Titel
Belgien
[* 2] (hierzu
Karte »Belgien«
),
das kleinste, ab er am dichtesten bevölkerte der europäischen (außerdeutschen) Königreiche, liegt zwischen 49° 30' und 51° 30' nördl. Br. und zwischen 2° 36' und 6° 4' östl. L. v. Gr., im N. von den Niederlanden, im O. vom niederländischen Limburg, [* 3] von der preußischen Provinz Rheinland und von Luxemburg, im S. von Frankreich und im W. von der Nordsee begrenzt. Es umfaßt beinahe sämtliche ehemals österreichische Niederlande [* 4] (die Grafschaften Flandern und Hennegau, das Herzogtum Brabant, das Marquisat Antwerpen, [* 5] die Herrschaft Mecheln, [* 6] die Grafschaft Namur [* 7] sowie teilweise die Herzogtümer Luxemburg und Limburg), ferner das früher zu Deutschland [* 8] gehörige Bistum Lüttich [* 9] und die 1815 von Frankreich abgetrennten Kantone Mariembourg, Philippeville, Chimay, Quiévrain nebst dem Herzogtum Bouillon.
Bodenbeschaffenheit.
Der Bodenbeschaffenheit nach ist Belgien
nördlich und nordwestlich der
Maas und
Sambre ein ebenes Land; der östlich der
Maas belegene
^[richtig: gelegene] Teil besteht aus einer
Reihe von schluchtenreichen
Plateaus, die man unter dem
Namen
Ardennen (s. d.) zusammenfaßt. Die bedeutendsten
Erhebungen zeigen die
Provinzen
Lüttich,
Luxemburg,
Namur und
Hennegau, wo die
von größern
Flüssen bewässerten Teile oft von sehr tiefen
Thälern und Schluchten durchschnitten und von Felsenwänden
umsäumt sind, deren manche sich bis zu 400 m erheben. Die bedeutendsten
Höhen sind: Baraque
Michel an der
preußischen
Grenze
(Provinz
Lüttich) 680 m, Baraque Fraiture bei Houffalize
(Provinz
Luxemburg) 637 m, die
Tailles (ebenda) 589 m,
Odeigne 531 m, Malempré 594 m etc. Die mittlere
Höhe von Belgien
beträgt 163,36 m. Die unmittelbar von
¶
Maßstab [* 11] = 1:1,300,000
Die Provinzhauptstädte sind doppelt, Arrondissements-Hauptorte einfach unterstrichen.
Eisenbahnen Hauptlinien Andere Bahnen
mehr
den Gewässern berührten Gegenden liegen an manchen Stellen so tief, daß das Land nur durch Dämme vor Überschwemmungen geschützt werden kann. Diese an den Ufern der Nordsee wie der Binnenflüsse befindlichen dammgeschützten Strecken, Polders genannt, nehmen zusammen einen Flächenraum von 500 qkm ein, also fast 1/60 des Gesamtareals. In den höher gelegenen Gegenden herrschen Schiefer- und Quarzmassen vor, welche der Vegetation nur eine höchst ärmliche Entwickelung gestatten.
Der größte Teil des Bodens ist von sumpfigen, nie kultivierten Steppen oder von schlechten Weiden, die Hügelabhänge sind von Wäldern und Wiesen bedeckt, und Feldbau wird nur an jenen wenigen Orten betrieben, wo die Nähe von Kalkfabriken die Bodendüngung erleichtert. Mit der allmählichen Senkung des Bodens lichten sich die Wälder; Roggen-, Hafer- und Kartoffelpflanzungen beginnen die unfruchtbaren Steppen zu ersetzen und gehen schließlich in jene fruchtbaren, von zahlreichen Flüssen bewässerten Gefilde über, welche den Reichtum und Stolz Belgiens bilden. Doch zeigt auch dieser ebene Teil nicht durchgehends gleiche Fruchtbarkeit, vielmehr finden sich in den Provinzen Antwerpen u. Limburg noch bedeutende Heidestrecken, die erst allmählich in nutzbaren Boden umgewandelt werden.
Bemerkenswert sind die durch besondere Namen unterschiedenen natürlichen Landschaften hinsichtlich der Bodenerhebung;
so Flandern, begrenzt durch die untere Schelde und die Dender, gegen das Meer hin von Dünen und gegen Zeeland durch Polders umsäumt;
das Land Waes, zwischen der Schelde unterhalb Gent [* 13] und der holländischen Grenze;
die Campine (Kempenland), von der untern Schelde, der Rupel, Demer und der Maas begrenzt, den Norden [* 14] der Provinzen Antwerpen und Limburg umfassend;
Brabant zwischen der Rupel, Demer, Gette und Dender.
Der nordöstliche Teil von Brabant heißt das Hageland, der südliche Wallonisch-Brabant. Der Hennegau wird durch Flandern, Brabant, die Orneau und Sambre begrenzt; Marlagne heißt der nordöstlichste Teil des Landstrichs zwischen Sambre und Maas, der südliche Fagne. Zwischen der Maas von Dinant bis Lüttich und der Ourthe von Lüttich bis Hamoir liegt die Landschaft Condroz, deren südwestlicher Teil den besondern Namen Famene führt. Ardenne ist durch die Vesdre, durch Condroz und die Semoy begrenzt. Die feuchte Nordebene im N. der Ardennen heißt Hautes Fagnes (Hohes Venn). Südlich von den Ardennen liegt die Lorraine.
Die reiche Bewässerung des Landes geschieht, mit Ausnahme der unterhalb Nieuport mündenden Yser mit Yperle, durch die Systeme der Schelde und Maas, welche beide Flüsse [* 15] das Land von Frankreich aus schiffbar betreten, aber beide im Königreich der Niederlande münden. Die Schelde durchfließt den westlichen Teil Belgiens von SW. nach NO., nimmt bei Gent die aus Frankreich kommende Lys, bei Dendermonde die Dender und bei Rupelmonde die (aus der Vereinigung der Dyle, Großen und Kleinen Nethe entstehende) Rupel auf und tritt unterhalb Antwerpen in das niederländische Gebiet ein.
Ihr durchgängig schiffbarer Lauf in Belgien
beträgt 240 km. Die Maas durchfließt auf 128 km, ebenfalls ganz schiffbar, der
Schelde parallel laufend, den östlichen Teil Belgiens, nimmt bei Namur die gleichfalls aus Frankreich kommende Sambre, bei Lüttich
die aus Luxemburg kommende Ourthe auf und bildet dann auf 53 km die Grenze gegen Holland. Diese Flüsse sind als stark benutzte
Triebkraft von Industriewerken und zur Beförderung des Verkehrs für das Land von größter Wichtigkeit,
um so mehr, als sie durch zahlreiche
Kanäle teils unter sich verbunden, teils in ihrem Lauf reguliert werden (s. unten).
Seen hat Belgien
nicht, dagegen sind Weiher in großer Menge vorhanden. Sümpfe gibt es viel, z. B. bei Furnes, besonders aber in der
sogen. Campine, am Saum des Plateaus, welches das Gebiet der Maas von dem der Schelde trennt. Auch an Mineralquellen
ist Belgien
, namentlich im Gebiet der Maas, sehr reich. Die berühmtesten sind die säuerlich-eisenhaltigen Quellen von Spaa und
die warmen von Chaudfontaine; außerdem gibt es eisenhaltige Quellen bei Stavelot, Aubel, Jupille, Huy, Courrière, Brée, Tongern,
Namur, Rièzes, Kain, Renaix etc., Schwefelquellen bei Aywaille, Grivegnée, Florée, Lüttich, Ougrée etc. und versteinernde Quellen
bei Cornesse, Nessonvaux, Hollogne aux Pierres, Sprimont etc. Das Klima
[* 16] trägt in den der See benachbarten Ebenen einen fast britisch-ozeanischen
Charakter.
Hier ist es sehr feucht und nebelig, und die Temperatur wechselt sehr schnell. Der Sommer bringt häufig Stürme, welche an Wut denen auf dem Meer nichts nachgeben. Nach dem Süden und Osten zu ist das Klima ein andres. Die Luft wird reiner, weniger von Nebeln gedrückt; die Temperatur des Sommers und des Winters ist durch die Nähe der Gebirge auffallender verschieden, die Sommer sind heißer, die Winter kälter. Noch weiter östlich in den Ardennen herrscht vollkommenes Gebirgsklima.
Die mittlere Jahrestemperatur beträgt in Brüssel [* 17] 9,94,° im Frühling 9,13,° Sommer 17,36,° Herbst 10,27,° Winter 2,87° C. Die gewöhnlichste Windrichtung ist SW., die seltenere SO. Die Menge der Niederschläge ist beträchtlich; in der westlichen Ebene beträgt die Regenhöhe zwischen 70 und 80 cm jährlich, im O. der Maas wächst sie erheblich (in Stavelot auf 102,9 cm). In Brüssel gibt es durchschnittlich an 197 Tagen Regen, an 25 Schnee, [* 18] an 10 Hagel, an 60 Nebel, nur an 12 Tagen ganz unbewölkten Himmel. [* 19]
Areal und Bevölkerung.
Das Gesamtareal beträgt 29,455 qkm (534,94 QM.), und die Gesamtbevölkerung belief sich Ende 1883 auf 5,720,807 Seelen. Eingeteilt ist das Land in 9 Provinzen mit 41 Arrondissements, auf welche sich Flächeninhalt u. Bevölkerung [* 20] folgendermaßen verteilen:
QKilom. | QMeilen | Einwohner Ende 1883 | auf 1 QKilom. | |
---|---|---|---|---|
Antwerpen | 2831.73 | 51.4 | 614042 | 217 |
Brabant | 3282.96 | 59.6 | 1031319 | 314 |
Westflandern | 3234.67 | 58.7 | 708896 | 219 |
Ostflandern | 2999.95 | 54.5 | 906791 | 302 |
Hennegau | 3721.62 | 67.6 | 1011273 | 271 |
Lüttich | 2893.88 | 52.6 | 693252 | 239 |
Limburg | 2412.34 | 43.8 | 214875 | 89 |
Luxemburg | 4417.76 | 80.2 | 211914 | 48 |
Namur | 3660.25 | 66.5 | 328445 | 89 |
Zusammen | 29455.16 | 534.9 | 5720807 | 194 |
Zunahme seit 1831: 1,934,993 Seelen, seit der Volkszählung von 1880: 200,798 Seelen (3,6 Proz.). Die Einwanderung
gibt schon seit Jahren Überschüsse über die Auswanderung, 1882 von 1852 Seelen (18,104 ein- und 16,252 ausgewandert). Vergleicht
man Belgien
mit den andern Staaten Europas, so steht es hinsichtlich der Dichtigkeit der Bevölkerung nur hinter Sachsen
[* 21] zurück. Im
ganzen kamen Ende 1883 durchschnittlich 194 Einw. aus 1 qkm.
Unter den einzelnen Provinzen sind Brabant, wo 314, und Ostflandern, wo 302 Menschen auf 1 qkm wohnen, die am stärksten,
¶
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Luxemburg mit 48, Namur und Limburg mit 89 Menschen auf 1 qkm die am schwächsten bevölkerten. Von der Bevölkerung waren 1882: 2,825,722 männlichen, 2,829,475 weiblichen Geschlechts, so daß auf 1000 Männer fast 1002 Frauen kamen. Nach dem Zivilstand unterschied man 1880 in Prozenten:
Männer | Frauen | |
---|---|---|
ehelos | 64 | 61 |
verheiratet | 32 | 32 |
verwitwet | 4 | 7 |
Die ländliche Bevölkerung verhält sich zur städtischen ungefähr wie 3:1; jene ist in 88 Stadt-, diese in 2496 Dorfgemeinden eingeteilt. Der jährliche Überschuß der Geburten über die Todesfälle ist sehr erheblich; es entfällt eine Geburt auf 33 Personen, aber ein Todesfall in den Städten auf 36,4, auf dem Land auf 44,8. Die mittlere Lebensdauer beträgt 40-41 Jahre. Lebendig geboren wurden 1883: 174,484 Kinder, darunter entfielen auf 100 Mädchen 104,5 Knaben. 8 Proz. waren unehelich. Totgeboren waren 8336 Kinder. Eheschließungen fanden 38,666, Ehescheidungen 216 statt. Von den 119,196 Gestorbenen waren 52,6 Proz. männlichen, 47,4 Proz. weiblichen Geschlechts.
Die Bevölkerung Belgiens ist ein Mischvolk deutscher und keltischer Abkunft, in welchem die Stämme der Flamänder (Vlämen) und Wallonen gegenwärtig noch durch ihr Festhalten an der vlämischen und wallonischen Sprache [* 23] neben Deutschen, Engländern, Franzosen etc., die ihre Muttersprache bewahren, hervortreten. Im J. 1880 zählte man neben 5,376,748 Belgiern 143,261 Fremde, nämlich 41,391 Niederländer, 51,089 Franzosen, 34,186 Deutsche, [* 24] 3789 Engländer und 5041 von andrer Nationalität.
Von der rechtlichen Bevölkerung sprachen 1880 vlämisch 44,9 Proz., französisch 40,5, beide Sprachen 7,6 Proz.; die übrigen sprachen entweder nur deutsch oder außerdem noch französisch oder vlämisch. Unter den einzelnen Provinzen sind überwiegend vlämisch Ostflandern und Antwerpen (über 92 Proz.), Limburg und Westflandern (über 88 Proz.); in Brabant überwiegt das Vlämische das Französische bedeutend, während in den übrigen Provinzen, namentlich in Namur, wiederum die französische Sprache herrscht.
Als amtliche wie als Umgangssprache der höhern Stände hat das Französische über die verschiedenen Dialekte den Sieg davongetragen, obschon ihm derselbe in der neuesten Zeit durch die Bestrebungen der Vlämen wieder streitig gemacht wird. Das Wallonische ist ein verdorbener Dialekt des Französischen, das Vlämische ein Dialekt des Deutschen, der weder holländisch noch plattdeutsch ist, aber mit dem Holländischen die meiste Ähnlichkeit [* 25] hat. Das vlämische Sprachgebiet umfaßt den fruchtbarern, reichern und gebildeten Teil des Königreichs; ihm gehören die altberühmten belgischen Städte an mit einem noch durchaus tüchtigen niederdeutschen Volksleben, welches allein in einem Teil von Brüssel von französischer Tünche überdeckt erscheint.
Die wallonischen Städte werden vielfach von deutscher Bevölkerung durchflochten; ja, es finden sich in allen wallonischen Provinzen noch ursprüngliche deutsch redende Gemeinden, z. B. in Lüttich: Landen, im Hennegau: Enghien. Das belgische Wallonenland bildet ungefähr ein gleichseitiges Dreieck, [* 26] dessen Grundlinie sich an Frankreich lehnt, von Longwy bis Mons, [* 27] und dessen beide Schenkel, die über Lüttich zusammentreffen, von deutschem Gebiet umschlossen sind; wegen dieser gleichsam in Deutschland eingetriebenen Gestalt heißt es der »wallonische Keil«.
Die Sprachgrenze ist fast überall sehr scharf gezeichnet. Die Verschiedenheit hinsichtlich der physischen und geistigen Bildung der beiden Volksstämme der Flamänder und Wallonen ist sehr bedeutend. Das Äußere des Flamänders, seine lichten Haare [* 28] und blauen Augen, wie der Grundton seines Innern zeugen für germanische Abkunft. Er ist groß, breitschulterig, von gewaltigem Körperbau, schweigsam, phlegmatisch, von muskulöser Fülle, Willensfestigkeit und starrer, fanatischer Anhänglichkeit an seine Überzeugung und seinen Glauben, mißtrauisch und von grobem, zurückhaltendem Wesen.
Die schwarzen Wallonen in ihren Bergen [* 29] und Felsen dagegen sind ein rühriger, heiterer Menschenschlag von aufgewecktem Sinn und französischer Heftigkeit, wie sie auch Sitte und Sprache der westlichen Nachbarn teilen. Sie sind kriegerisch, der härtesten Arbeit fähig, eine unruhige, ungezügelte Masse, trotzdem mäßiger als die Flamänder. Der Konfession nach ist die Bevölkerung Belgiens fast ausschließlich katholisch, da die Zahl der Protestanten nur auf etwa 15,000, die der Juden auf 3000 geschätzt wird.
Das Land ist demgemäß in sechs Diözesen geteilt: das Erzbistum Mecheln (mit den beiden Provinzen Antwerpen und Brabant), die Bistümer Brügge (mit Westflandern), Gent (mit Ostflandern), Tournai (mit Hennegau), Lüttich (mit Lüttich und Limburg) und Namur (mit den Provinzen Luxemburg und Namur). Das Erzbistum hat 3 Generalvikare, ein Kapitel von 12 Kanonikern und 1 Seminar; jedes Bistum hat 2 Generalvikare, ein Kapitel von 8 Kanonikern und 1 Seminar. An geistlichen Orden [* 30] bestanden während der Vereinigung Belgiens mit Frankreich zur Zeit der Kaiserherrschaft 44; gegenwärtig zählt man deren 160, zu denen (Ende 1880) 4027 Mönche (darunter am zahlreichsten Jesuiten und Trappisten) in 213 Klöstern und 20,645 Nonnen (am zahlreichsten Beghinen und Schwestern von Saint-Vincent de Paul) in 1346 Klöstern oder geistlichen Gesellschaften gehörten, welche sich der Krankenpflege, dem Unterricht (ausschließlich mit diesem beschäftigt waren 1243 männliche und 9055 weibliche Ordensmitglieder) oder (⅕) dem beschaulichen Leben und dem heiligen Dienst widmen.
Außerdem hielten sich 93 Mönche und 597 Nonnen, die ausländischen Klöstern angehörten, in Belgien auf. Mönchsklöster waren am zahlreichsten in Ostflandern, Brabant und Hennegau, Nonnenklöster außerdem noch in Westflandern. Außer dem katholischen sind der protestantische, anglikanische und israelitische Kultus in Belgien anerkannt. Protestantische Gemeinden bestehen zu Antwerpen, Brüssel, Courtrai, Gent, Hoorebeke Ste.-Marie, Dour, Pâturages, Mons, Tournai, Rongy, Lüttich, Verviers, Seraing, Roulers. Die Juden haben eine Zentralsynagoge in Brüssel, andre zu Antwerpen, Gent, Lüttich und Arlon.
Bildungsanstalten etc.
Die Einrichtungen des öffentlichen Unterrichts in Belgien, besonders des elementaren, haben in diesem Jahrhundert mehrere Wandlungen erlebt. Während durch das Gesetz vom dem Klerus ein maßgebender Einfluß auf die Volksschule eingeräumt war, wurde dieselbe durch das Gesetz vom ausschließlich den weltlichen Behörden unterstellt. Der Sieg der Klerikalen bei den letzten Wahlen hat im September 1884 zur Annahme eines neuen Schulgesetzes geführt, welches die Einrichtung und Erhaltung öffentlicher Volksschulen von dem Belieben der Gemeinden abhängig macht. Der Gemeinderat kann Privatschulen an die Stelle der öffentlichen setzen und aus Gemeindemitteln unterstützen, d. h. den kirchlichen Genossenschaften den Volksunterricht ganz überlassen, falls nicht 20 Familienväter, die schulpflichtige Kinder haben, dagegen ¶
Im Meyers Konversations-Lexikon, 1888
Belgien.
[* 2] Die Bevölkerung wurde für Ende 1888 auf 6,030,043 Seelen berechnet und verteilte sich folgendermaßen auf die einzelnen Provinzen:
Einwohner | ||
---|---|---|
Ende 1888 | auf 1 qkm | |
Antwerpen | 676076 | 237 |
Brabant | 1105317 | 336 |
Westflandern | 736511 | 227 |
Ostftandern | 945896 | 315 |
Hennegau | 1048299 | 282 |
Lüttich | 738694 | 255 |
Limburg | 223365 | 93 |
Luxemburg | 217699 | 50 |
Ramur | 338186 | 92 |
Zusammen: | 6030043 | 204 |
Die Zunahme betrug seit der Volkszählung von 1880: 510,034 Seelen (9,23 Proz.). Die Auswanderung hat sich in den letzten Jahren in höherm Grad als die Einwanderung gesteigert, und der durch letztere entgehende Zuwachs an Seelen ist ganz geschwunden (1888 bei 21,213 Einwanderern und 23,041 Auswanderern Verlust 1828 Personen). Lebendig geboren wurden 1887: 175,466 Kinder, darum er entfielen auf 100 Mädchen 104,9 Knaben. Totgeboren waren 8717 Kinder. Eheschließungen fanden 42,491 statt. Von den 115,296 Gestorbenen waren 52,6 Proz. männlichen, 47,4 weiblichen Geschlechts. ¶
mehr
Bildungsanstalten. Infolge des neuen Schulgesetzes von 1884 ist die Zahl der öffentlichen Volksschulen von 4787 (1883) auf 4003 (1886) gesunken, dagegen die Zahl der Privatschulen (unter Staatsaufsicht) in demselben Zeitraum von 10 auf 1478 gestiegen. Während 1883 unter 8669 Lehrenden nur 16 Lehrer und 4 Lehrerinnen dem geistlichen Stand angehörten, hat sich ihre Zahl bis 1886 auf 63 Lehrer und 1388 Lehrerinnen aus geistlichem Stand vermehrt. In den öffentlichen Volksschulen wurden 1886: 429,724, in den privaten 170,725 Schüler und Schülerinnen unterrichtet. Die Zahl der öffentlichen Fortbildungsschulen hat sich von 2445 (im J. 1881) auf (1886) 1643 (darunter 333 für Mädchen) mit 63,975 Lernenden vermindert.
Auch die Seminare zur Ausbildung von Lehrern und Lehrerinnen haben seit 1884 eine durchgreifende Veränderung erfahren; während 1883 nur der Staat 27 Seminare (écoles, resp. sections normales) unterhielt, sind bis 1887: 35 Privatseminare (écoles normales agréées), darunter 3 von Kommunen unterhaltene, errichtet worden, wogegen 8 Staatsanstalten eingingen. Von den 51 bestehenden Normalschulen waren 1887: 20 der Ausbildung von Lehrern, 31 derjenigen von Lehrerinnen gewidmet. 1883 wurden in den staatlichen Normalschulen 2695 Personen, 1887 nur 970 vorgebildet, während die privaten Institute von 1918 Personen (darunter 1198 weibliche) besucht wurden. An Instituten für den höhern Unterricht bestanden 1687: 20 königliche Athenäen, 15 Colleges (darunter 8 kommunale), 86 Mittelschulen (darunter 81 staatliche) für Knaben und 40 für Mädchen.
Der Zudrang zum Universitätsstudium hat neuerdings etwas nachgelassen; die Universitäten wurden im Winter 1887-1888 von 4590 Studierenden (460 weniger als im Vorjahr), die technischen Spezialanstalten von 885 Studierenden besucht. In der periodischen Presse [* 32] sind in den letzten Jahren nur geringe Veränderungen eingetreten. Unter den 1887 erscheinenden 846 Zeitungen und Zeitschriften waren 361 politische, davon erschienen 67 täglich und 287 wenigstens einmal wöchentlich.
Die Resultate der 1880 angestellten Erhebung über die Ausdehnung [* 33] der Landwirtschaft sind inzwischen veröffentlicht worden. Danach hat sich die dem Ackerbau gewidmete Bodenfläche von 1,955,147 Hektar (1866) auf 2,215,533 Hektar (1880) gehoben. Davon waren bestellt mit:
Roggen | 277640 Hekt. |
---|---|
Weizen | 275932 = |
Hafer | 249486 = |
Spelz | 52514 = |
Gerste | 40182 = |
Mengkorn | 25726 = |
Buchweizen | 13184 = |
Bohnen | 19088 = |
Erbsen u. Wicken | 14005 = |
Flachs | 40078 Hekt. |
Runkelrüben | 32627 = |
Hanf | 805 = |
Hopfen | 4185 = |
Kartoffeln | 199357 = |
Futterkräutern und -Rüben | 217941 = |
Tabak | 1577 = |
Wiesen und Weiden waren 351,155 Hektar, Weinberge 206, Gemüsegärten 39,723, Obstgärten 37,948 Hektar. Die Waldungen umfaßten 489,423 Hektar (16,6 Proz. der Bodenfläche), am zahlreichsten in den Provinzen Luxemburg (34,9 Proz.), Namur und Lüttich, am wenigsten in den Provinzen West- und Ostflandern (3,4, resp. 3,7 Proz.) vertreten. Der Ertrag einer Mittelernte wurde im Zeitraum: 1871-80 auf 1412 ¼ Mill. Frank (darumer 541 5/6 Mill. Fr. von Cerealien) veranschlagt.
Die Produktion der Bergwerke hatte 1886 folgenden Umfang: im Steinkohlenbergbau zählte man 261 konzedierte Minen, von denen 144 im Betrieb waren;
es wurden bei einem Arbeiterpersonal von
100,282 Personen 17,285,543 Ton. Kohlen im Wert von 142 ½ Mill. Fr. gefördert. Im übrigen ist der Bergbau [* 34] in den letzten Jahren zurückgegangen, was schon die Abnahme der Arbeiterzahl (von 2312 auf 1498 im Zeitraum 1882-86) erkennen läßt. An Eisen [* 35] wurden 1886: 152,508 T., Blende 12,718 T. Galmei 6324 T., Bleiglanz 1292 T., Schwefelkies 3209 T. produziert. Von 26 Eisenhütten waren 17 mit 30 Hochöfen im Betrieb, welche 701,277 T. Gußwaren im Wert von 30,8 Mill. Fr. produzierten; ferner gab es 94 Eisenwerke, davon 80 thätig, mit 659 Puddelöfen (davon 457 im Betrieb), worin 470,255 T. Eisen im Wert von 56 ¼ Mill. Fr. produziert wurden.
Stahl wurde in 7 Werken in einer Menge von 10,012 T. hergestellt, ferner in 10 Werken 79,246 T. Zink (im Wert von 26,9 Mill. Fr.), in 2 Werken 8665 T. Blei [* 36] und 14,757 kg Silber. In 77 Glashütten, wovon 71 thätig, wurden für 42 ¾ Mill. Fr. Glaswaren bei einem Arbeiterpersonal von 15,406 Mann produziert. Es gab 2635 Brauereien mit einer Produktion von 9,46 Mill. lit., 303 Branntweinbrennereien, 109 Zuckerfabriken (Produktion 89,981 T.), 30 Zuckerraffinerien (Produktion 13,587 T.). Steinbrüche waren 1332 im Betrieb mit 17,642 Arbeitern und einer Produktion im Wert von 32,3 Mill. Fr.
Den auch in den letzten Jahren andauernden Aufschwung des belgischen Handels veranschaulicht folgende Übersicht in Millionen Frank:
Einfuhr | Ausfuhr | ||
---|---|---|---|
Generalhandel | 1886: | 2663 | 2512 |
1887: | 2907 | 2715 | |
Spezialhandel | 1886: | 1335 | 1182 |
1887: | 1432 | 1241 |
Die wichtigsten Gegenstände der Einfuhr in den freien Verkehr waren 1887: Getreide [* 37] (223 Mill. Fr.), vegetabilische Spinnstoffe (200 Mill.), rohe Häute (64 Mill), Chemikalien (55 Mill.), Harze und Kohlen (52 Mill.), Bauholz (52 Mill.), Vieh (46 Mill.), Ölsämereien (40 Mill.), Kaffee (39 Mill.), Mineralien [* 38] und Erden (36 Mill.), Mehl [* 39] (26 Mill.), Fleisch (26 Mill. Fr.) 2c. Von belgischen Erzeugnissen wurden ausgeführt: vegetabilische Spinnstoffe (85 Mill. Fr.), Leinen- und Hanfgarne (74 Mill.), Steine (63 Mill.), Getreide (59 Mill.), Steinkohlen (56 Mill.), Wollengarn (55 Mill.), Glaswaren (54 Mill.), rohe Häute (44 Mill.), Maschinen (40 Mill.), Eisen (39 Mill.), Zink (31 Mill.), Rohzucker (28 Mill.), Eisenbahn- und Tramwaywagen (27 Mill.), Papier (25 Mill. Fr.) 2c. Am Handelsverkehr waren Frankreich mit 618 Mill. Fr., Großbritannien [* 40] mit 428 Mill., die Niederlande mit 366 Mill., der deutsche Zollverein mit 347 Mill. (149 Mill. in der Einfuhr, 198 Mill. in der Ausfuhr), Amerika [* 41] mit 407 Mill. Fr. beteiligt.
Die Durchfuhr hatte einen Wert von 1475 Mill. Fr. Der Schiffsverkehr belief sich 1887 auf 6747 eingelaufene Schiffe [* 42] (davon 5536 beladen) von 4,571,705 T. und 6760 ausgelaufene Schiffe (davon 4410 beladen) von 4,584,297 T. Die belgische Handelsmarine zählte Ende 1887: 65 Schiffe von 86,391 T. In der Seefischerei waren 344 Boote von 12,191 T. mit 1981 Mann thätig. Während der Stockfischfang mehr und mehr zurückgegangen ist, lieferte der Fang frischer Seefische 1887 einen Ertrag von 3 ½ Mill. Fr. An Eisenbahnen waren 1838: 4447 km (darunter 1246 km Privatbahnen) [* 43] in Betrieb. Die Länge der Landstraßen betrug 1887: 8929 km. Die Telegraphenlinien hatten eine Länge von 6426 km. Tramways gibt es in 7 Städten (Antwerpen, Brüssel, Charleroi, Gent, Lüttich, Peruwelz, Verviers), Telephonanlagen in 16 Städten. Bei der Sparkasse ist die ¶
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Zahl der Einleger im Zeitraum 1880-88 von 200,585 auf 598,675, ihr Guthaben von 125 Mill. auf 260 Mill. Fr. gestiegen; über die Hälfte der Einzahlungen wurden 1888 bei den Postanstalten gemacht. Das Budget für 1889 belief sich in den Einnahmen auf 330,514.902 Fr., in den Ausgaben auf 322,414,138 Fr.; die Staatsschuld im Betrag von 2180 1/6 Mill. Fr. erforderte für Zinsen und Amortisation 81 Mill. Fr.
Geschichte. Die Kammern erteilten 1885 beinahe einhellig dem König Leopold II. die verfassungsmäßige Zustimmung zu der Übernahme der Souveränität über den von der Berliner [* 45] Konferenz geschaffenen Congostaat. Die klerikale Regierung entwickelte für die Durchführung des neuen Schulgesetzes eine rastlose Thätigkeit. Ende 1885 waren von den 1884 bestehenden 1933 Staatsschulen bereits 877 beseitigt, dagegen 1465 Klosterschulen (mit 2758 Mönchen und Nonnen) als öffentliche Schulen anerkannt; 880 Lehrer waren entlassen und mit einem dürftigen Wartegeld abgefertigt, 5816 in ihrem Gehalt verkürzt. Wo eine Ortsverwaltung sich weigerte, den Anforderungen der von der Geistlichkeit beherrschten Hausväter hinsichtlich der Schule nachzukommen, zog die Regierung die Staatsunterstützung für die Schule zurück, und 700 Gemeinden sahen sich genötigt, ihre eignen Auflagen zur Deckung des Ausfalls zu erhöhen, während der Finanzminister durch die Ersparnisse auf dem Gebiet des öffentlichen Unterrichts das gestörte Gleichgewicht [* 46] im Staatshaushalt herzustellen in der Lage war.
Während die herrschenden Parteien alle ihre Kraft [* 47] und Aufmerksamkeit auf den Kampf um die Schule gerichtet hatten, war die Lage der Arbeiter in den Bergwerken und Fabriken, besonders in den wallonischen Provinzen, unbeachtet geblieben, obwohl dieselbe wegen der Niedrigkeit der Löhne und der Ausbeutung der Arbeiterbevölkerung beim Einkauf ihrer Bedürfnisse eine sehr drückende war. Sozialistische Agitatoren, namentlich der verkommene Advokat Defuisseaux durch seinen »Volkskatechismus«, hatten seit langem die Arbeiter aufgereizt, und im März 1886 kam die Unzufriedenheit zuerst in Lüttich, dann in dem Distrikt von Charleroi zum Ausbruch.
Hier zündeten die von den Glasbläsern aufgestachelten Kohlenarbeiter eine große Glasfabrik an. Die Regierung ließ das ganze Revier durch Truppen unter General u. d. Smissen besetzen, und als die Arteiter ihr Zerstörungswerk fortsetzten, kam es zu blutigen Zusammenstößen, bei denen gegen 30 Menschen unter den Kugeln der Soldaten fielen. Erst nach längerer Besetzung des Distrikts wurde die Ruhe völlig hergestellt. Die Regierung gab sich den Anschein, als erkenne sie, daß mit dem bisherigen System des manchesterlichen Geschehenlassens gebrochen werden müsse, und setzte einen Ausschuß zur Prüfung der gewerblichen Verhältnisse ein; auch kündigte sie bei Eröffnung der Kammern einige sozialpolitische Reformen an. Da jedoch die herrschenden Persönlichkeiten der klerikalen Partei zu der Plutokratie selbst gehörten, so war es ihnen mit diesen Reformen um so weniger ernst, als der Ausfall der Neuwahlen im Juni 1886 die Herrschaft des ultramontanen Ministeriums durch Vermehrung der ultramontanen Kammermehrheit für längere Zeit befestigte. Die Liberalen waren noch immer durch den Zwiespalt zwischen den Gemäßigten und den Radikalen geschwächt; der Führer der letztern, Janson, versuchte immer wieder den Gemäßigten seinen Willen aufzuzwingen und ließ sich sogar mit den Sozialisten ein, deren Verlangen nach Einführung des allgemeinen Stimmrechts von den Radikalen gebilligt
wurde. Außerdem schädigten sich die Liberalen durch die entschiedene Feindseligkeit ihrer wallonischen Mitglieder gegen die Wünsche der Vlämen. So kam es, daß sie eine ganze Reihe von Sitzen verloren und die ultramontane Mehrheit in der Kammer auf 96 Mitglieder stieg.
In ihrer Herrschaft durch den neuen Wahlsieg gesichert, wies die Kammer alle Zugeständnisse an das Volk Zurück. Ein Antrag des übrigens klerikalen Grafen d'Oultremont auf Einführung der allgemeinen persönlichen Dienstpflicht, welche zugleich die niedern Volksklassen entlasten wie das Heer verbessern und vermehren sollte, wurde 1887 abgelehnt. Von sozialpolitischen Reformgesetzen wurden 1887 nur wenige nicht erhebliche vorgelegt: das Verbot der Lohnzahlung in Waren und der Pfändung der Löhne, die Besteuerung der öffentlichen Trunkenheit und einige Repressivgesetze.
Zum Schutz der Neutralität Belgiens wurde die Anlage neuer Festungswerke an der Maas und die Beschaffung von schweren Geschützen genehmigt. Merkwürdigerweise bekämpften Frère-Orban und ein Teil der Linken die Festungsvorlage aufs hartnäckigste, und trotz der für sie so ungünstigen Ergebnisse der letzten Wahlen in Flandern widersetzten sich die wallonischen Liberalen, besonders Vara, jedem Vorschlag, der auf Gleichberechtigung der Vlämen mit den Wallonen hinsichtlich der Sprache gerichtet war.
Die Regierung und die Klerikalen zeigten sich in dieser Hinsicht verständiger, und wie der König und der mutmaßliche Thronfolger, Prinz Balduin, das vlämische Volk 1887 durch Ansprachen in niederdeutscher Sprache erfreuten, so wurde diese auch in Schule, Verwaltung und Heer mehr und mehr als gleichberechtigt anerkannt und auch für die Offiziere die Kenntnis der niederdeutschen Sprache bis zu einem gewissen Maß verbindlich gemacht. Ende 1888 wurde ferner trotz des heftigsten Widerstandes der wallonischen Advokaten ein von Coremans und Devigne beantragtes Gesetz in beiden Kammern angenommen, wonach das Vlämische vor Gericht dem Französischen gleichgestellt wurde. Im übrigen war das Bestreben des Ministeriums, in welchem der Minister des Innern, Thonissen, 24. Ott. 1888 durch den bisherigen Justizminister de Volder und dieser durch den berühmten Advokaten Leieune, der keineswegs als klerikal galt, ersetzt wurde, nur darauf gerichtet, sich im Amt zu erhalten und jedem prinzipiellen Kampf auszuweichen.
Daher erlahmte auch die liberale Opposition und machte den Klerikalen bei den Neuwahlen im Juni 1888 den Sieg kaum mehr streitig. In der Deputiertenkammer standen nun 97 Klerikale 41 Liberalen gegenüber; im Senat gab es neben 50 Klerikalen nur noch 19 Liberale, ein Verhältnis, wie es so ungünstig noch nie bestanden hatte. Die Gesetzvorschläge zum Schutz der Arbeiter rückten aber nicht vorwärts, obwohl sich die Unruhen ini Kohlenrevier im Mai 1887 wiederholt hatten; nur die Einführung von Einigungsämtern, ein Gesetz über Arbeiterwohnungen u. ein wenig wirksames Gesetz zum Schutz der Frauen und Kinderarbeit wurden beschlossen.
Einen förmlichen Heeresrekrutierungs-Gesetzentwurf, den d'Oultremont 1887 vorlegte, lehnten die Klerikalen in der Zweiten Kammer 14. Juli nach langen Debatten mit 69 gegen 62 Stimmen ab, obwohl der König und alle Generale eine Heeresreform, welche die niedern Klassen durch Heranziehung auch der Wohlhabenden zur Dienstpflicht versöhnte und die gebildeten Elemente im Heer vermehrte, wiederholt für notwendig erklärten. Ebensowenig war die herrschende Partei ¶
Im Meyers Konversations-Lexikon, 1888
Titel
Belgien.
[* 2] Die Bevölkerung wurde für Ende Dezember 1889 auf 6,093,798 Seelen berechnet. Im J. 1888 fanden 42,427 Eheschließungen (7,10 pro Mille) statt, lebendig geboren wurden 1889: 176,726 Kinder (29,39 pro Mille), und zwar hat das in frühern Jahren beträchtliche Überwiegen der männlichen Geburten etwas nachgelassen, doch fallen noch immer 104,77 männliche auf 100 weibliche Geburten. Die Zahl der unehelichen Geburten hat sich 1888 gegen das Vorjahr etwas vermindert, beträgt aber immer noch 8,74 Proz. Todesfälle kamen im J. 1889: 117,551 vor. Der Zuwachs der Bevölkerung betrug gegenüber dem Vorjahr 63,755 Köpfe (1,05 Proz.).
Die Produktion der Bergwerke hatte 1888 folgenden Umfang: im Steinkohlenbergbau waren 133 Gruben im Betrieb, welche bei einer Belegschaft von 103,477 Arbeitern 19,2 Mill. Ton. Kohlen im Werte von 162 Mill. Fr. förderten. Unter den Arbeitenden waren 7378 Frauen und 14,509 Kinder unter 16 Jahren, wovon 3327 Frauen und 9588 Kinder unter Tage beschäftigt wurden. An Eisen wurden 1888: 185,542 Ton., Blende 12,370 T., Galmei 12,167 T., Bleiglanz 414 T., Schwefelkies 3916 T. produziert.
Von 25 Eisenhütten waren 17 mit 32 Hochöfen im Betrieb, welche 826,850 T. Gußwaren im Werte von 40½ Mill. Fr. herstellten. Ferner gab es 77 Eisenwerke, davon 65 thätig, mit 670 Puddelöfen, wovon 515 im Betrieb, worin 547,818 T. Eisen im Werte von 70 Mill. Fr. produziert wurden. An Stahl wurden 22,605 T., Zink 80,675 T., Blei 10,921 T. und Silber 29,329 kg erzeugt. Von den 75 Glashütten waren 64 thätig und lieferten Waren im Werte von 35⅓ Mill. Fr. (12⅔ Mill. Fr. weniger als im Vorjahr). In 2759 Brauereien wurden 10,6 Mill. hl Bier produziert; es gab 288 Branntweinbrennereien, 114 Zuckerfabriken (Produktion 93,214 T.). Steinbrüche waren 1780 in Betrieb mit 29,451 Arbeitern und einer Produktion im Werte von 32⅓ Mill. Fr. Der Handel Belgiens wertete 1888:
Einfuhr | Ausfuhr | |
---|---|---|
Generalhandel | 3087 Mill. Fr. | 2800 Mill. Fr. |
Spezialhandel | 1534 Mill. Fr. | 1244 Mill. Fr. |
Die wichtigsten Gegenstände der Einfuhr in den freien Verkehr waren: Getreide (263 Mill. Fr.), vegetabilische Spinnstoffe (187 Mill.), Chemikalien (69 Mill.), Harze und Kohlen (65 Mill.), Bauholz (61 Mill.), rohe Häute (53 Mill.), Vieh (52 Mill.), Ölsämereien (46 Mill.), Kaffee (44 Mill.), Mineralien und Erden (38 Mill.), Mehl (30 Mill.), Butter (26 Mill.), Droguen (24 Mill.), Fettwaren (24 Mill.), Wein (23 Mill. Fr.) etc. Von belgischen Erzeugnissen wurden ausgeführt: vegetabilische Spinnstoffe (79 Mill. Fr.), Leinen-, Hanf- und Jutegarn (75 Mill.), Getreide (69 Mill.), Steine (59 Mill.), Steinkohlen (59 Mill.), Wollgarn (56 Mill.), rohe Häute (48 Mill.), Glaswaren (45 Mill.), Eisen (39 Mill.), Chemikalien (29 Mill.), Maschinen (28 Mill.), Zink (28 Mill.), Papier (27 Mill.), Wollengewebe (25 Mill.), Rohzucker (24 Mill. Fr.) etc. Am Handelsverkehr (Spezialhandel) waren am meisten beteiligt: Frankreich mit 632 Mill Fr., Großbritannien mit 438 Mill., die Niederlande mit 388 Mill., der Deutsche Zollverein mit 369 Mill. (169 Mill in der Einfuhr, 200 Mill in der Ausfuhr), die Vereinigten Staaten [* 48] von Amerika mit 172 Mill. Fr. Die Durchfuhr hatte einen Wert von 1556 Mill. Fr. Über die belgische Seeschiffahrt in den beiden letzten Jahren gibt folgende Übersicht Aufschluß:
Eingang | Ausgang | |||
---|---|---|---|---|
Schiffe | Tonnengehalt | Schiffe | Tonnengehalt | |
1888 | 6934 | 4916375 | 6942 | 4921482 |
1889 | 7016 | 5165615 | 7011 | 5038514 |
In den drei bedeutendsten Häfen liefen 1889 ein: in Antwerpen 4389 Schiffe von 4,089,284 Ton., in Ostende [* 49] 1465 Schiffe von 622,020 T., in Gent 871 Schiffe von 400,174 T. Die Handelsmarine zählte 1889: 59 Schiffe von 77,655 T.; Fischerboote gab es 344 von 11,931 T. Im Budget für 1890 sind die ¶
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Einnahmen auf 331,352,202 Fr. und die Ausgaben auf 333,814,054 Fr. veranschlagt. Die Staatsschuld wurde auf 2233 Mill. Fr. geschätzt und erfordert für Verzinsung und Tilgung 81½ Mill. Fr.
Geschichte.
Die klerikale Mehrheit in den Kammern behauptete sich auch 1890 unerschütterlich in ihrer Herrschaft, und daher blieben auch die Minister im Besitz ihrer Stellungen, obwohl sie sich manche Blößen gaben. Sie wagten nicht, die allgemeine Wehrpflicht einzuführen, weil der größere Teil der Klerikalen dagegen war. Die liberalen Wallonen Bara und Neujean sowie der Radikale Janson suchten besonders den Nieterschen Fall gegen die Regierung auszubeuten. Nieter, ein hoher Beamter im auswärtigen Ministerium, hatte das Vertrauen seines Chefs, des Prinzen Chimay, gröblich mißbraucht, um französischen Preßagenten, namentlich dem aus Boulangers Prozeß berüchtigten Foucault de Mondion, offizielle Aktenstücke zu überliefern, unter denen sich auch ein Bericht des Generaldirektors Banning über Neutralität und Landesverteidigung in Belgien befand, der aus dem Büreau des Ministers Thonissen entwendet war; Nieter oder Mondion hatten mit den echten Aktenstücken gefälschte vermischt und sie um hohen Preis an die französische Regierung und die französische Presse verkauft.
Die belgische Regierung hatte sich also betrugen lassen und war gegen den ungetreuen Beamten nicht sofort mit der nötigen Strenge eingeschritten. Statt nun Nieter zu verurteilen, setzten sich Bara und Janson mit ihm in Verbindung, letzterer trat sogar als sein Anwalt auf, und auf Grund der Nieterschen Mitteilungen griff die Opposition das Ministerium aufs heftigste an. Als es 29. April zur Abstimmung kam, fehlte ein Viertel der Liberalen, welche das Vorgehen Baras nicht billigten, und die Regierung erhielt von der großen Mehrheit ein Vertrauensvotum.
Nieter wurde abgesetzt, der weitere Prozeß gegen ihn aber von der Kammer niedergeschlagen. Die Debatten über den Fall nahmen einen großen Teil der Zeit der Kammer in Anspruch. Die Beratung eines Gesetzentwurfs über die Prüfungen, welchen sich die Kandidaten des Doktorgrades unterziehen sollen, beschäftigte die Kammer wegen der Sprachenfrage in 30 Sitzungen. Daher wurde bis zum Schlusse der Kammersession im wesentlichen nur das Budget erledigt. Zur Beratung der Arbeitergesetzgebung, für welche Janson einen Entwurf über die obligatorische Unfallversicherung der Arbeiter vorgelegt hatte, gelangten die Kammern nicht.
Wenn die Liberalen gehofft hatten, durch ihre heftigen Angriffe auf das klerikale Ministerium bei den Wahlen Erfolge zu erzielen, so tauschten sie sich durchaus. Schon bei den Provinzialwahlen bewahrten die Klerikalen ihren Parteistand unverändert und gewannen bei den Stichwahlen noch einige Plätze hinzu. Bei den Kammerwahlen 10. Juni handelte es sich besonders um Gent, wo sieben Klerikale und ein Liberaler zur Neuwahl standen. Siegten die Liberalen diesmal, so hatten sie Aussicht, bei den nächsten Wahlen 1892 und 1894 wieder die Mehrheit zu erhalten.
Doch unterlagen sie gleich im ersten Wahlgang mit 500 Stimmen, und dies Ergebnis war teilweise wohl darauf zurückzuführen, daß die Liberalen, fast durchweg Wallonen, sich gegen die vlämischen Ansprüche auf Gleichberechtigung stets so feindselig gezeigt hatten. In den wallonischen Bezirken eroberten die Liberalen zwei klerikale Sitze, so daß sie nun 44 Mitglieder gegen 94 Klerikale in der Kammer zählten. Damit war aber die Aussicht geschwunden, der klerikalen Herrschaft vor dem Schlusse des Jahrhunderts ein Ende zu machen. Trotz des hohen Wahlzensus hatten übrigens in drei Wahlbezirken die Sozialisten Kandidaten aufgestellt, die freilich nur sehr wenige Stimmen erhielten.
Schon Anfang Juli wurde eine außerordentliche Tagung der Kammern eröffnet und ihnen 9. Juli eine überraschende Mitteilung gemacht. Der Ministerpräsident Beernaert verlas nämlich ein Schreiben des Königs Leopold II. vom in welchem derselbe mitteilte, daß er gemäß einem gleichfalls verlesenen Testament vom 2. Aug. den von ihm gegründeten Congostaat nach seinem Tode ohne jede Schadloshaltung Belgien vererbe, Auf Grund dieser Bestimmung wurde schon jetzt ein Vertrag zwischen und dem Congostaat abgeschlossen, nach welchem Belgien dem Congostaat ein zinsfreies Darlehn von 25 Mill. Fr., 5 Mill. sofort und dann zehn Jahre lang jährlich 2 Mill., vorstrecken, dafür aber das Recht erhalten solle, sich nach zehn Jahren den Congostaat einzuverleiben.
Der weitblickende Patriotismus des Königs, der die kostspieligen Verbindlichkeiten der Gründung der Kolonie auf sich nahm, um die nun gesicherten Früchte seinem Lande abzutreten, steigerte seine Beliebtheit, die bei der Feier zum lebhaften Ausdruck kam, welche 21. Juli zur Erinnerung an die vor 60 Jahren errungene Unabhängigkeit Belgiens und, der Zeit um einige Monate vorgreifend, an die vor 25 Jahren erfolgte Thronbesteigung Leopolds II. veranstaltet wurde. Der Vertrag mit dem Congostaat wurde von beiden Kammern fast einstimmig genehmigt.
Hierauf widmete sich die Kammer der Beratung des Gesetzentwurfs über die Errichtung einer vom König angeregten Unterstützungskasse für Arbeitsinvaliden u. des Jansonschen Entwurfs einer obligatorischen Arbeiterversicherung, vertagte sich aber Ende Juli schon wieder bis zum Oktober. Wie in Deutschland, so wurden auch in Belgien die Sozialisten durch die Regierungsvorlagen nicht befriedigt; ein vom Generalrat der sozialistischen Arbeiterpartei veröffentlichtes Programm stellte viel weitergehende Forderungen.
Die erste war die Einführung des allgemeinen Stimmrechts, und für diese veranstalteten die Arbeiter 10. Aug. in Brüssel eine Kundgebung, welche durch Regen arg gestört wurde. Im Borinage und an andern Orten wurden Ausstände veranstaltet, um die Bedeutung des Arbeiterstandes kundzuthun, und 14. Sept. ein großer Kongreß aller Arbeitervereinigungen im Lande (400) in Brüssel abgehalten, auf dem beschlossen wurde, am Sonntag vor dem Wiederzusammentritt der Kammern Massenkundgebungen für das allgemeine Stimmrecht in allen Provinzialhauptstädten ins Werk zu setzen und einen allgemeinen Aufstand aller Gewerke herbeizuführen, um dem Beschluß Nachdruck zu geben.
Dieser Beschluß kam indes nicht zur Ausführung. Eine Änderung des belgischen Wahlgesetzes und eine Erweiterung des Stimmrechts waren allerdings wünschenswert. Von dem allgemeinen geheimen Wahlrecht wollten aber die Liberalen gar nichts wissen, und auch die Radikalen wollten es anfangs auf diejenigen beschränken, die lesen und schreiben könnten, waren aber im übrigen zu Bündnissen mit den Sozialdemokraten für die Wahlen u. dgl. geneigt. In der Wintersession der Kammern, November 1890, stellte Janson auch einen Antrag auf Durchsicht der Verfassung behufs Änderung des Wahlrechts. Aber dieser Antrag war ganz allgemein gehalten, und seine Anbetrachtnahme wurde daher von allen Parteien beschlossen. Bei diesem Mangel an Einheit und Entschlossenheit bei ¶
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ihren Gegnern konnten die Klerikalen ungestört im Genuß ihrer Herrschaft bleiben. Dazu kam, daß der Einfluß der Liberalen durch die nationale Spaltung geschwächt wurde. Ihre Mehrzahl war wallonisch und franzosenfreundlich, die Vlämen dagegen den Franzosen abgeneigt. Diese feierten 18. Juni auf dem Schlachtfeld von Waterloo [* 52] die Erinnerung an die Befreiung Belgiens von der Fremdherrschaft und begrüßten in Ostende mit Jubel den Kaiser Wilhelm II., der den König Ende August besuchte.
Die Wallonen gedachten dagegen 9. Nov. die Erinnerung an die Schlacht von Jemappes zu feiern, durch welche Belgien mit der französischen Republik vereinigt wurde; die Feier, zu der sich mehrere Mitglieder des Pariser Gemeinderats angemeldet hatten, wurde durch die Obrigkeit verboten. Auch die Regierung ließ sich die Zugeständnisse an die Vlämen einzeln abringen, so 1891 die Errichtung einer vlämischen Kammer bei dem Brüsseler Appellhof, wodurch die vlämischen Liberalen mehr und mehr auf die Seite der Radikalen gedrängt wurden und das Verlangen nach einer durchgreifenden Verfassungsdurchsicht sich zu eigen machten. Die Bewegung für das allgemeine Stimmrecht schwoll daher von Tag zu Tag an, und selbst die Klerikalen neigten sich teilweise einer bedeutenden Erweiterung des Wahlrechts zu. In den Arbeiterkreisen fuhr es fort zu gären, und die bedenklichen Zustände im Heer, in dem noch immer nicht die allgemeine Wehrpflicht eingeführt war, führten Anfang Februar 1891 in Brüssel zu Meutereien.