Belagerungsstand
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Belagerungsstand,
Belagerungszustand
(franz. État de siége), eine Art moderner Diktatur, bestehend in der Übertragung
der gesamten öffentlichen Autorität auf die Militärbehörden, welche zugleich mit außerordentlichen Vollmachten bekleidet
werden. Ursprünglich nur auf das bestimmte kriegerische Verhältnis einer eigentlichen Belagerung
berechnet, wurde der auch
auf andre Verhältnisse übertragen, und zwar versuchte die französische Revolution zuerst eine Regelung dieses Gegenstandes
durch Gesetz vom woran sich dann später, namentlich unter Napoleon I., verschiedene andre wichtige
Gesetze anschlossen.
Hiernach kann der Belagerung
szustand über ganze Distrikte und Provinzen und nicht bloß bei einer eigentlichen Belagerung
und überhaupt nicht
bloßen Kriegszeiten, sondern auch
im Frieden zur Unterdrückung revolutionärer Bewegungen verhängt werden. So
erklärte z. B. Karl X. die Stadt Paris
[* 3] in den Belagerung
szustand. Auch das Jahr 1848 rief über die Hauptstadt der damaligen französischen
Republik den Belagerung
szustand herbei, und Gleiches war 1871 infolge des furchtbaren Aufruhrs der Kommune zu Paris der Fall. Ebenso ist in diesem
Jahrhundert auch in andern Staaten des Kontinents wiederholt der Belagerung
szustand zur Unterdrückung von revolutionären
Versuchen verfügt worden, namentlich auch in Deutschland
[* 4] 1848 und 1849, insbesondere nach dem badischen Aufstand, ebenso von
den Österreichern 1878 in Bosnien.
[* 5] Auch wurden während des Kriegs 1870/71 einzelne Bezirke in Deutschland in Belagerung
szustand erklärt. Nach
der gegenwärtigen deutschen Reichsverfassung (Art. 68) steht dem Kaiser das Recht zu, wenn die öffentliche
Sicherheit in dem Bundesgebiet bedroht ist, einen jeden Teil desselben in den Kriegszustand zu erklären, eine Bestimmung,
die jedoch für Bayern
[* 6] keine Geltung hat.
Dabei wird auf das königlich preußische Gesetz vom über den Belagerung
szustand Bezug genommen, dessen Bestimmungen
in einem solchen Fall maßgebend sein sollen, so daß also hiernach die Erklärung des Belagerung
szustandes von der vorgängigen
Erklärung des Kriegszustandes abhängig ist. Nach dem angezogenen Gesetz vom ist für den Fall des Kriegs in den vom
Feind bedrohten Provinzen jeder Festungskommandant befugt, die ihm anvertraute Festung
[* 7] mit ihrem Rayonbezirk
in Belagerung
szustand zu erklären; für andre Bezirke steht die Erklärung dem kommandierenden General zu. Für den Fall eines Aufruhrs kann
der Belagerung
szustand sowohl in Kriegs- als Friedenszeiten erklärt werden, doch geht die Erklärung dann vom Staatsministerium aus, und nur
in dringenden Fällen kann dieselbe provisorisch und vorbehaltlich der ministeriellen Bestätigung, rücksichtlich
einzelner Orte und Bezirke, durch den obersten Militärbefehlshaber auf Antrag des Verwaltungschefs oder, wenn Gefahr im Verzug
ist, durch den Militärbefehlshaber allein erfolgen.
Die Erklärung des Belagerung
szustandes geschieht durch öffentlichen Ausruf bei Trommelschlag oder Trompetenschall, durch
Mitteilung an die Gemeindebehörde, durch Anschlag an öffentlichen Plätzen und durch öffentliche Blätter.
Mit der erfolgten Bekanntmachung geht die vollziehende Gewalt an die Militärbefehlshaber über, so daß die Zivilverwaltungs-
und die Kommunalbehörden den Anordnungen der Militärbefehlshaber Folge zu leisten haben. Gleichzeitig können auch das freie
Vereins- und Versammlungsrecht, das Recht, daß niemand seinem ordentlichen Richter entzogen werden darf,
die Freiheit der Presse,
[* 8] die Rechte, welche sich auf Unverletzlichkeit der Wohnung und die persönliche Freiheit beziehen, für
die Dauer des Ausnahmezustandes suspendiert werden, und es hängt lediglich von dem Ermessen des kommandierenden Militärbefehlshabers
ab, welche Beschränkungen er an die Stelle der hierüber sonst geltenden Bestimmungen treten lassen will.
Hält es derselbe oder das Staatsministerium für nötig, die ordentlichen Gerichte zu suspendieren, so treten an die Stelle derselben die Kriegsgerichte, welche namentlich die Verbrechen des Aufruhrs, Hochverrats, Landesverrats, der thätlichen Widersetzung, der Meuterei, der Plünderung, der Erpressung, der Verleitung der Soldaten zum Ungehorsam oder zu Vergehen gegen die militärische Zucht und Ordnung zur Untersuchung und Bestrafung überwiesen erhalten. Die Kriegsgerichte werden aus Offizieren und Zivilrichtern zusammengesetzt; in eingeschlossenen Festungen können im Notfall an der ¶
Stelle der Zivilrichter selbst Kommunalbeamte dazu genommen werden. Das Verfahren ist ein sehr summarisches, das sogen. standrechtliche. Die Verhandlungen sind öffentlich und mündlich, und der Beschuldigte kann sich eines Verteidigers bedienen. Der Berichterstatter (öffentliche Ankläger), als welcher ein Auditeur oder in Ermangelung desselben ein andrer Offizier fungiert, trägt in Anwesenheit des Beschuldigten die demselben zur Last gelegte Thatsache vor.
Der Beschuldigte wird aufgefordert, sich darüber zu erklären, und wenn er dieselbe bestreitet, so wird sogleich zur Aufnahme des Thatbestandes durch Erhebung der vorliegenden Beweise geschritten. Darauf folgt sogleich in nichtöffentlicher Beratung die Fassung des Urteilsspruchs, gegen den kein Rechtsmittel zulässig ist; nur die auf Todesstrafe lautenden Erkenntnisse unterliegen in Friedenszeiten der Bestätigung von seiten des kommandierenden Generals der Provinz.
Alle Strafen werden sogleich nach Verkündigung des Erkenntnisses zum Vollzug gebracht und zwar binnen 24 Stunden, Todesstrafen
in gleicher Zeit nach der erfolgten Bestätigung des Befehlshabers. Die letztern werden durch Erschießen
vollstreckt. In Frankreich ist ein neues Gesetz über den Belagerung
szustand verkündet worden, wonach derselbe im Fall eines bewaffneten
Aufstandes und im Fall einer feindlichen Invasion eintreten kann. Außerdem kann der Präsident auf Grund eines Gutachtens des
Staatsrats auch in sonstigen Notfällen den Belagerung
szustand erklären.
Die Maßregel muß aber den Kammern zur Bestätigung unterbreitet werden. Das englische Recht kennt das
Institut des Belagerung
szustandes nicht, sondern nur die Suspension gewisser Gesetze in Zeiten der Not, namentlich die Suspension
der Habeaskorpusakte. Als sogen. kleiner Belagerung
szustand werden die infolge des Sozialistengesetzes
über gewisse Bezirke verhängten Ausnahmsmaßregeln bezeichnet (s. Sozialdemokratie).
Vgl. Finlason, A treatise in martial law (Lond. 1866).