Balneologische
Gesellschaft. Die zwölfte Versammlung der Balneologischen Gesellschaft fand 7.-10. März 1890 in Berlin statt. Der Vorsitzende, Professor Liebreich, eröffnete die erste Sitzung mit einem Bericht über die Hygiene in den Kurorten. Auf Veranlassung von Brehmer war eine Bäderkommission zusammengetreten, welche an sämtliche deutsche Kur- und Badeorte Fragebogen versandt hatte, deren Inhalt sich meist auf hygienische Einrichtungen in den Bädern bezog. Es sind 144 Fragebogen ausgefüllt an die Kommission zurückgelangt und zwar von 101 Bädern und 43 Kurorten. Im allgemeinen hat sich ergeben, daß die hygienischen Einrichtungen sich in Deutschland entwickelt haben wie in keinem andern Lande.
Manche Badeorte freilich, die aus spekulativer Sucht entstanden sind, entsprechen den zu stellenden Anforderungen nicht, und in einzelnen kleinern Orten herrschen unglaubliche Zustände. Am besten wäre es, wenn der Staat eintreten und jedem Kurort erst eine gewisse Approbation erteilen würde, bevor er als solcher sich aufthun dürfte. Vor allem bietet die Beschaffung der Nahrungsmittel den Kurgästen nicht die notwendige hygienische Garantie. In den meisten Badeorten fehlt eine Fleischkontrolle, die vor allen Dingen eingeführt werden müßte.
Ebenso fehlt die regelmäßige Untersuchung der Milch, auf die nicht minder Wert zu legen ist. Die Wohnungen müßten vor allem der ärztlichen Kontrolle unterstellt werden. Es ist vorgekommen, daß unmittelbar nach dem Tode eines Kranken die Leiche bei Nacht ohne Aufsehen fortgeschafft und das Zimmer ohne weiteres mit einem neuen Gast belegt wurde. Natürlich wird dadurch der Verbreitung von Infektionskrankheiten Thür und Thor geöffnet. Liebreich teilte mit, daß in einem Kurort 22 Proz. der Todesfälle bei den Einwohnern und 10 Proz. bei den Badegästen ihre Ursache in Infektionskrankheiten hatten.
Auch das Trinkwasser ist in den meisten Badeorten, namentlich in den Seebädern Norddeutschlands, derart beschaffen, daß ein gewissenhafter Arzt seine Patienten eigentlich nicht dahin schicken dürfte. Die Presse hat mit der Offenheit, die sie haben darf, die aber den Ärzten versagt ist, schon viel zur Abhilfe der Übelstände beigetragen. Aber wie der Staat darüber wacht, daß kein schlechtes Arzneimittel in den Handel komme, so müsse auch das Trinkwasser unter Schutz gestellt werden.
Auch Isolier- und Leichenhäuser zur Verhütung von Ansteckungen sind nicht in allen Badeorten vorhanden. Der Redner schloß etwa folgendermaßen: Wenn nun auch mancherlei Schäden in Bezug auf die hygienischen Einrichtungen zu Tage getreten sind, so können die Ärzte doch im allgemeinen die Kranken mit Beruhigung nach unsern Badeorten senden und brauchen nicht ausländische zu empfehlen. Schon das Zusammentreten der Bäderkommission hat wie ein Schreckschuß auf manche Badeorte gewirkt.
Einzelne haben durch Zuschriften an die balneologische Gesellschaft gebeten, ihnen die Mängel anzugeben, damit deren Beseitigung ins Werk gesetzt werden könne. Die Kommission wird sich aber auf Verhandlungen mit den einzelnen Verwaltungen nicht einlassen, sondern, sobald Klagen aus einem Kurort kommen, zunächst mit den dort praktizierenden Ärzten sich ins Einvernehmen setzen. Badeorte, welchen die Mittel fehlen, die geforderten hygienischen Einrichtungen zutreffen, sollen auch nicht Erholung suchende Leute anlocken. Den zweiten Vortrag hielt Zuntz - Berlin über die Wirkung des Gehens, Bergsteigens und
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andrer Muskelbewegungen auf den Stoffwechsel. Der Mensch braucht bei Bewegungen in der Horizontalen etwa die Hälfte Sauerstoff weniger als das Pferd, bei Steigbewegungen dagegen ist der Verbrauch der gleiche: beim Gehen arbeiten wir ökonomischer als bei andern Leistungen. So ergibt z. B. Arbeit am Ergostaten im Vergleich zur Geharbeit bei gleicher kilogrammetrischer Leistung, daß jene 0,33 mehr Sauerstoff erfordert als diese. Unter Berücksichtigung der Konstitution der einzelnen Individuen ist es möglich, den Sauerstoffverbrauch, resp. die Kohlensäureausscheidung in Äquivalente: Fett, Fleisch, Stärke, Rohrzucker, umzuwandeln.
Ist die Arbeitsleistung der betreffenden Konstitution angepaßt, so ergibt sich ein Gleichgewichtsverhältnis zwischen Verbrauch und Vorrat. Wird die Arbeitsanforderung aber zu hoch, so daß sich dyspnoische Zustände einstellen, so findet man entsprechend einen über die Vorräte des Körpers hinausgehenden Verfall stickstoffhaltiger Organe. Wie ausgezeichnet übrigens die menschliche Maschine eingerichtet ist, ergibt sich bei einem Vergleich mit der Dampfmaschine, welche etwa sechsmal soviel Brennmaterial als der Mensch für 1 Kilogrammeter Arbeit braucht.
Hierauf sprach Haupt - Soden über die Bedeutung der Erblichkeit der Tuberkulose im Vergleich zu ihrer Verbreitung durch den Auswurf. Er sucht auf Grund eigner Beobachtungen, eigner und fremder Statistik zu beweisen, daß für die meisten Fälle von Tuberkulose Erblichkeit nachzuweisen sei, wie z. B. in Soden selbst trotz der vielen dort weilenden tuberkulösen Kurgäste unter der Bevölkerung selbst nur selten Tuberkulose vorkommt. Er bringt dann noch zahlreiche Belege aus der Litteratur für die Möglichkeit einer direkten Vererbung der Tuberkulose, die analog der vererbten Syphilis lange Zeit latent bleiben kann. In ähnlichem Sinne sprach sich Römpler - Görbersdorf aus. Die jetzt herrschende übertriebene Furcht vor der Ansteckungsfähigkeit der Tuberkulose suchten die Vortragenden zu dämpfen, die Ansteckung ist sicher anzunehmen, aber sie trifft vorzugsweise nur erblich Belastete.
In der zweiten Sitzung des Kongresses sprach Kisch - Marienbad über Hirnhämorrhagie und Fettleibigkeit. Es gibt eine plethorische Fettleibigkeit, welche durch erhöhten Blutdruck, vollen, gespannten Puls und rote Gesichtsfarbe charakterisiert ist. Diese liefert die Hirnhämorrhagien. Nicht allein der erhöhte Blutdruck, sondern auch die Hirnhyperämie und Herzaufregung spielen dabei eine Rolle. Die wahrnehmbaren Symptome derselben dienen als Warnung. In einem Vortrag über Neurasthenie und Herzkrankheiten bespricht Schott - Nauheim die Herzsymptome der Neurastheniker und erinnert daran, daß sie auch von Verdauungsstörungen herrühren.
Eine gewisse Empfindlichkeit des Herzmuskels gestattet, durch Druck auf die Brustwand die Herzgrenzen zu bestimmen, auch konnte er an dem Einwärtsrücken der Herzspitze eine tetanoide Herzkontraktion konstatieren. Letztere wurde indes in der Diskussion auf zwei schnell aufeinander folgende Herzschläge zurückgeführt. Winternitz - Wien sprach über Wärmeregulierung und Pathogenese und suchte Traubes Fieberlehre zum Siege zu verhelfen. Marigliano hat mit Mossos' Plethysmographen konstatiert, daß dem Ansteigen der Temperatur eine Abnahme des Volumens der Glieder ebenso vorausgeht, wie das Anschwellen derselben dem Fieberanfall zuvorkommt. Es ist nicht mehr zu zweifeln, daß die Vasomotoren das Fieber erzeugen. Es gelang, die Bedeutung derselben für die Wärmeabgabe mit dem Kastenthermometer nachzuweisen, und durch entsprechende Hautreize konnte die Wärmeabgabe bis auf 70 Proz. gesteigert oder vermindert werden.
Zuntz - Berlin führte hierzu aus, daß auch er an eine andre Steigerung der Wärmeproduktion beim Fieber nicht mehr glaube als an die, welche bei Abkühlung der Haut reflektorisch durch unwillkürliche und willkürliche Muskelspannungen hervorgebracht wird. Marcus hielt einen Vortrag über Behandlung der Bleichsucht. Er warnt vor allem das gefährliche Alter vor Seebädern, dem Schwimmen im Süßwasser und dem Umherklettern in den Bergen; er bezeichnet die Behauptung, daß das Eisen den Magen verderbe, als übertrieben. Trotz Salzsäure und andrer Tonica sei es unentbehrlich. Auch Weißenberg - Kolberg bestätigte durch genaue vergleichende Beobachtungen die Schädlichkeit des Seebades. Ebenso sprach sich Jacob - Cudova aus, nach welchem die Wärme und zwar das sehr warme Moorhalbbad besonders durch Hebung der Dyspepsie wirksam sind.
In der dritten Sitzung empfahl Rosenbaum - Berlin die subkutane Anwendung von Silbersalzen gegen Rückenmarksschwindsucht. Er hat dabei alle wesentlichen Symptome schwinden sehen; freilich sei das Verfahren schmerzhaft, so daß die Kranken sich demselben gern entziehen. Jacob - Cudova rühmte ebenfalls die Anwendung der Silbersalze, doch zieht er kohlensaure Bäder vor. Winternitz - Wien warnt vor einer Verwechselung von arzneilicher Besserung mit Stillstand und freiwilligem Besserwerden und bemerkt, daß es Fälle gebe, welche bei jeder Behandlung sich rasch bessern.
Groedel - Nauheim hielt darauf einen Vortrag über nervöses Herzklopfen und sonstige, auf Innervationsstörung beruhende Herzaffektionen. Er gibt die Möglichkeit zu, verschiedene Unterarten des nervösen Herzklopfens zu unterscheiden, je nachdem sich die Erscheinungen mehr im Sinn einer Erregung des Sympathikus oder einer Lähmung des Vagus mit oder ohne Beteiligung der Vasomotoren zeigen. Im allgemeinen aber sei ein mehr einheitlicher Standpunkt richtiger, indem es sich um eine durch psychische Eindrücke abnorm leichte Störung des für gewöhnlich bestehenden Gleichgewichts der entgegengesetzten Innervationsfaktoren für die Herzbewegung handelt und um eine nicht normal rasche Rückkehr in den Gleichgewichtszustand, wenn derselbe gestört sei.
Bei der Tachycardie dagegen müssen tiefere funktionelle Verletzungen vorliegen, da die Störung des Gleichgewichtsverhältnisses oft ohne äußere Veranlassung eintritt und viel länger dauert, mitunter tagelang, ja mehrere Jahre permanent fortbestehen und selbst zum Tode führen kann. Jacob - Cudova sprach hierauf über die Symptomatologie und Pathogenese der Neuralgien. Er schildert einen stationären schmerzhaften Zustand der gesamten Haut und Muskulatur, welcher teils in Druckschmerz, teils in spontanen Schmerzen besteht und auf krampfhafter Anämie beruht; ein ganz ähnlicher Zustand ist auf die Fußsohle beschränkt.
Dann gehört hierher Ischias, welche auf Ödem der Fußsohle, bez. des ganzen Beins beruht;
ferner eine anfallsweise auftretende, mit Hyperämie einhergehende Gelenkneuralgie;
eine Hysteralgie, welche auf Ödem des Uterus beruht, und eine solche, welche mit Hyperämie und Hypertrophie verbunden ist und wehenartig auftritt;
endlich eine Angina pectoris, welcher ein heftiger Angiospasmus des linken Armes und der linken Brusthälfte vorausgeht, und der mit heftigem Schmerz in den angiospastischen Regionen verknüpft ist.
Die hyperämischen Neuralgien beruhen auf
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voraufgegangener längerer Anämie; der Schmerz tritt hier unter einem kompensatorischen Exzeß der Vasodilatatoren ein, während er beim Angiospasmus nur unter teilweiser Wiederherstellung der plötzlich unterbrochenen Zirkulation eintritt. Die chronische oder akute Anämie versetzt die Nerven in einen unvollkommen Ernährungszustand, welcher mit teilweiser oder sogar übermäßiger Wiederherstellung des Blutlaufs sich als Erregung, als Schmerz dokumentiert. Zum Schluß bespricht Boas - Berlin die modernen Grundsätze der Diätetik bei chronischen Verdauungskrankheiten; er zeigt das Ungenügende der alten Diagnose (Beschaffenheit der Zunge etc.) und empfiehlt die individuelle Prüfung jedes Kranken mit Magenpumpe, Probemahlzeit und Expression; nach Ermittelung der Fähigkeit, verschiedene Nahrungsmittel zu verdauen, wird das quantitative Verhältnis derselben bestimmt.