Titel
Auswanderung
,
das offene und gesetzliche wie auch das heimliche Verlassen des
Landes, welchem man
durch
Geburt oder festen
Wohnsitz angehört, in der Absicht, unter völligem Aufgeben des bisherigen Vaterlandes und der staatsbürgerlichen
und heimatlichen
Rechte sich in einem neuen Vaterland anzusiedeln. Hiernach unterscheidet sich die Auswanderung
vom länger dauernden
Reisen dadurch, daß bei ihr, sei es infolge förmlicher Entlassung aus dem Staatsverband, oder sei
es wegen über eine bestimmte Zeitdauer hinaus fortgesetzten ununterbrochenen Aufenthalts im
Ausland, die seitherige
Staatsangehörigkeit
verlorengeht. So wird die deutsche
Staatsangehörigkeit durch einen zehnjährigen Aufenthalt in der
Fremde eingebüßt.
Hiergegen kann man sich jedoch schützen dadurch, daß man sich bei einem Reichskonsulat immatrikulieren läßt. Die genannte Frist von zehn Jahren kann durch Staatsvertrag auf fünf Jahre herabgesetzt werden, wenn die Staatsangehörigkeit inzwischen im fremden Land erworben wurde (sogen. Bancroft-Verträge, genannt nach dem frühern nordamerikanischen Gesandten Bancroft in Berlin, [* 2] der zuerst einen solchen Vertrag mit dem Norddeutschen Bund abgeschlossen hatte).
Die Auswanderer beabsichtigen, sich im neuen
Heim eine dauernde
Existenz zu gründen. Hierdurch unterscheiden
sie sich von den
Emigranten, unter welchen politische Flüchtlinge verstanden werden, die im
Ausland eine vorläufige Zufluchtsstätte
suchen. In der angegebenen Begrenzung wäre die Auswanderung
aus Kolonialstaaten nach deren Besitzungen eine Auswanderung im
eigentlichen
Sinne nicht zu nennen, vielmehr eine
Kolonisation; dennoch schließen wir auch diese Art von
in unsre Betrachtung ein, weil nur ein Zusammenfassen aller
Richtungen einen klaren Einblick in das
Getriebe
[* 3] einer überall
regsamen Völkerbewegung geben kann.
In älterer Zeit, in welcher die Einzelwanderung durch Hemmnisse rechtlicher Art und durch mangelnde Verkehrsentwickelung
(Schwierigkeit des
Reisens, Unkenntnis fremder
Länder) erschwert war, kamen Auswanderungen
mehr in der
Form von Massenwanderungen vor. Das Mutterland gab einen Teil seiner Bewohner zur
Gründung von
Kolonien ab, besiegte
Völker
wurden von den Siegern nach einer andern Gegend verpflanzt
(Juden), ein
Volk wurde durch ein andres aus seinen
Wohnsitzen verdrängt,
oder es wanderte, um anderwärts ein besseres
Heim zu finden
(Völkerwanderung, eine derselben ähnliche
Erscheinung weist die moderne Zeit im »Trekken« der
Boers in Südafrika
[* 4] wie in der
Wanderung der
Mormonen von
Nauvoo nach
Utah
auf).
Beispiele erzwungener Auswanderung
aus späterer Zeit sind die Verjagung der
Mauren aus
Spanien,
[* 5] der französischen
Protestanten unter
Ludwig XIV., der
Salzburger unter
Erzbischof
Firmian. In der neuern Zeit ist der Besuch fremder
Länder durch
Erweiterung der persönlichen Freiheitsrechte (Aufhebung der
Hörigkeit, Gewährung freien Reiserechts, Wegfall einer großen
Zahl polizeilicher Reiseerschwerungen) sowie durch eine großartige Verkehrsentwickelung außerordentlich erleichtert, und
es trägt infolgedessen die moderne Auswanderung
fast ausschließlich den
Charakter der freiwilligen Einzelwanderung.
Die
Motive, welche zum Aufgeben der
Heimat veranlassen, können sehr verschiedene sein: religiöse, politische, ökonomische.
Während die beiden ersten in früherer Zeit mächtige Triebfedern waren, ist in der Jetztzeit fast ausschließlich der
Wunsch
nach Verbesserung der wirtschaftlichen Verhältnisse maßgebend. Die
Stärke
[* 6] der Auswanderung
wird hiernach zunächst bedingt durch
die Schwierigkeit, sich in der
Heimat eine befriedigende
Existenz zu schaffen. So kann eine länger dauernde
Notlage ganze
Scharen von Auswanderern über die
Grenze treiben.
Hatte doch
Irland nach 1840 in kurzer Zeit über 30 Proz. seiner
Bevölkerung
[* 7] durch Auswanderung
verloren. Allerdings ist die
Dichtigkeit
der
Bevölkerung nicht ausschließlicher
Maßstab
[* 8] für die Schwierigkeit des
Erwerbs, der unter Umständen
durch Zunahme der
Bevölkerung geradezu erleichtert werden kann. Auch in dünn bevölkerten
Ländern kann infolge von
Unfruchtbarkeit
des
Bodens, unzureichender
Entwickelung von
Industrie,
Handel und
Verkehr oder auch von besondern Rechtsgestaltungen
(Bildung von
Fideikommissen und Latifundien) die
Ernährung eine sehr schwierige sein, wie denn in
Deutschland
[* 9] die Auswanderung
aus
Mecklenburg
[* 10] und
Pommern
[* 11] eine stärkere ist als aus der
Rheinprovinz.
[* 12] Dann hängt die Auswanderung
ab von den Aussichten, welche sich außerhalb
des Heimatslandes bieten. Einen
Beleg dafür gibt die Geschichte der wirtschaftlichen Zustände
Nordamerikas in den letzten
Jahren. Ganz in dem
Maß, wie sich dieselben mehr oder wenig günstig gestalteten,
¶
mehr
ist die Ziffer der Einwanderer aus Europa
[* 14] gestiegen oder gefallen. Von großem Einfluß auf die Auswanderung
ist die ganze geschichtliche
Entwickelung eines Volks. So zeichnet sich die kinderreiche germanische Rasse durch einen traditionellen Wandertrieb aus, während
der größte Teil der Slawen zwar zum Wandern innerhalb der Grenzen
[* 15] des eignen Landes geneigt genug ist,
zum Auswandern sich aber nur schwer entschließt. Von den romanischen Völkern sind die seßhaftesten die Franzosen, während
der Italiener wieder leichter sein Vaterland verläßt.
Die deutsche Auswanderung
nach Osten, d. h. nach Rußland, Ungarn
[* 16] und Siebenbürgen, wurde angeregt durch die Herrscher jener Länder,
welche menschenleere Gebiete zu bevölkern und ihre halbbarbarischen Unterthanen durch deutsche Kultur
auf eine höhere Stufe zu heben gedachten. Die deutsche Auswanderung nach Westen, namentlich nach Nordamerika,
[* 17] wurde ursprünglich veranlaßt
durch politische und religiöse Bedrückung, durch Kriegs- und Hungersnot. Die große Hungersnot 1816-17 hob die bisher auf
wenige Tausende beschränkte Auswanderung plötzlich auf 20,000 Seelen.
Dann sank letztere wieder, bis die Reaktionsperiode der 30er Jahre eine neue Steigerung brachte, die 1847 ihren Kulminationspunkt erreichte. Einen plötzlichen Sprung machte die Auswanderung abermals 1852, gelangte 1854 zu einer früher nicht annähernd dagewesenen Ziffer (127,694), um dann wieder rasch zu sinken, bis sie infolge des amerikanischen Bürgerkriegs 1861 auf die niedrigste Stufe (30,939) herabging. Die Beendigung dieses Kriegs ließ die Auswanderung schnell steigen, einen noch mächtigern Anstoß gab der Krieg von 1866, während der von 1870 bis 1871 ein schnelles Nachlassen zur Folge hatte. Kaum aber war der Krieg beendet, so hob sich die Auswanderung wiederum, bis sie 1872 das Maximum von 125,650 erreichte. Die auch Amerika [* 18] heimsuchenden Krisen hemmten den Auswanderungsstrom von neuem, bis der wunderbare wirtschaftliche Aufschwung der Union 1880 denselben zu einer alles früher Dagewesene überbietenden Mächtigkeit anschwellte (s. unten).
Die britische Auswanderung hat ihren Grund zwar zum Teil in ähnlichen Verhältnissen gehabt, zuerst in religiöser Unterdrückung, Hungersnot (1846); vornehmlich aber ist sie gefördert worden durch den britischen Kolonialbesitz [* 19] und durch die mit Nordamerika bestehende Stammesverwandtschaft. Seit 1863 sank die britische Auswanderung nur einmal (1877) unter 100,000. Nicht absolute Bevölkerungsdichtigkeit, wohl aber das Unvermögen einer sich schneller als andre mehrenden Volkszahl, unterstützt durch große Vertrautheit mit dem Meer, veranlaßt die skandinavischen Völker zur Übersiedelung nach überseeischen Ländern.
Und wenn die Schweiz [* 20] und Italien [* 21] jährlich verhältnismäßig hohe Kontingente zur Auswandererziffer liefern, so ist der Grund bei den einen wohl in dem höher entwickelten Unternehmungsgeist, bei den andern in einer gewissen Beengtheit und dadurch geschaffenen mißlichen Lage zu suchen. Österreich-Ungarn [* 22] hat noch weite Striche innerhalb seiner Grenzen zu bevölkern, noch mehr Rußland, bei welchem die Auswanderung sogar durch die Einwanderung übertroffen wird, während Frankreichs geringe Bevölkerungszunahme fast vollständig Raum findet in der durch stetige Kapitalbildung erweiterten und verbesserten Werkstatt des Volkslebens. Diese günstigen Bedingungen haben dem industriereichen Belgien [* 23] sogar schon seit Jahren eine beträchtliche Zuwanderung verschafft. Der beschränkte Raum der Heimat sendet alljährlich Scharen chinesischer Auswanderer nach allen Richtungen ins Ausland, wo diese mäßigen und arbeitsamen Menschen in erfolgreiche, ja bedrohliche Konkurrenz mit europäischer Arbeit treten.
Wie die beiden Faktoren: Volksvermehrung und die Möglichkeit, den Anforderungen zu genügen, welche eine steigende Bevölkerung an das Leben stellt, die Auswanderung beeinflussen, mag nachstehende Tabelle zeigen:
Geburtenüberschuß und Auswanderung in neun Hauptgebieten.
Staaten | Geburtenüberschuß | Auswanderung | |||||||
---|---|---|---|---|---|---|---|---|---|
Beobachtungsperiode | Zahl der Jahre | Mittl. Bevölkerungsziffer der Periode | Wirkliche Zahl für alle Jahre der Periode | Jährlich auf 1000 Einw. | Beobachtungsperiode | Zahl der Jahre | Wirkliche Zahl für alle Jahre der Periode | Jährlich auf 1000 Einw. | |
Großbritannien u. Irl. | 1872-82 | 11 | 33627000 | 4773946 | 13.89 | 1872-82 | 11 | 2142458 | 6.90 |
Deutschland | 1872-82 | 11 | 43767000 | 5927458 | 12.63 | 1872-82 | 11 | 923655 | 1.93 |
Italien | 1872-81 | 10 | 27630000 | 2020789 | 7.31 | 1876-82 | 7 | 255852 | 1.14 |
Schweden | 1871-81 | 11 | 4367000 | 587901 | 13.48 | 1871-81 | 11 | 148493 | 2.94 |
Norwegen | 1871-81 | 11 | 1833300 | 279225 | 14.23 | 1872-82 | 11 | 126914 | 6.35 |
Österreich | 1870-80 | 11 | 21270000 | 1818001 | 7.77 | 1870-80 | 11 | 77605 | 0.33 |
Dänemark | 1871-80 | 10 | 1877000 | 224300 | 11.95 | 1872-82 | 11 | 54258 | 2.56 |
Schweiz | 1871-80 | 10 | 2757000 | 201618 | 7.31 | 1872-82 | 11 | 53714 | 1.73 |
Frankreich | 1873-81 | 8 | 36887000 | 952488 | 3.23 | 1872-77 | 6 | 31692 | 0.13 |
Aus dieser Aufstellung geht hervor, daß die relative Stärke der deutschen Auswanderung vielfach überschätzt wird. Namentlich wird dies klar, wenn wir die drei Teile des britischen Königreichs gesondert betrachten. Denn in der Periode 1871-82 nimmt Deutschland unter sieben Staaten erst den sechsten Platz ein. Es stellt sich nämlich für jene Zeit die mittlere Zahl der Auswanderer, auf 1000 der mittlern Bevölkerung berechnet, bei Irland auf 1101, Norwegen [* 24] 635, Schottland 531, England 438, Dänemark [* 25] 256, Deutschland 193 und Schweiz 173. Deutschland stellt sich ferner für 1871-81 zu Schweden wie 170:294, für 1872-81 zu Portugal wie 169:318.
Daß die den Staaten, zu denen sie sich wendet, in der Regel einen Vorteil bringt, ist leichtverständlich. Zur Auswanderung entschließen sich vorwiegend jüngere und kräftigere Elemente. So war in den 70er Jahren das Verhältnis des männlichen Geschlechts zum weiblichen bei den Auswanderern = 126:100, bei der Reichsbevölkerung nur 103:100, und es kamen von je 1000 Auswanderern der Jahre 1880 und 1881:
solche von | bei den Auswanderern | bei der ganzen Bevölkerung |
---|---|---|
0-20 Jahren | 427 | 443 |
20-40 Jahren | 472 | 293 |
40 Jahren und mehr | 101 | 264 |
In der neuern Zeit wandern mehr ganze Familien aus als früher. Infolgedessen ist der Prozentanteil des weiblichen Geschlechts und der Kinder gestiegen. Dann kommen die Auswanderer auch nicht ganz mittellos in das fremde Land. Kapp berechnet, daß die Vereinigten Staaten [* 26] allein von Deutschland ¶
mehr
in 50 Jahren 500 Mill. Thlr. bar und 1751 Mill. Thlr. an Kapitalwert gewonnen haben, und daß Europa täglich rund 1 Mill. Doll. durch seine Auswanderer an die Union abgibt. Nach andern Schätzungen hat Deutschland in diesem Jahrhundert durch seine Auswanderer an Vermögen und fahrender Habe 1½, in dem an die Auswanderer aufgewendeten Erziehungskapital 2, zusammen also 3½ Milliarden Mk. eingebüßt. Diese Summen beruhen wohl aus allzu hohen Schätzungen. Denselben stehen die Summen gegenüber, welche durch Einwanderung gewonnen werden.
Das Erziehungskapital ist freilich verloren, oder es hätten die Eltern der Auswanderer ohne den Erziehungsaufwand ein bequemeres Leben führen können. Nachdem nun aber einmal die Kinder erzeugt und erzogen sind, fragt es sich nur, ob ihre Kräfte anderweit hätten wirtschaftlich verwandt werden können. Ist dies nicht der Fall, wären sogar die Auswanderer der Gesellschaft zur Last gefallen, so ist der durch die Auswanderung entstehende Verlust an Erziehungskapital nicht weiter zu beklagen.
Wird zwar die augenblickliche Bevölkerungszahl durch die Auswanderung gemindert, so wird oft, und zwar gerade bei den wanderlustigsten Nationen, die entstandene Lücke rasch wieder ausgefüllt. Einen positiven Gewinn kann die Auswanderung dem Mutterland dadurch bringen, daß sie die Grundlage einer dauernden Handelsverbindung bildet. Dies wird insbesondere dann leicht der Fall sein, wenn die Auswanderer sich Ländern zuwenden, in welchen eine verwandte Nationalität mit gleicher Sprache, [* 28] Sitte und Kultur vorherrscht, oder wenn sie auch nur unter fremden Völkern durch festes, selbstbewußtes Auftreten und wachsende Zahl ihrer Nationalität mehr und mehr Geltung zu verschaffen wissen. Dies haben insbesondere die Briten verstanden und dadurch ihre Weltmachtstellung über alle Meere ausgebreitet, während leider die Deutschen in der Regel nach kürzerm oder längerm Verweilen in den sie umgebenden fremden Nationalitäten gänzlich aufgegangen sind.
Staatliche und private Thätigkeit.
Die Auswanderungspolitik des Staates trägt heute einen wesentlich andern Charakter als noch vor 100 Jahren. Standen der Auswanderung im Mittelalter vielfach Rechte Dritter im Weg (Hörigkeit), so suchte man sie später, insbesondere in der Blütezeit des Merkantilsystems, durch Verbot und Abgaben (Gabella emigrationis) zu beschränken, um dem Land eine größere Volkszahl zu erhalten. Vielfach wurde die heimliche Auswanderung, insbesondere aber das Anwerben und Verleiten zur Auswanderung, mit strengen Strafen, selbst mit »Leibes- und Lebensstrafen«, bedroht (vgl. Bevölkerung).
Heute dagegen ist die in den Kulturländern ganz freigegeben, sofern nicht durch dieselbe die gegen den Staat zu erfüllenden Pflichten (Militärpflicht) verletzt werden. Der Grundsatz der Auswanderungsfreiheit ist im deutschen Bundes- (jetzt Reichs-) Gesetz vom ausdrücklich anerkannt. Der von einem Lande des Reichs in das andre (gewöhnlich Überwanderung genannt) werden überhaupt keine Schwierigkeiten in den Weg gestellt. Auch die Entlassung aus dem Reichsverband darf in Friedenszeiten niemand versagt werden, der seinen Pflichten als Angehöriger des Militär- oder des Beamtenstandes genügt hat.
Aktiven Militärpersonen ist die Entlassung unbedingt zu versagen, andern kann dieselbe nur unter gewissen Voraussetzungen erteilt werden. Heimliche Auswanderung solcher Personen bedrohen die § 140 u. 360, Abs. 3 des Reichsstrafgesetzbuchs mit Strafe. Ebenso ist die geschäftsmäßige Verleitung zum Auswandern durch Vorspiegelung falscher Thatsachen und durch Täuschung strafbar (§ 144). Die heutige Auswanderungspolitik ist mehr darauf gerichtet, im Interesse der Auswanderer selbst geeignete Maßregeln zu ergreifen durch gesetzliche Bestimmungen über die Thätigkeit von Auswanderungsagenten, Anstellung von Beamten zur Beaufsichtigung des Auswanderungswesens an Seeplätzen, Schutz der Ausgewanderten in fremden Ländern etc. Dazu tritt noch in der neuern Zeit das Bestreben, den Auswandererstrom dahin zu leiten, wo er dem Mutterland ersprießliche Dienste [* 29] leisten könne (vgl. Kolonien).
In den Bereich der Staatsthätigkeit gehört auch die Führung einer geordneten Auswanderungsstatistik, wie sie auf Grund der Listen von Auswandererschiffen, dann auf Grund ausgestellter Pässe und Entlassungsurkunden aufgestellt werden kann. Allerdings muß, da Reisende und Auswanderer nicht immer streng zu scheiden sind, auf volle Genauigkeit verzichtet werden, wie denn auch die in Nordamerika geführten Listen mit den europäischen keineswegs immer übereinstimmen.
Preußen [* 30] nahm schon 1847 die Auswanderungsangelegenheit in die Hand, [* 31] dann 1848 die deutsche Nationalversammlung, 1850 die deutsche Union, wodurch ein besonderes Auswanderungs- und Kolonisationsamt eingesetzt werden sollte. Mit der Union scheiterte auch dieser Plan. Jetzt beschäftigt sich die Regierung des Deutschen Reichs insoweit mit der Auswanderung, daß sie einen Reichskommissar bestellt, dem die Überwachung der deutschen Auswandererschiffe zum Zweck der Erfüllung der vorgeschriebenen Regulative unterstellt ist.
Auf den Gewerbebetrieb der Auswanderungsunternehmer und -Agenten finden die Bestimmungen der deutschen Gewerbeordnung keine Anwendung. Die für denselben erforderliche gesetzliche Regelung bleibt der Landesgesetzgebung überlassen, welche dann auch an der meist schon früher eingeführten Konzessionspflicht festgehalten hat. Die private Thätigkeit hat sich der Auswanderungsfrage in vielen Ländern zugewandt. Von den seit 1843 gegründeten Gesellschaften sind zu nennen: der Auswanderungsverein in Düsseldorf [* 32] (1843), dann (1848) Vereine zu Dresden [* 33] u. Leipzig, [* 34] der Nationalverein für deutsche Auswanderung zu Frankfurt [* 35] a. M. mit Zweigvereinen in Darmstadt, [* 36] Reutlingen, [* 37] Karlsruhe, [* 38] Limburg, [* 39] Wiesbaden, [* 40] der Verein zur Zentralstation deutscher Auswanderung und Kolonisation zu Berlin (1849), der Verein zur geistlichen Fürsorge für die deutschen Auswanderer in den westlichen Staaten der Union (1852). Bestimmte Gebiete faßten ins Auge: [* 41] der Deutsche [* 42] Adelsverein für Texas (1844), der Preußische Verein für die Mosquitoküste, der Bülowsche für Zentralamerika, [* 43] der Stuttgarter für Chile, [* 44] ein Verein für Westaustralien, der Kolonisationsverein für Südbrasilien (1849) in Hamburg, [* 45] der von allen jenen allein noch besteht. In neuester Zeit haben der Zentralverein für Handelsgeographie, der Westdeutsche Verein, der Münchener Verein sich mit der Auswanderungsfrage wenigstens insoweit beschäftigt, als sie die deutsche in geeignete Gebiete zu lenken strebten. Auch in den Häfen, in welchen sie landen, finden die Auswanderer vielfach Schutz und Beihilfe durch gemeinnützige Vereine. In New York besteht zum Schutz derselben eine eigne offizielle Einwanderungskommission, welcher auch die Vorsitzenden der deutschen und der irländischen Gesellschaft angehören.
Länder mit überwiegender Auswanderung.
Deutschland hat schon seit den frühsten Zeiten Auswandererzüge über seine Grenzen nach Osten und Südosten entsandt. So wurden die östlichsten ¶
Im Meyers Konversations-Lexikon, 1888
Auswanderung.
Die zu Anfang der 80er Jahre zu Tage getretene Anschwellung der europäischen Auswanderung ließ in den Jahren 1885 und 1886 merklich nach, hob sich aber in den beiden darauf folgenden Jahren wieder recht bedeutend. Am deutlichsten zeigt sich dies bei der Auswanderung nach den Vereinigten Staaten, welche regelmäßig weit über 90 Proz. der gesamten europäischen Auswanderung aufnahm. Die Auswanderung dorthin betrug aus
1880-88 Durchschn. | Proz. | 1887 | 1888 | Proz. | |
---|---|---|---|---|---|
Großbritannien | 80324 | 17.3 | 105472 | 100756 | 20.1 |
Irland | 67612 | 14.5 | 72599 | 71761 | 14.4 |
Deutschland | 149516 | 32.2 | 111256 | 106924 | 21.4 |
Norwegen u. Schweden | 59737 | 12.9 | 69208 | 65949 | 13.2 |
Italien | 26928 | 5.8 | 46180 | 47422 | 9.5 |
Österreich-Ungarn | 31179 | 6.7 | 39824 | 41665 | 8.3 |
Rußland | 20363 | 4.5 | 25748 | 37333 | 7.4 |
Dänemark | 8516 | 1.9 | 9300 | 8756 | 1.7 |
Niederlande | 5139 | 1.2 | 5276 | 5457 | 1.1 |
Schweiz | 8231 | 1.9 | 6560 | 7619 | 1.5 |
Frankreich | 4697 | 1.1 | 5580 | 6869 | 1.4 |
Zusammen: | 462242 | 100.0 | 501323 | 506213 | 100.0 |
Demnach hat die Auswanderung nach den Vereinigten Staaten 1888 in allen europäischen Staaten zugenommen, nur Deutschland und die Schweiz machen eine Ausnahme. Und diese Zunahme ist eingetreten trotz der sehr scharfen Maßnahmen, welche die amerikanische Union getroffen hat, um sich des Zuzugs eines ¶
mehr
mittellosen Proletariats zu erwehren. Dagegen zeigt der deutsche industrielle Arbeiterstand nur sehr vereinzelt die Neigung, sein verhältnismäßig auskömmliches, den Gegenstand einer arbeiterfreundlichen Reformgesetzgebung bildendes Dasein mit dem rücksichtslosen Ausbeutungssystem, wie es jenseit des Ozeans gang und gäbe ist, zu vertauschen.
Die überseeische deutsche und fremde Auswanderung, welche im Durchschnitt der Jahre 1880-84 allein aus deutschen Häfen 204,158 Personen betragen hatte, fiel danach sehr schnell, sie betrug:
1885: | 155147 |
1886: | 166474 |
1887: | 172462 |
1888: | 187057 . |
Die deutsche Auswanderung des letzten Jahrs belief sich dagegen auf 98,568 Seelen, wovon 52,974 über Bremen, [* 47] 25,402 über.vamburg, 2295 über Stettin [* 48] und andre Preußische Häfen, 14,057 über Antwerpen, [* 49] 3787 über Rotterdam [* 50] und Amsterdam [* 51] und 53 über französische Häfen gingen. Von der Gesamtzahl kamen 63,103 auf Preußen, 12,249 auf Bayern, [* 52] 6445 auf Württemberg, [* 53] 3860 auf Baden, [* 54] 2297 auf Sachsen, [* 55] 2220 auf Hessen, [* 56] 1821 auf Hamburg etc. Was die Ziele der deutschen Auswanderer betrifft, so ist eine erhebliche Änderung außer für die Vereinigten Staaten nur insofern zu verzeichnen, als die Auswanderung nach Australien [* 57] gegen 1883 auf ein Viertel sank und auch die Auswanderung nach dem übrigen Amerika beträchtlich zurückging, während die Auswanderung nach Asien [* 58] zunahm. Es wanderten aus nach:
Jahr | Vereinigte Staaten | Brasilien | Übriges Amerika | Australien | Afrika | Asien |
---|---|---|---|---|---|---|
1884 | 139339 | 1253 | 2063 | 666 | 230 | 35 |
1885 | 102224 | 1713 | 2331 | 604 | 294 | 72 |
1886 | 75591 | 2045 | 1398 | 534 | 191 | 116 |
1887 | 95976 | 1152 | 1555 | 500 | 302 | 227 |
1888 | 94264 | 1129 | 1922 | 539 | 331 | 230 |
Diese Zahlen geben freilich die thatsächliche Höhe der Auswanderung nicht an, da allein in die Vereinigten Staaten 1888 nach offiziellen amerikanischen Aufzeichnungen 106,924 Deutsche einwanderten. Da aber solcher Mangel auch den Aufzeichnungen früherer Jahre anhaftet, so bleibt die Thatsache der Verminderung der deutschen Auswanderung für die letzten Jahre unerschüttert.
Man hat die gesamte überseeische Auswanderung seit Anfang der 20er Jahre auf 5,1 Mill. Menschen berechnet, und so müßte denn bei der Gesundheit der von Deutschen aufgesuchten Länder und dem bekannten Kinderreichtum deutscher Familien eine nach vielen Millionen zählende deutsche Bevölkerung im Ausland sich vorfinden. Thatsächlich ist dies aber nicht der Fall. Denn von den ausgewanderten Deutschen bleibt nur ein verhältnismäßig kleiner Teil der deutschen Nationalität erhalten.
Schon die ersten Einwanderer gehen nicht selten in dem fremden Volk auf, während dies bei den Kindern fast immer, bei den Enkeln sicher der Fall ist. Offiziell werden aber die im Land Gebornen regelmäßig diesem zugerechnet. Es kann daher ein seit langer Zeit von Deutschen aufgesuchtes Laud eine sehr starke deutsche Bevölkerung haben, ohne daß diese in den offiziellen Listen erschiene, während ein seit kurzem zum Auswanderungsziel gewählter Staat seine volle oder nahezu volle Quote des Deutschtums in seinen Listen verzeichnet. Die veröffentlichten Nachweise über die Zahl der Deutschen im Ausland geben daher bei weitem nicht die volle Zahl unsrer im Ausland lebenden Landsleute an, doch erlauben sie unter Berücksichtigung der vorstehend angedeuteten Verhältnisse immerhin einen Schluß auf die wahre Stärke des Deutschtums in den einzelnen Staaten. Nach den letzten amtlichen Erhebungen beträgt die Zahl der Deutschen in:
Ver. Staaten (1880) | 1690410 |
Eur. Rußland (1869) | 983471 |
Kanada (1881) | 254319 |
Schweiz (1880) | 95262 |
Brasilien (1872) | 45829 |
Australien und Neuseeland (1881) | 42129 |
Niederlande (1879) | 42026 |
Rumänien (1888) | 41500 |
Großbritannien (1881) | 40371 |
Belgien (1880) | 34196 |
Dänemark (1880) | 23152 |
Kaukasien (1869) | 8876 |
Italien (1881) | 5234 |
Sibirien (1869) | 5060 |
Argentinien (1869) | 4997 |
Chile (1875) | 4678 |
Schweden (1880) | 3289 |
Bulgarien (1887) | 2245 |
Uruguay (1883) | 2125 |
Finnland (1880) | 1800 |
Peru (1876) | 1672 |
Hawai (1884) | 1600 |
Norwegen (1875) | 1471 |
Venezuela (1882) | 1171 |
Spanien (1877) | 952 |
Ägypten (1882) | 948 |
Island (1881) | 927 |
Paraguay (1888) | 740 |
Japan (1885) | 318 |
Griechenland (1879) | 314 |
Russ.-Zentralasien(69) | 236 |
Tonga (1884) | 63 |
Korea (1889) | 31 |
Diese Tabelle ist allerdings nicht vollständig. Es fehlen darin das Kapland, in welchem eine beträchtliche Anzahl Deutscher wohnen, sowie Natal und die Burenrepubliken, Ost- und Westafrika, in welchen wir Kolonien besitzen, ebenso das Kaiser Wilhelms-Land auf Neuguinea, wo eine große Anzahl deutscher Beamten arbeiten, sowie Mexiko, [* 59] Portugal, China [* 60] u. a. Indessen handelt es sich bei diesen Gebieten im ganzen doch nur um einige Tausende. Wir dürfen aber nicht vergessen, daß die oben angegebenen Zahlen entweder nur auf in Deutschland Geborne sich beziehen oder auf deutsche Reichsangehörige. So stellt die oben für die Vereinigten Staaten angegebene Zahl keineswegs die dort lebenden Deutschen dar, welche sich noch als solche fühlen und weder ihre Muttersprache aufgegeben, noch ihr altes Stammland vergessen haben.
Will man die Umgangssprache als bestimmend ansehen, so hat man nach Ratzel mindestens 4, nach andern sogar 7-8 Millionen als Deutsche zu rechnen, in denen sich das Bewußtsein der Zugehörigkeit zu dem alten Stamm noch erhalten hat. Für Rußland haben Rittich und Wenjukow Berechnungen der verschiedenen Nationalitäten des Zarenreichs gemacht. Allein die oben für das europäische Rußland angegebenen Zahlen werden von Kennern der Verhältnisse als viel zu niedrig angesehen. Es wird behauptet, daß hier mindestens 1,250,000 Deutsche leben.
Bekanntlich ist das Deutschtum sehr stark in Polen (400,000), bei Saratow (260,000), in den deutschen Kolonien bei Petersburg [* 61] (60,000), am Schwarzen Meer, in Transkaukasien, Wolhynien, in den Ostseeprovinzen (200,000) vertreten. Daß es freilich an allen diesen Punkten der jetzt herrschenden Russifizierungswut erliegen wird, ist eine sicher vorauszusehende Thatsache. Was über die Vereinigten Staaten gesagt ist, darf, wenn auch in beschränkterm Maß, ebenfalls für Kanada gelten.
Bei der Schweiz sind nur die deutschen Reichsangehörigen vermerkt worden; will man, die Umgangssprache als maßgebend gelten lassen,so hat man nach dem Zensus von 1888 als Deutsche 2,092,530 gelten zu lassen. Für Brasilien [* 62] dürfen wir bei demselben Verfahren 150-200,000, für Australien mit Neuseeland 100,000 als Deutsche in Rechnung stellen. Daß die Zahl 40,371 für Großbritannien [* 63] viel zu niedrig gegriffen ist, wird klar, wenn man erfährt, daß 1881 zwar in London [* 64] 21,966 Deutsche gezählt wurden, hier aber mindestens 50,000 Deutsche in den allerverschiedensten Lebensstellungen wohnen. Ähnlich steht es mit andern Gebieten, so wird die Zahl der Deutschen in Argentinien 1882 auf 50,000 veranschlagt. Will man aber zu einer Schätzung sämtlicher Deutschen auf der Erde kommen, ohne auf ihre politische Zugehörigkeit Rücksicht zu nehmen, so darf man ¶
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Österreich-Ungarn nicht vergessen, wo nächst dem Deutschen Reich das Deutschtum trotz aller Angriffe der andern Nationen des polyglotten Kaiserreichs noch immer weitaus am stärksten dasteht. Nach dem letzten Zensus von 1880 zählte man in Österreich [* 66] 8,008,864, in Ungarn 1,798,373, also im ganzen Kaiserreich 9,807,237 Deutsche. Mit Hinzurechnung dieses großen Gebiets und der Schweiz wird man unter Berücksichtigung der nach allen Gegenden der Welt seit langen Zeiten gerichteten deutschen Auswanderung gewiß nicht fehlgehen, wenn man die Zahl aller Deutschen auf der Erde rund zu 66-67 Mill. Individuen veranschlagt, eine Zahl, die sich auf 70½ Mill. erhöht, sobald man die Niederdeutschen in Holland mit seinen jetzigen und ehemaligen Kolonien, in Belgien und in Frankreich hinzurechnet.