Aussatz
(Lepra Arabum, Elephantiasis Graecorum, Zaraath bei
Moses,
Leuke bei den Griechen,
Morphea bei den
Ärzten des
Mittelalters, auch
Miselsucht bei den alten Geschichtschreibern,
Krimsche Krankheit), eine der ältesten und ekelerregendsten,
vorzeiten weitverbreiteten
Volkskrankheiten, herrschte im
Altertum in
Asien,
[* 2]
Afrika
[* 3] und
Europa
[* 4] und hatte besonders im
Mittelalter
auch in
Deutschland
[* 5] sehr um sich gegriffen. Jetzt
noch ist der in
Asien,
Afrika,
Amerika,
[* 6]
Ozeanien
[* 7] verbreitet, während er bereits
seit
Jahrhunderten fast aus allen Teilen
Europas verschwunden ist und nur noch in einzelnen
Distrikten Rußlands und
Skandinaviens,
auf
Island
[* 8] und der
Iberischen Halbinsel, in der
Provence und an den italienischen
Küsten, in
Griechenland
[* 9] und auf den
Inseln des
Mittelmeers
[* 10] regelmäßig vorkommt, nirgends aber in solcher Verbreitung wie in
Norwegen,
[* 11] wo man noch
1862: 2119 Aussätzige bei nicht ganz 2 Mill. Einw. zählte. In
Deutschland kommen
Fälle von Aussatz
nur sehr vereinzelt vor.
Moses schon kannte die
Krankheit sehr genau. In
Griechenland und in
Italien
[* 12] zu
Ciceros
Zeiten scheint sie häufig
vorgekommen zu sein.
Später, im 7. und 8. Jahrh., war sie unter dem deutschen Völkerstamm der
Langobarden sehr verbreitet,
und in
Bremen
[* 13] wurden schon im 9. und in
Würzburg
[* 14] im 11. Jahrh.
Hospitäler für Leprose gegründet. Die allgemeinere
Verbreitung des Aussatzes
in
Europa im
Mittelalter darf mit
Recht den
Kreuzzügen zugeschrieben werden. Sie erreichte ihren Höhepunkt
im 13. Jahrh. und verschwand mit dem
Schluß des 16. Jahrh. fast ganz aus der
Reihe der chronischen
Volkskrankheiten in Mitteleuropa.
Der Aussatz
ist vielfach mit andern
Krankheiten der
Haut
[* 15] zusammengeworfen worden, namentlich mit der
Radesyge
in
Norwegen, dem
Pellagra und dem Scarlievo in
Italien, mit syphilitischen, lupösen und skrofulösen
Hautkrankheiten
[* 16] sowie mit
der eigentlichen
Elefantiasis. In neuerer Zeit ist die Kenntnis des Aussatzes
durch drei norwegische
Ärzte, Daniellsen, Boeck
und Armauer
Hansen, und ganz vorzugsweise durch die
Studien von
Virchow gefördert worden. Der Aussatz
ist durchaus
keine auf die
Haut beschränkte
Krankheit, obschon an dieser die krankhaften Veränderungen am augenfälligsten sind, sondern
betrifft auch die
Nerven
[* 17] und andre
Gewebe
[* 18] und kommt selbst an den innern
Organen des
Körpers vor.
Der Aussatz
ist eine allgemeine Erkrankung des
Organismus, wobei bedeutende Veränderungen der
Haut am meisten
in die
Augen fallen. Die mangelhafte
Hautpflege in früherer Zeit und in der niedern Volksklasse trug natürlich viel dazu
bei, die Hauterkrankung nur noch auffälliger zu machen. Man unterscheidet zwei Hauptformen des Aussatzes:
die knotige und
die glatte oder anästhetische Form. Die knotige Form hat zuweilen einen schnellen, in der
Regel aber
einen langsamen Verlauf, die mittlere Dauer ist etwa 9½ Jahre. Sie
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beginnt in einem Vorläuferstadium mit Mattigkeit, Neigung zum Schlaf, Frösteln, Appetitlosigkeit; unter herumziehenden Schmerzen entstehen kleine, rundliche, braunrote Flecke auf der Haut, welche anfangs auf Fingerdruck verschwinden, um nach einiger Zeit wiederzukehren. Nach einigen Jahren werden die Flecke konstant und mehr bräunlich, der Kranke fühlt sich dann wieder etwas besser. Gewöhnlich erscheinen diese Flecke zuerst in der Augenbrauengegend und auf den Handrücken, schwellen dann an und bilden einzeln stehende, rundliche, harte Knoten, welche über die Haut hervorragen.
Dabei entstehen meist fieberhafte Erscheinungen mit allgemeiner Abgeschlagenheit. Die Knoten wachsen, breiten sich über Gesicht, [* 20] Arme und Beine und einen großen Teil des Körpers aus, auf dem sie überall sich finden können mit Ausnahme des behaarten Kopfes, der Fußsohle und der Handfläche. Zuletzt erweichen diese Knoten, brechen auf und bilden, am meisten um die Gelenke herum, Geschwüre, welche eine übelriechende Flüssigkeit absondern, die sich zu einer braunen, dicken Kruste eindickt.
Unterdessen sind die meisten Lymphdrüsen angeschwollen, wie am Hals, in der Achselhöhle, in der Leistengegend. Ähnliche Knoten bilden sich auf den Schleimhäuten des Mundes, des Schlundes, in der Nase [* 21] und im Kehlkopf; [* 22] die Stimme wird klanglos, rauh, das Atmen behindert. Das Auge [* 23] wird zuweilen ebenfalls angegriffen und zerstört, die Nase sinkt ein. Im Innern des Körpers leiden die Organe zugleich mit;
am Bauchfell, im Magen [* 24] finden sich erweichte Knoten;
die Gekrösdrüsen sind angeschwollen und innerlich oft erweicht;
ja, Rippenfell und Herzbeutel können mit Knoten besetzt sein, während die Lungen stets frei bleiben.
Endlich sind auch die Nerven und Unterleibsgefäße mit knotiger Masse erfüllt. Zuletzt finden wässerige Ergießungen in die Hirnhöhlen statt, und die Patienten sterben unter Erscheinungen von Bewußtlosigkeit. Einen stets langsamern Verlauf nimmt die glatte oder anästhetische Form, deren mittlere Dauer auf 18½ Jahre berechnet wird. Es gehen derselben die gleichen allgemeinen Vorläufererscheinungen voraus, aber anstatt der rotbraunen Flecke schießen in plötzlichen Ausbrüchen große Blasen, besonders an Armen und Beinen, auf.
Die Blasen bersten und hinterlassen oberflächliche Geschwüre und diese runde, weiße, in der Haut etwas vertiefte Narben. Jetzt folgt eine größere oder kleinere Pause, in der der Kranke sich wohl befindet, bis sich an irgend einem Teil des Körpers eine übermäßige schmerzhafte Empfindlichkeit der Haut einstellt, begleitet von Schlaflosigkeit, Unwohlsein und Abmagerung. Diese Schmerzhaftigkeit kann lange Zeit dauern; wenn sie verschwindet, ist aber auch das Gefühl mit erloschen.
Diese Gefühllosigkeit dehnt sich aus und wird zuletzt so vollkommen, daß der Kranke sich an den gefühllosen Stellen brennen kann, ohne es zu spüren. Wenn das Gesicht gefühllos wird, können die Lippen und die Augenlider nicht geschlossen werden; die Lider stülpen sich nach außen um, die Hornhaut trübt sich, und es entsteht Blindheit. Ergreift die Gefühllosigkeit die Geschlechtsorgane, so erlischt der Geschlechtstrieb, was bei der knotigen Form nicht beobachtet wird, wenn auch Knoten an diesen Teilen sich bilden.
Verbreitet sich die Anästhesie auf die Extremitäten, so vermindert sich auch die Bewegungsfähigkeit, Finger und Zehen stehen
krumm und unbeweglich. Endlich entstehen nach einem höhern Grad von Unbeweglichkeit brandige Geschwüre auf der Fußsohle,
die Knochen
[* 25] werden brandig, und einzelne Glieder
[* 26] fallen ab. Dabei waltet gewöhnlich
sehr heftiges Fieber
ob, dem die Leidenden erliegen. Diese letztere Form des Aussatzes
hat man als verstümmelnden Aussatz (Lepra articulorum s. mutilans)
bezeichnet, weil die Glieder in den Gelenken gleichsam abgesetzt werden.
Die Verstümmelung ist die Folge von Entzündungen, welche in den gefühllosen Teilen vor sich gehen. Zuweilen verlieren die
Kranken Hände und Füße, Nase und Augen, so daß gewissermaßen nur Kopf, Rumpf und rohe Stümpfe von den Extremitäten übrigbleiben.
Ärztliche Beschreibungen des Aussatzes
mangeln aus früherer Zeit bis zum 16. Jahrh. fast vollkommen;
meist müssen die Mitteilungen darüber den Chronikschreibern und Dichtern entnommen werden. Von hohem Interesse ist ein
von Virchow aufgefundenes Bild des ältern Holbein
[* 27] in der Pinakothek zu München,
[* 28] welches die heil. Elisabeth darstellt, wie sie,
von der Wartburg heruntersteigend, die Aussätzigen speist und tränkt. Vier Personen tragen hier deutliche Zeichen des Aussatzes
an sich.
Von alters her hat man an die Ansteckungsfähigkeit des Aussatzes
geglaubt und deshalb schon früh die
Absonderung der Aussätzigen von Staats wegen angeordnet, welche daher auch vorzugsweise Sondersieche hießen. Diese Annahme
der Kontagiosität des Aussatzes
veranlaßte deshalb auch schon sehr bald die Einrichtung von Aussatzspitälern (Léproseries,
Maladreries, Meselleries, Lazzaretti, Sondersiechenhäusern), meist an abgelegenen Teilen der Städte oder außerhalb derselben
vor den Thoren. Im nördlichen Deutschland waren sie fast alle dem heil. Georg geweiht und wurden daher
St. Georgs- oder St. Jürgenspitäler genannt.
Ihre Zahl war eine sehr bedeutende. Die meisten deutschen Leproserien werden im 13. und 14. Jahrh. zum erstenmal erwähnt, die ältesten fallen in die Zeit der letzten Kreuzzüge, an denen die Deutschen fast gar keinen Anteil nahmen. Außer diesen größern Anstalten gab es noch vereinzelte »Feldhütten« zur Unterbringung einzelner, den Landgemeinden angehöriger Siechen. Ob ein Mensch aussätzig war oder nicht, wurde von vereidigten »Beschauern« entschieden; in Holland besaßen einzelne Kapellen ein Privilegium dafür, das viel Geld eintrug.
Wer für aussätzig erklärt wurde, erhielt ein schriftliches Zeugnis und eine besondere Kleidung, gewöhnlich ein schwarzes Gewand mit bestimmten Abzeichen nebst einem Hut [* 29] mit breitem weißen Bande. Dazu trugen die Leprosen eine hölzerne Klapper, um ihre Annäherung zu erkennen zu geben, und einen Stock, womit sie die Gegenstände, die sie begehrten, berührten. Waffen [* 30] zu tragen, war ihnen verboten. In Frankreich wurden sie für bürgerlich tot erklärt, durften öffentliche Orte gar nicht besuchen, nicht erben, noch etwas erwerben, so daß die armen Leidenden oft, zur Verzweiflung getrieben, sich gegen die Bewohner der Städte empörten, dafür aber mit den härtesten Strafen, selbst Todesstrafen, belegt wurden.
Dagegen war den Aussätzigen gestattet, zu betteln und in der Welt herumzuziehen. In den Leproserien waren sehr komplizierte Hausordnungen eingeführt, die im ganzen allenthalben viel Übereinstimmendes hatten und nur in einzelnen unwesentlichen Punkten voneinander abwichen. Die Frauen und Männer waren getrennt, bei Strafe des Verlustes ihrer Pfründe sollten die Aufgenommenen keusch leben, jede Gemeinschaft zwischen Sonnenuntergang und -Aufgang sollte aufhören, kein Siecher durfte ohne Gefährten aus dem Haus gehen oder gar über Nacht aus dem Haus bleiben, mit einer gesunden oder siechen Frau sprechen etc. Auch sollten sich die Kranken aller lärmenden Vergnügungen ¶
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enthalten. Die für sie bestimmten Kapellen hatten einen abgesonderten Platz, der nur durch eine kleine Öffnung mit der übrigen
Kirche zusammenhing; das Abendmahl wurde denselben am Werkeltag in ihrer »verordneten« Kapelle gereicht. Das Heiraten war den
Sondersiechen ganz untersagt, und Pippin schon hatte den Aussatz
757 als Ehescheidungsgrund aufgestellt mit
der Erlaubnis zur Wiederverheiratung für den gesunden Teil. Diese letztern Angaben deuten darauf hin, daß man schon vor
alters an die Kontagiosität und an die Erblichkeit des Aussatzes
glaubte.
Während aber letztere nicht bezweifelt werden kann, sieht man gegenwärtig die Krankheit nicht mehr als ansteckend an. Sie wird übrigens häufiger ererbt, als daß sie spontan entsteht. Daniellsen und Boeck nehmen nach Untersuchungen, welche dieselben an 213 Individuen im St. Jürgenhospital zu Bergen [* 32] angestellt, an, daß die Krankheit bei 185 ererbt und nur bei 28 spontan entstanden sei. Im J. 1882 hat die Untersuchung der Lepraknoten durch Hansen und Neißer stäbchenförmige Bakterien in denselben ergeben, welche mutmaßlich als die nächsten Vermittler des Kontagiums anzusehen sind und dem Aussatz seine Stellung unter den Infektionskrankheiten anweisen. Das Alter, in welchem der Aussatz gewöhnlich zuerst ausbricht, ist das zweite Lebensjahrzehnt; er zeigt sich dann am meisten zwischen 20-30 Jahren. Nach dem 60. Jahr ist die Krankheit von den genannten Forschern niemals beobachtet worden.
Die Behandlung des Aussatzes bezog sich neben den prophylaktischen bereits genannten Maßregeln der Isolierung und Verhinderung der Fortpflanzung und erblichen Übertragung von jeher hauptsächlich auf die Diät, auf Hautpflege durch Bäder, die mit allerlei Zusätzen von aromatischen und andern Stoffen versetzt wurden, auf Einreibungen und Überschläge von erweichenden und zerteilenden Mitteln, auf Verbände der Geschwüre mit balsamischen, reizenden Salben.
Innerlich wurden die verschiedensten Mittel gereicht, aber, wie es scheint, mit sehr geringem Erfolg. Der Volksglaube hoffte alles von der Wirkung übernatürlicher Mittel, so namentlich von einem unmittelbaren Eingreifen Gottes, wie zahlreiche Legenden bezeugen, und von dem Blut unschuldiger Kinder: höchste Reinheit sollte höchste Unreinheit heilen. Die bekannteste hierher gehörige Legende ist der »Arme Heinrich« Hartmanns von Aue. Neuere Schriftsteller rühmen als Mittel gegen den den Gebrauch von Jodkalium bei guter, kräftiger Nahrung.
Vgl. Hensler, Vom abendländischen Aussatz im Mittelalter (Hamb. 1794);
Sprengel, Beiträge zur Geschichte der Medizin, Bd. 1, St. 1, S. 220 (Halle [* 33] 1795);
Häser, Lehrbuch der Geschichte der Medizin und der epidemischen Krankheiten, Bd. 2 (3. Aufl., Jena [* 34] 1880).
Über die norwegische Spedalskhed vgl. Daniellsen und Boeck, Traité de la Spédalskhed ou Elephantiasis des Grecs (mit Atlas, [* 35] Par. 1847); die historischen Abhandlungen in Virchows »Archiv«, Bd. 18-22: »Zur Geschichte des Aussatzes und der Spitäler, besonders in Deutschland«, und Virchow, Krankhafte Geschwülste, Bd. 2 (Berl. 1864).