheitliche Erhebung krystallinischer Gesteine mit einem Hauptkamm und davon ausgehenden Seitenkämmen in teils strahlenförmiger, teils fiederförmiger Gliederung, während die Ofenpassgruppe als kompliziertes ¶
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Kettengebirge sich darstellt mit mehr oder weniger parallelen Kämmen und dazwischen liegenden Längsthälern, wobei allerdings die Kämme nicht immer in geraden Linien, sondern oft in gebrochenen oder gebogenen Zügen verlaufen und die einfache rostförmige Gliederung durch zahlreiche Quer- und Durchbruchsthäler vielfach gestört wird. Endlich zeigen sich die beiden Gebirgsmassen sehr verschieden in Bezug auf ihre Bewohnbarkeit und Wegsamkeit. Die Berninagruppe ist in ihren innern Teilen völlig unbewohnt.
Menschliche Ansiedelungen finden sich nur in den randlichen Gebieten und in den zum Veltlin abfallenden Thälern der Südseite (Val Malenco und Val Masino). Die Wegsamkeit ist so gering, dass vom Berninapass bis über den Piz Badile hinaus der Murettopass der einzige einigermassen gebahnte und praktikable Pfad über das Gebirge ist und auch weiter westlich bis zum Piz Prata nur wenige rauhe Jägerwege sich finden. Alle übrigen sog. Pässe sind nichts als Furken und Scharten in den hohen Eiskämmen, die nur von Hochtouristen gelegentlich benutzt werden. Ganz anders die Ofenpassgruppe. Da finden sich eine Reihe grösserer Thalschaften (Livigno-, Viola-, Grosina-, Münster- und Scarlthal), die tief ins Gebirge eindringen und in Dörfern, Weilern und zerstreuten Hütten bewohnt sind. Unter sich und mit der Aussenwelt ¶
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stehen diese Thäler durch zahlreiche begangene Pässe, über welche zum Teil gute Maultierpfade und Fahrsträsschen führen, in Verbindung, wozu noch die beiden Kunststrassen über den Ofenpass und über den Umbrail oder das Wormserjoch kommen. - So sind denn die beiden Gebirgsmassen in allen Dingen so sehr verschieden, dass es wohl gerechtfertigt ist, sie als zwei gesonderte Gruppen aufzufassen und jede mit einem besondern Namen zu bezeichnen. Fasst man gleichwohl gelegentlich beide Gruppen unter dem Namen Berninagruppe im weitern Sinne zu einer Einheit zusammen, so geschieht es, um die rechtsseitigen Gebirge des Engadins als ein Ganzes den linksseitigen gegenüber zu stellen, was nicht selten auch unter dem Namen der süd- und nordrätischen Gebirge geschieht.
Die Berninagruppe im engern Sinne nimmt mit Rücksicht auf die Höhe und Gletscherentwicklung im Gebiet der Schweizeralpen den dritten Rang ein, indem sie darin nur von den Walliser- und Berneralpen übertroffen wird. An trotziger Kraft und blendender Schönheit der Gipfelgestalten, an weithin leuchtendem Glanz der Firnfelder und Gletscher steht sie ihren beiden grössern Schwestern wenig nach. Nur allerdings ist die Bernina eine etwas verborgene Schönheit. Mit einem Kranz von Hütern hat sie sich umgeben, der ihren Anblick dem Bewohner der Niederung entzieht.
Nur von den Höhen Graubündens und insbesondere des Engadins zeigt sie sich in ihrer ganzen Pracht. Da erscheint sie überall als die erhabenste, stolzeste, glanzvollste Gebirgsgruppe im ganzen Umkreis des weiten Gesichtsfeldes. Noch mehr als in der absoluten Höhe steht die Bernina in der relativen Höhe ihren Rivalinnen im Berner Oberland und im Wallis nach, denn während dort die Thäler mehrfach bis unter 1000 m eingeschnitten sind, hält sich die Thalsohle des Oberengadins in einer Höhe von 1800 m. Dort findet man daher nicht selten relative Höhen von 3000 m und mehr, hier dagegen nur solche von 2000-2200 m. Sehr viel bedeutender sind die relativen Höhen von dem tief gelegenen Veltlin aus (Colico 200 m, Sondrio 300 m, Tirano 450 m über Meer). Doch sind hier die zentralen Berninagipfel nur von wenigen Punkten der Thalebene aus sichtbar, da sie meist hinter Vorbergen verborgen bleiben, ausgenommen der weit nach Süden vorspringende Monte della Disgrazia mit seinen 3680 m.
Für die Gliederung der Bernina Gruppe sind der Passo Muretto und der Passo Canfinale wichtig, von denen der erstere von Maloja, der letztere von Poschiavo nach dem Val Malenco und damit nach Sondrio führt. Beide Passwege vereinigen sich in Chiesa, etwa 10 km oberhalb Sondrio. Der Murettopass schneidet die Albigna-Disgraziagruppe, der Canfinalepass die Scalinogruppe von der eigentlichen Berninagruppe ab.
a. Hauptgruppe der Bernina.
Der wasserscheidende Kamm dieser Hauptgruppe erstreckt sich vom Murettopass bis zum Berninapass in einer dem Kamm nach gemessenen Länge von 29 km (Luftlinie etwa 23 km) und verläuft mit geringen Abweichungen im Ganzen von WSW nach ONO. In dieser Stammkette finden wir alle höchsten Gipfel der Berninagruppe. Insbesondere erscheint das etwa 12 km lange Stück von der Fuorcla Sella bis zum Cambrenasattel als die eigentliche Hochburg derselben, wo kein Gipfel auf 3800 m und keine Scharte auf 3500 m heruntersinkt.
Die mittlere Höhe dieses Kammstückes beträgt gerade 3800 m, die mittlere Gipfelhöhe 3950 m und die mittlere Sattelhöhe etwa 3700 m. Auf der Nordseite ist dieser gewaltige Kamm fast durchweg in einen schimmernden Eismantel gehüllt. Nach Süden dagegen fällt er meist in steil abgebrochenen Wänden und Felsrippen zu den weiten Firnmulden des Scerscen-, Fellaria- und Palügletschers ab. Seine Krönung bilden 8 Zinnen, die an Formenschönheit und Firnglanz sich mit den imposantesten der Schweizer Alpen messen. Da ist vor allem das herrliche Trio: Piz Bernina (4052 m), Monte di Scerscen (3967 m) und Piz Roseg (3943 m), das sich wohl mit demjenigen von Jungfrau, Mönch und Eiger vergleichen lässt. Dann folgen Crast'agüzza (3872 m), Piz Argient (3942) und Piz Zupò (3999 m) im hintersten Winkel des Morteratschgletschers auf engem Raum zusammengedrängt. Endlich strahlt im Sonnenglanz das stolze Geschwisterpaar Bellavista (3921 m) und Piz Palü (3912 m), das mit seinen verschiedenen Silberspitzen und Firnterrassen an die Blümlisalp im Berner Oberland erinnert, diese aber um fast 300 m überragt.
Nach Osten verlängert sich der Hauptkamm nur noch wenig. Doch erreicht die Firnkuppe des Piz Cambrena noch immer 3607 m. Ihn flankieren gegen den Berninapass der Piz Carale und der Sassal Masone mit 3429 und 3039 m. Grösser ist die Verlängerung nach Westen. Zwischen Fuorcla Sella und Fuorcla Scerscen überschreiten alle Gipfel noch 3500 m. Es sind die Gümels (Zwillinge) mit 3523 und 3513 m, La Sella mit 3566 und 3587 m und die kecke Eisnadel des Glüschaint mit 3598 m, von deren Schultern der Roseggletscher in mächtigen Falten herunterhängt, während sie nach Süden mit hohen, schroffen Granitwänden zu dem breit gelagerten untern Scerscengletscher abfallen. Noch weiter nach Westen werden die Gipfel seltener und weniger hoch. Der Piz Tremoggia erreicht noch 3452 m, der Piz Fora 3370 m, der Monte dell' Oro nur noch 3153 und der Monte Muretto 3107 m.
An einzelne Knotenpunkte der Stammkette schliessen sich fünf nach Norden ausstrahlende Seitenketten an. Es sind dies von West nach Ost die Ketten des Piz della Margna, des Piz Güz, des Piz Corvatsch, des Piz Morteratsch und des Munt Pers. Zwischen ihnen verlaufen die vier Thäler von Fedoz, Fex, Roseg und Morteratsch, von welchen das Rosegthal etwa 16 km, die drei übrigen je etwa 10 km lang sind und das Morteratschthal in seiner ganzen Länge vom gleichnamigen Gletscher erfüllt ist.
Der westlichen Seitenkette entragt der Piz Fedoz (3196 m) und namentlich der schöne, aussichtsreiche Piz della Margna (3163 m), der besonders seiner wundervollen Thalaussicht wegen viel besucht wird. Die zweite Seitenkette ist die niedrigste und ragt nur in ihrem südlichsten Teil in die Gletscherregion hinauf. Die mittlere Kette ist mit 17 km auch die längste. Sie streicht erst nordwestlich, dann nördlich, zuletzt nordnordöstlich und scheidet das Val Roseg vom Val Fex und von der obersten Stufe des Engadin.
Ihr Hauptgipfel ist der Piz Corvatsch mit seinem Vorberg, dem Piz Mortèl, 3454 und 3442 m, ein Aussichtspunkt ersten Ranges und dem entsprechend viel besucht. Als breite dreieckige Pyramide kehrt er seine drei Flanken auch den drei umliegenden Thälern (Roseg, Fex und Oberengadin) zu. Mehrere touristisch wichtige Uebergänge verbinden das Rosegthal mit dem Silsersee und mit dem Fexthal. Der wichtigste von allen ist die Fuorcla Surlej (2760 m), über den im Sommer ganze Touristenkarawanen von Silvaplana nach dem Rosegthal und nach Pontresina oder umgekehrt ziehen und auf dessen Höhe es darum auch nicht an einer Restauration fehlt.
Nicht der längste, aber gleichwohl der mächtigste und imposanteste Seitenkamm ist derjenige des Piz Morteratsch, der direkt vom Piz Bernina abzweigt und zwischen den zwei grossartigsten und besuchtesten Berninathälern (Roseg und Morteratsch) genau nach Norden streicht, um bei Pontresina zu endigen. Der Hauptgipfel, der formenschöne und jetzt oft besuchte Piz Morteratsch, misst 3754 m. Sonst sind noch bemerkenswert der Piz Prievlus (3613 m), der Piz Misaun (3251 m), der Piz Tschierva (3570 m) und der Piz Boval (3084 m). Mehrere vereiste Scharten sind touristisch wichtig, so die Fuorcla Boval für die Besteigung des Piz Morteratsch und als kürzester Uebergang von der Bovalhütte zur Tschiervahütte, dann die Fuorcla Prievlusa und die Berninascharte für Besteigungen des Piz Bernina über den Nordgrat.
Der letzte und östlichste Seitenkamm geht vom Piz Cambrena über den Piz d'Arlas (3367 m) zum Munt Pers (3210 m). Aber wichtiger als diese Gipfel ist hier der 2977 m hohe Diavolezzapass, ein sehr häufig benutzter Uebergang von den Berninahäusern zum Pers- und Morteratschgletscher und zur Bovalhütte, sowie ein Hauptausgangspunkt für die Besteigung der umliegenden Hochgipfel. Ueber diesen Pass siehe beim Artikel Diavolezzapass. Ausser diesen grösseren Verzweigungen seien noch zwei kleinere erwähnt, die für die Gliederung der beiden grössten Gletscher wichtig sind, nämlich der Piz Aguagiouls, der den Tschiervagletscher vom obern Hauptteil des Roseggletschers trennt, dann die sog. Fortezza oder Festung, die in ähnlicher Weise den Persgletscher vom Morteratschgletscher abzweigt und über welche ein Hauptzugang zum Piz Bernina führt.
Wesentlich anders und verwickelter ist die Gliederung auf der Südseite der Berninagruppe. An Stelle der ¶