Baustil
,
die in den Bauwerken gewisser Zeitperioden und deren
Nachbildungen zu
Tage tretende
Einheit in der räumlichen
Anordnung, in der Art des Baugefüges und in der
Ausbildung der Bauformen und
Ornamente
[* 3] im großen und kleinen, also die den
Meistern einer solchen Zeitperiode und ihren Nachahmern gemeinsame Ausdrucksweise. Da die zur
Gottesverehrung
bestimmten, also dem erhabensten
Zweck gewidmeten Bauwerke dem
Künstler das dankbarste
Feld zur
Entwickelung der Bauformen darboten,
so knüpfte sich die Entstehung der historischen Baustile
an die bauliche Herstellung der
Tempel
[* 4] und Gotteshäuser und an
die Zeitperioden, in welchen dieselbe durch die
Religion und den religiösen
Kultus in umfangreicher
Weise
geboten war.
Unter den zahlreichen so entstandenen Bauweisen treten in fortschreitender Zeitfolge die ägyptische, die griechische, die etruskische, die römische, die altchristliche, die byzantinische, die arabische, die romanische und gotische Bauweise sowie die Früh- und Spätrenaissance in den kulturgeschichtlichen Vordergrund, worunter wieder der griechische oder klassische, der romanische und gotische Stil die selbständigsten, am meisten durchgebildeten sind und die Bauformen der Gegenwart teils in reiner, teils in kombinierter Anwendung beherrschen.
Während die Grundformen der Baustile
in architektonischer Beziehung sich aus einem dem jeweiligen
Bedürfnis entsprechenden
Raumplan der Bauwerke und dem Konstruktionsprinzip ihrer
Decken und
Stützen entwickelten, erscheinen die zu
ihrer
Charakteristik wesentlichen Detailformen als die Ergebnisse eines mehr oder minder fein entwickelten
Gefühls für die
Unterscheidung und Verknüpfung ihrer einzelnen
Glieder
[* 5] sowie der Auswahl und Verarbeitung der zu ihrer künstlerischen Vollendung
dienenden, der
Natur entlehnten symbolischen
Mittel, welche zusammengenommen die Hauptmerkmale der genannten Baustile
ausmachen.
So zeigen der ägyptische und griechische
Stil meist rechteckige oder aus
Rechtecken zusammengesetzte Planformen
und wagerechte, aus Steinbalken bestehende
Decken auf steinernen
Säulen.
[* 6]
Besondere Kopf- und Fußplatte, ausgebauchter, am Fuß eingezogener Schaft und kessel- oder kelchförmiges, meist mit Lotosblättern und Lotosblüten verziertes Kapitäl kennzeichnen die ägyptische Säule (s. Tafel »Baukunst [* 7] III«), [* 8]
während die griechische Säule (s. Tafel IV und »Säulenordnungen«) in drei Grundformen auftritt, welche die Hauptmerkmale der dorischen, ionischen und korinthischen Ordnung bilden. Während die dorische Säule ein wulstförmiges Kapitäl mit quadratischer Deckplatte und einen scharf kannelierten, nach unten konisch verbreiterten, derben Schaft ohne Fuß besitzt, zeigen die beiden letztern weicher kannelierte, nach unten schwächer anlaufende, schlankere Schäfte mit reichgegliedertem, vorspringendem Fuß (ionische und attische Basis), wobei die ionische Säule ein aus Deckplatte, Doppelvolute und Halsring, die korinthische Säule ein aus Deckplatte, Kelch mit spiralförmigen Ranken und mehreren Lagen von Akanthusblättern und Halsring bestehendes Kapitäl trägt.
Die etruskische Bauweise (s. Tafel V) ahmt den Tempelbau der Griechen mit hölzernem
Gebälk auf steinernen
Säulen nach und wendet daneben und getrennt davon zum erstenmal den Gewölbebau auf Privatbauten an.
Der aus ihr und der griechischen hervorgegangene römische Baustil
(s. Tafel V u.
VI) benutzt rechteckige, zentrale sowie aus beiden zusammengesetzte Grundpläne und kombiniert den
Gewölbe-
und den Architravbau, indem der erstere in Form von
Tonnen-,
Kuppel- und Kreuzgewölben die
Konstruktion, der
letztere als Umrahmung
des
Bogens die Wandgliederung bildet. Die römischen
Säulen erscheinen als mehr oder minder treue
Nachbildungen der griechischen
Säulen und sind häufig mit reichen, meist aus Teilen des ionischen und korinthischen
Kapitäls zusammengesetzten,
sogen. Kompositenkapitälern versehen.
Die im Abendland sich entwickelnde altchristliche Baukunst (s. Tafel VII) bildet die römische Markthalle (Basilika) [* 9] zur christlichen Kirche aus, indem sie zwei Seitenschiffe und ein erhöhtes Mittelschiff mit wagerechter Holzbalkendecke herstellt und die schwere Schiffswand anstatt des Architravs durch eine Rundbogenstellung durch Pfeiler oder römische Säulen oder durch beide abwechselnd stützt. Die im Morgenland, vorzugsweise in Byzanz, geübte byzantinische Baukunst (s. Tafel VII) bildet den römischen Kuppelbau über kreisförmigem, polygonförmigem oder rechteckigem Grundplan fort, woraus die Hängekuppel und die an die offenen Bogen [* 10] derselben sich anschließenden Halbkuppeln entstehen.
Der aus der altchristlichen
Baukunst sich entwickelnde romanische Baustil
verwandelt den rechteckigen Grundplan
ihrer
Basilika in den des einfachen oder
Doppelkreuzes mit halbkreisförmigen
Apsiden und führt den Unterbau von der flachen
Holzdecke mit einzelnen Gurtbogen zu der fast durchweg im
Halbkreis gewölbten
Decke
[* 11] über, bei welcher je zwei, meist quadratische
Kreuzgewölbe eines Seitenschiffs einem quadratischen
Gewölbe
[* 12] des Mittelschiffs entsprechen.
Die parallelepipedischen Anfänger der Kreuzgewölbe vermittelt sie mit den runden Säulenschäften durch einen zwischen dieselben eingeschalteten, unten abgerundeten, mit Deckplatte und Halsring versehenen Würfel, das sogen. Würfelkapitäl, [* 13] und gibt den Säulenschäften eine aus zwei Wülsten mit einer zwischenliegenden Hohlkehle und einer quadratischen, oft mit vermittelnden Eckblättern versehenen Unterlagsplatte bestehende Basis. Die zur künstlerischen Vollendung in reichem Maß angewandten symbolischen Mittel sind teils dem Pflanzen- und Tierreich, teils beiden zugleich entlehnt, woraus unter andern die reichen romanischen, meist streng stilisierten Blätter-, Tier- und Bilderkapitäler entstanden sind.
Der gotische Baustil
(s. Tafel X und
»Kölner
[* 14]
Dom« bei
Artikel
»Köln«)
[* 15] setzt im Grundplan an die
Stelle der halbkreisförmigen
Abschlüsse und
Apsiden die polygonalen, acht-, zehn- und mehreckigen und wählt einen konstruktiv homogenern Gewölbeplan,
worin nunmehr je ein kleineres, meist quadratisches Kreuzgewölbe des Seitenschiffs einem länglich rechteckigen Kreuzgewölbe
des Mittelschiffs entspricht und deren Gurtbogen und
Grate in dem bei gleicher
Höhe auch auf verschiedene
Spannweiten anwendbaren
Spitzbogen überwölbt werden.
Die Strebepfeiler treten an die Außenseiten der Umfangswand und setzen sich zum Teil über den Dächern der Seitenschiffe als freie Strebebogen bis zu den Strebepfeilern des erhöhten Mittelschiffs fort. Auch die Fenster- und Thüröffnungen werden fast durchweg mit dem Spitzbogen überdeckt und erstere mit meist aus geometrischen Motiven bestehendem Maßwerk [* 16] versehen. Die Gliederungen, Kapitäler und Basen der meist gegliederten Pfeilerschäfte erhalten mehr geometrische, mit Lineal und Zirkel beschriebene Profile, dagegen die zu ihrer Symbolisierung verwandten, dem Pflanzen- u. Tierreich entlehnten Mittel stets freiere, naturalistische Bewegung. Die Renaissance (s. Tafel XI, XII) greift zu den Formen und Konstruktionen des griechischen und vorzugsweise römischen Stils zurück und paßt dieselben ¶
mehr
den modernen Bedürfnissen, insbesondere auch des Privatbaues, an. Sie wendet die gerade und rundbogige Überdeckung oder auch beide zugleich an. Im Kirchenbau kommt auch die Kuppel zur Verwendung, mit welcher alsdann außer andern auch byzantinische Formen verbunden werden. Auf die edle, sogen. Frührenaissance folgt die Hochrenaissance als die Epoche der höchsten Blüte, [* 18] aus welcher sich die Spätrenaissance entwickelt, deren Ausläufer Barock-, Rokoko- und Zopfstil sind.
Die Gegenwart hat zu den Formen der klassischen, mittelalterlichen und Renaissancestile zurückgegriffen und wendet deren Planformen, Konstruktionen und Details teils rein, teils kombiniert an, bevorzugt jedoch den zur Lösung der verschiedenartigsten, die frühern an Dimension [* 19] übertreffenden Aufgaben des Profanbaues besonders geeigneten Renaissancestil, während die mittelalterlichen Stile, insbesondere der gotische, noch als die im Kirchenbau vorherrschenden anzusehen sind.
Durch die immer zahlreicher angewandten Eisenkonstruktionen hat die Architektur der Gegenwart ein neues, noch wenig durchgebildetes
Konstruktionselement erhalten, welches ihr bereits einen individuellen Charakter aufdrückt und ihr bei
allmählicher Durchbildung einen neuen, selbständigen Stil zuführen wird. Außer den vorgenannten Baustilen
haben sich einzelne
Bauweisen entwickelt, welche als Vermittelungsglieder derselben anzusehen sind, worunter insbesondere der zwischen dem romanischen
und gotischen Stil entwickelte den Namen des Übergangsstils erhalten hat, bei welchem sich der Rund- und Spitzbogen oft gleichzeitig
angewandt findet.
Ferner haben die genannten Hauptbaustile
nach dem Charakter der Länder, worin sie sich entwickelt haben, eine verschiedene
Ausbildung erfahren, z. B. der gotische Stil, bei welchem man einen deutsch-, französisch-, englisch- und italienisch-gotischen
Stil unterscheidet. Ausführliche Charakteristik der Baustile
enthält der Artikel »Baukunst« (s. d.).
Vgl. Rosengarten, Die architektonischen Stilarten (3. Aufl., Braunschw. 1874);
Lübke, Abriß der Geschichte der Baustile
(4. Aufl., Leipz. 1878);
v. Sacken, Katechismus der Baustile
(7. Aufl., das. 1882);
»Handbuch der Architektur« von Durm u. a., 2. Teil: »Die Baustile«
(Darmst. 1880 ff.).