Titel
Bakterĭologie,
die Lehre [* 2] von den Bakterien (s. d.). Sie betrifft nur ein kleines Gebiet der botan. Wissenschaft, hat sich aber wegen ihrer besondern Bedeutung nicht nur für die Pflanzenkunde, sondern namentlich auch für die Pathologie der Infektionskrankheiten neuerdings in sehr kurzer Zeit zu einer selbständigen Wissenschaft entwickelt.
I. Geschichtliches. Seit Athanasius Kircher 1646 Würmer [* 3] in Pestbeulen gefunden und darauf die Theorie gegründet hatte, daß manche Krankheiten durch Eindringen solcher Würmer verursacht würden, ist der Gedanke eines Zusammenhangs zwischen Krankheiten und kleinsten im Organismus schmarotzenden Lebewesen, den übrigens schon röm. Ärzte gehabt hatten, aus dem ärztlichen Ideenkreis nicht wieder geschwunden. Derselbe wurde besonders gefördert durch die Verbesserung des Mikroskops durch Leeuwenhoek (1695)), welche diesen großen Forscher zur Entdeckung sehr feiner, beweglicher oder unbeweglicher Stäbchen und Körner in verschiedenen Medien, darunter namentlich auch im Zahnschleim, führte.
Schon damals bestand die Vorstellung, daß jeder specifischen Krankheit ein specifischer Parasit entspreche. Aber die Fülle der positiven und negativen Beobachtungen, für deren Kritik kein bestimmtes System Anhaltspunkte oder Vergleichsobjekte bot, war so groß, die Zahl der möglichen Deutungen so reich, und diese Deutungen so widerspruchsvoll, daß der Kampf der Anschauungen über die pathol. Bedeutung der fraglichen Gebilde viele Phasen erlebt und selbst nach den gewaltigen Errungenschaften der neuesten Zeit noch keinen Abschluß erreicht hat. Die Vereinigung dieser pathol. Fragen aber mit denen der Biologie der Mikroorganismen hat das Interesse für die letztere teilweise immer von neuem geweckt, teilweise ihr Studium verwirrend kompliziert. Erst die methodisch durchgeführte Systematik der einzelnen Formen hat die Möglichkeit einer sichern Verwertung derselben für die Ätiologie der Infektionskrankheiten begründet.
In der systematischen Einteilung der niedrigsten Lebewesen leisteten seit Leeuwenhoeks Entdeckung Hervorragendes:
1) Freiherr von Gleichen, genannt Rußwurm (1778); er beschreibt 21 Arten von Infusionstierchen (so genannt aus der Methode, ¶
mehr
sich das Untersuchungsmaterial durch Aufgüsse [Infusa] auf Heu, Schlamm u. s. w. herzustellen).
2) Otto Friedrich Müller in Kopenhagen [* 5] (1786): erste sehr exakte Systematik der Infusorien;
10 Arten von Monas, 81 von Vibrio, darunter Bacillus, Spirillum u. s. w.;
vorzügliche Abbildungen.
Sein Werk «Animalcula infusoria fluviatila et marina» (Hanau [* 6] 1786)) ist die Grundlage aller spätern Forschungen geworden. Er rechnet alle beobachteten Infusorien zum Tierreich, wobei namentlich die ausführlichen Beobachtungen der Bewegungsformen maßgebend gewesen sein mögen; einzelne Formen aber schienen ihm bereits Übergänge zwischen Tier und Pflanze zu repräsentieren.
3) Christian Gottfried Ehrenberg, er erweitert in seinem Werke «Die Infusionstierchen als vollkommene Organismen» (Lpz. 1838) das System durch Hinzufügung zahlreicher neuer Arten, deren physiol. Thätigkeit durch Fütterungsversuche mit Farbstoffkörnchen bestimmt wird. Das wesentliche Einteilungsprincip für die Unterarten sind die morpholog. Verhältnisse und die Biegsamkeit der Leiber; so wurden Bakterium (geradlinig, unbiegsam), Vibrio (geradlinig, biegsam), Spirillum (gekrümmt, unbiegsam) und Spirochäte (gekrümmt, biegsam) unterschieden; die Hauptarten Monas und Vibrio werden nach der Fortpflanzungsform (Fädenbildung durch Aneinanderreihen) unterschieden. Alle Formen gelten als Tiere.
4) Nägeli; er faßt 1849 alle Organismen, welche keinen Farbstoff besitzen, keinen Sauerstoff produzieren und in ihrer Existenz auf die Gegenwart höherer zusammengesetzter tierischer oder pflanzlicher Stoffe angewiesen sind, weil sie nicht den Kohlenstoff der Kohlensäure assimilieren, als Schizomyceten zusammen, trennt sie von den eigentlichen Pflanzen und rechnet sie zu den Pilzen, läßt aber auch die Möglichkeit ihrer tierischen Natur offen.
5) Perty (1852); er betont wegen der Ähnlichkeit [* 7] mancher Infusorien mit niedersten Algenformen die Berechtigung, diese (Spirillina und Bacterina) zu den Pflanzen zu rechnen.
6) Hallier (1866); er behauptet die intimste Verwandtschaft zwischen Bakterien und Pilzen, und zwar derart, daß die einzelnen Formen (Morphen) der Schimmelpilze aus einzelnen Kokkenformen, je nach dem Nährboden, auswachsen; als Zwischenform entwickeln sich Vegetationsreihen der sich teilenden Kokken.
7) Ferdinand Cohn; er rechnet die Bakterien zu den niedersten Algen
[* 8] und ordnet sie, in scharfem Gegensatz
zu Hallier, in ein System nach morpholog. und physiol. Gesichtspunkten, indem er jeder Einzelform volle Selbständigkeit zuerkennt,
wenn auch morpholog. Gleichheit bisweilen die Identität zweier verschiedener Arten vortäusche. Er unterscheidet vier Tribus:
Sphäro-(Kugel-) und Mikro-(Stäbchen-)Bakterien
, beide in Zooglöa als Zellfamilien vegetierend, Dermo-(Faden-) und Spiro-(Schrauben-)Bakterien
(beide ohne Zooglöa). Nach der Funktion finden sich chromogene (farbbildende), zymogene (fermentbildende) und pathogene
(krankheiterzeugende) Bakterien. Später erweiterte er das System, indem er die Bakterien mit den Algen vereinigt als Schizophyten
zusammenfaßte und je nach ihrer Anordnung (frei, in Zooglöa oder in Fäden) als Glöogenen und Nematogenen mit zahlreichen
Unterarten schied.
8) de Bary («Vergleichende Morphologie und Biologie der Pilze»,
[* 9] Lpz. 1884) und Hueppe («Die Formen der Bakterien», Wiesb. 1880);
sie vervollkommnen das Cohnsche System durch die Einführung der Fruktifikationsform als oberstes
Teilungsprincip; je nach
der Entwicklung der Sporen innerhalb des Zellleibes (Endospore) oder aus ganzen Zellen (Arthrospore) werden die
einzelnen Arten getrennt. Daß die rein morpholog. Principien des Cohnschen Systems nicht vollständig maßgebend sein könnten,
bewiesen zahlreiche Beobachtungen über die Formdifferenzen der Einzelbakterien
wie ihrer Zooglöen je nach ihren äußern
Lebensbedingungen und Wachstumsstadien (Pleomorphismus, schon von Dujardin betont); immerhin sind diese Differenzen so unbedeutend
und so genau bestimmbar, daß sie die Benutzung des morpholog. Systems, das vielfach, z. B. von Nägeli,
auf das lebhafteste angegriffen wurde und gegenwärtig noch wird, zur Trennung der Unterarten als maßgebend gestatten.
Die pathologische Forschung hat, von den Einzelfragen der Systematik absehend, sich meist mit der übersichtlichen Gruppierung der Bakterien in Kokken-, Stäbchen- und Schraubenformen als monomorphen Formen gegenüber der Gruppe der pleomorphen begnügt, natürlich ohne dem botan. System damit Eintrag zu thun.
In der Erforschung der biologischen Eigenschaften der Bakterien treten neben den bereits genannten noch folgende Namen besonders hervor.
1) Spallanzani (1776) widerlegt experimentell (durch Abtöten der Keime durch Kochen) die weitverbreitete, namentlich von Needham vertretene Anschauung, daß die niedersten Organismen durch Urzeugung (Generatio aequivoca) entständen, d. h. nicht regelmäßig von belebten frühern Generationen, sondern auch von unbelebten Stoffen abstammen könnten.
2) Perty findet (1852) die Fortpflanzung durch Sporenbildung (Gattung Sporonema) und damit die Verwandtschaft mit den sporenbildenden niedern Pflanzen.
3) Schwann und Cagniard de Latour (1837) entdecken gleichzeitig die Bedeutung des Hefepilzes für die Gärung.
4) Pasteur (seit 1857) verfolgt die Gärungsbildung und findet für Milchsäure-, Weinsäure-, Buttersäuregärung specifische Pilze; entdeckt, daß der Buttersäurepilz anaerob ist. Er findet ferner Vibrionen als Ursache der Fäulnis.
5) Schröter und Cohn finden im Anfang der siebziger Jahre die Specifität der einzelnen farbstoffbildenden (zuerst von Fuchs [* 10] beschriebenen) Pilzarten. Cohn beobachtet weiterhin das Auswachsen der Sporen zu Bakterien direkt sowie auch deren Widerstandsfähigkeit. Gleiche Resultate erhält Robert Koch (1876) bei dem Bacillus des Milzbrandes.
6) Paul Bert und Pasteur finden die Widerstandsfähigkeit der Sporen gegen komprimierten Sauerstoff, welcher die ausgewachsenen Bakterien abtötet.
7) Robert Koch lehrt durch seine Kulturmethoden die Differenzen der Zooglöabildungen und sonstigen Wachstumseigenschaften kennen und ermöglicht durch dieselben das eingehende biologische Studium der Einzelarten, auf welchem die Anschauungen der neuesten Zeit im wesentlichen beruhen.
8) Panum, Nencki, Schmiedeberg, Brieger u. a. lehren die Eigenschaften der von den Bakterien erzeugten Stoffe (namentlich alkaloidartiger Stoffe, der sog. Ptomaine, Toxine u. s. w.) durch chem. Reindarstellung kennen.
9) Nägeli, Büchner, Zopf, Pasteur, Toussaint und viele andere beobachten die Umzüchtung einzelner Arten in gewissem Grade durch Variation der Lebensbedingungen (Nährboden, Licht, [* 11] Temperatur); für die pathogenen Pilze wurde diese Umzüchtungslehre deshalb besonders wertvoll, weil die Erfahrung über die Abschwächung der ¶
mehr
Virulenz zu ihrer praktischen Verwendung im Sinne der Jennerschen Kuhpockenimpfung als Schutzimpfung (Milzbrand, Hundswut, Diphtheritis u. s. w.) führte.
Die Kenntnis der Beziehungen zwischen Bakterien und Krankheiten wurde durch zahlreiche Forscher gefördert.
1) Antonius Plenciz (1762) stellt eine sehr klare, der gegenwärtigen durchaus konforme Theorie der Infektionskrankheiten auf.
2) Donné bringt 1837 die Infektionsidee, nachdem sie lange geruht hatte, resp. bekämpft worden war, durch Beobachtungen am Schankereiter von neuem zu allgemeiner Beachtung.
3) Bassi entdeckt 1837 als Ursache einer miasmatisch-kontagiösen Krankheit der Seidenraupen einen Pilz. [* 13]
4) Henle («Pathologische Untersuchungen», 1840) legt theoretisch auf das klarste die Notwendigkeit der Annahme eines contagium vivum dar, eine glänzende Leistung wissenschaftlicher Überlegung.
5) Lemaire (Apotheker in Paris) [* 14] entdeckt 1860–65 die bakterienvernichtenden Eigenschaften der Carbolsäure und betont die Bedeutung derselben für die Wundkrankheiten.
6) Lister gründet auf diese Thatsache sein System der antiseptischen Wundbehandlung (1867–68). 7) Davaine (1850) und Pollender (1849) finden die Milzbrandbacillen und erklären sie für die specifische Krankheitsursache (Davaine 1863). 8) Zahlreiche Befunde von Mikroorganismen bei Krankheiten erheben von Recklinghausen [* 15] (in pyämischen Herden), Oertel (Diphtherie), Weigert (Pocken), Klebs (Wundkrankheiten, 1870), Birch-Hirschfeld, Billroth.
9) Hüter baut die Monadentheorie aus, als Erklärung für alle Infektionen, Fieber u. s. w.
10) Obermeier entdeckt 1873 die Recurrensspirille, deren Entwicklung, wie hier zum erstenmal nachweisbar war, in unmittelbarer Beziehung zum Fieberablauf stand.
11) Robert Koch beweist durch Tierimpfungen in längern Reihen unumstößlich die ursächliche Beziehung der Milzbrandbacillen zum Milzbrand und erklärt die Dauerhaftigkeit der Sporen für bedeutungsvoll für die Ansteckung (1876). 12) Pasteur führt die Septichämie auf Vibrionen zurück; so viel Vibrionenspecies, so viel Formen specifischer Septichämien.
13) Koch entdeckt specifische Infektionskrankheiten der Mäuse und Kaninchen, [* 16] die von specifischen Bakterien abhängen; Differenz der Krankheitsdisposition der einzelnen Tierspecies (1878). Entdeckung des Tuberkelbacillus (1882) sowie des Cholerabacillus (1883). Seitdem ist durch die von ihm eingeführten Untersuchungsmethoden die Thatsache der Beziehung specifischer Bakterien zu specifischen Krankheiten unumstößlich geworden. Nur über den Modus dieser Beziehung herrschen noch Zweifel.
14) Panum, Schmiedeberg, Brieger u. a. stellen die Gifte rein dar, durch deren Produktion die Bakterien pathogen wirken. Diese höchst wichtige Darstellung befindet sich jetzt noch in den Anfängen.
Die Geschichte der Methodik der Bakterienuntersuchung knüpft hauptsächlich an folgende Namen an:
1) Freiherr von Gleichen-Rußwurm, Fütterungsversuche der Bakterien mit Farbstoffkügelchen;
2) Spallanzani (Sterilisation durch Kochen), Schulze, Schwann, von Dusch (Sterilisation der Luftkeime durch Glühen, Durchleitung durch Schwefelsäure [* 17] oder Wasserfilter);
3) Pasteur (Sterilisationsapparat: Kochflasche mit langem, stark gebogenem, fein ausgezogenem Hals, in welchem die Luftkeime liegen blieben; Pasteursche Nährflüssigkeit);
4) Dujardin, Verbesserung des Nährbodens und damit der Bakterienentwicklung durch bestimmte Salze (oxalsaures Ammoniak u. a.);
5) Davaine, systematische Tierimpfungen mit Milzbrandblut;
6) Hallier, Kultur- und Isolierapparate;
7) Klebs, Scheidung der Bakterien von Bakterienflüssigkeit durch Filtration durch Thonzellen; Untersuchung der Kulturen direkt mikroskopisch in besonders gebauten Kammern, Züchtung auf festem Nährboden (Hausengallerte) mit fraktionierter Kultur (Überimpfung);
8) H. Hoffmann, Benutzung der Kartoffel als Nährboden;
9) Weigert, Nachweisung der Bakterien im Gewebe [* 18] durch charakteristische Färbungen (seit 1875);
10) Robert Koch, Benutzung der Tierimpfung als sicherstes Mittel zur Gewinnung von Reinkulturen. In Vervollkommnung der Weigertschen Färbungen findet er die isolierte Färbung der Bakterien im Gewebe;
ferner die Verbesserung des Mikroskops durch den sog. Abbéschen Apparat, welcher das Farbenbild im Schnitt besonders zu studieren gestattet;
durch Photogramme der mikroskopischen Bilder schafft er Vergleichsbilder, die von jeder subjektiven Auffassung frei sind;
endlich erfindet er die Methoden der isolierten Züchtung auf durchsichtigem festem Nährboden in Verbindung mit der vorgängigen Sterilisation derselben durch Wasserdampf sowie die Züchtungsmethoden für anaerobe Bakterien.
Hiermit war das wesentliche
Princip der modernen bakteriolog.
Forschung und damit die Grundlage ihrer Fortschritte gegeben, die eben auf der früher
noch nicht erreichten Kenntnis der Einzelarten und ihrer specifischen Lebensthätigkeiten beruhen.
Die Kochsche Schule hat zahlreiche Vertreter der Bakteriologie
ausgebildet. Gegenwärtig stehen in der Reihe der
Bakteriologen
an der Spitze: Robert Koch, Pasteur, Cohn, Zopf, E. Klebs, Flügge, Hueppe, Buchner, Baumgarten, A. Pfeiffer, Löffler,
Gaffky.