Athena
(in epischer Poesie Athene, Athenaie, Pallas Athene, im attischen Dialekt auch Athenaia oder Athenaa, von den Römern der altital. Minerva [s. d.] gleichgesetzt), griech. Göttin, die wie die germanische mit ihr ursprünglich wesensgleiche Walkyre ihrer Naturbedeutung nach für eine Göttin der Wetterwolke und des daraus hervorspringenden Blitzes zu halten ist. Ganz offenkundig tritt diese ihre Grundbedeutung noch in dem Mythus von ihrer Geburt hervor.
Danach verschlang Zeus seine erste Gemahlin Metis, als sie noch mit der Athena schwanger war, und gebar dann diese selbst aus seinem Haupte, welches ihm Prometheus oder Hephaistos mittels eines Beiles spaltete, wie es die Darstellung im Ostgiebel des Parthenon in Athen schilderte. Athena aber sprang in leuchtender Waffenrüstung mit hochgeschwungenem Speere und schon mit der Ägis (s. d.) angethan aus dem Haupte ihres Vaters, indem sie lauten Schlachtruf erschallen ließ. Als Ort der Geburt wird gewöhnlich der Tritonfluß, den man sich im äußersten Westen dachte und später in Libyen und anderwärts lokalisierte, angegeben.
Davon hieß die Göttin Tritogeneia. In dieser Geburtssage erscheint die gewitterschwangere Wolke in verschiedenen Bildern: bald als das Haupt des schwangern Gewittergottes Zeus, bald als Ägis;
der Blitz, der die Wolke spaltet, als spaltendes Beil oder als blitzende Lanze;
der Donner endlich als furchtbarer Schlachtruf.
Der Tritonfluß aber im äußersten Westen, der wohl ursprünglich mit dem Okeanos identisch ist, weist auf das westl. Meer hin, dem in der Regel die Gewitterwolken entsteigen. Eine deutliche Beziehung zum Gewitter verrät auch die Sage vom Kampfe der Athena gegen die Giganten (s. d.). Noch deutlicher tritt die Gewitterbedeutung der in der Sage von ihrem Kampfe mit der Gorgo (s. d.) hervor, die am besten als Gewitterwolke zu verstehen ist. Als Erlegerin dieses Ungeheuers galt Athena vorzugsweise in Attika und wohl auch in Tegea, während nach argivischer Sage Perseus (s. d.) unter ihrem Beistande die Medusa tötete.
Als Blitzgöttin erscheint Athena endlich auf macedon. Münzen, die sie in der Linken den Schild hebend, in der Rechten den Blitz schwingend darstellen, sowie in der Sage von Bellerophon, den sie die Bändigung und Zügelung des Pegasos, d. h. des geflügelten Donnerrosses lehrt. Auch ihre beiden Hauptattribute, die Eule und die Schlange, scheinen sich auf A.s Bedeutung als Gewittergöttin zu beziehen. Die Eule (glaux) war ihr wohl wegen ihrer Augen (daher Athena Glaukopis) geheiligt, die Schlange aber ist Symbol des Blitzes.
Da in den Mythen der meisten indogerman. Völker das Gewitter als ein Kampf der Götter gegen furchtbare Dämonen erscheint, so sind alle Gewittergottheiten zu Kriegsgöttern geworden. So auch Athena, die bereits in der Ilias die Rolle der vornehmsten Gottheit des Krieges spielt und einen höchst charakteristischen Gegensatz einerseits zur weibischen Aphrodite, andererseits zu dem wütenden Ares bildet. Als kriegerische Göttin steht Athena im Trojanischen Kriege auf der Seite der Griechen gegen die Trojaner; doch rächt sie nach der Eroberung Trojas an dem griech. Heere schwer den Frevel des Aias
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s. d.) an Kassandra. Ihren Lieblingen hilft sie und verleiht ihnen den Sieg, indem sie ihnen nicht bloß Mut und Stärke, sondern auch jene Besonnenheit und Klugheit einflößt, ohne die der Sieg keinen Bestand hat. So ist Athena zuletzt, namentlich in Athen, zur Personifikation des Sieges, zur Athena Nike (s. d.) geworden. Von ihren sonstigen hierher gehörigen Beinamen sind die wichtigsten: Alalkomene (die Wehrhafte), Alkidemos (Volksschützerin), Areia (Kriegerische), Alea (Schützerin), Promachos (Vorkämpferin), Nikephoros (Siegverleiherin) u. s. w., und schon die ältesten Bildwerke der Athena, die Palladien (s. Palladium), stellen die Göttin mit erhobenem Schilde und Wurfspeer dar.
Ebenso wurde Athena auch als Göttin der vorzugsweise mit Trompeten und Flöten hervorgebrachten Kriegsmusik sowie als Schutzgöttin des Streitrosses und des Kriegsschiffes verehrt und in verschiedenen Sagen als Erfinderin jener beiden Instrumente genannt. Die verbreitetste dieser Mythen führte die Erfindung der Flöte auf das Pfeifen und Zischen der Gorgonenschlangen zurück, das diese bei der Enthauptung der Medusa hören ließen. Sehr bekannt ist auch, wie den Silen Marsyas (s. d.), weil er die von ihr erfundene, aber wegen Entstellung des Gesichts weggeworfene Flöte aufgehoben hatte, gezüchtigt haben soll, ein Mythus, den Myron in einer berühmten plastischen Gruppe darstellte. Ferner galt Athena für die Erfinderin der Pyrrhiche, eines Waffentanzes, von dem es hieß, daß sie selbst ihn zur Feier des Sieges über die Giganten oder Titanen zuerst getanzt oder die Dioskuren gelehrt habe, weshalb derselbe ihr zu Ehren am Fest der Panathenäen mit prächtiger Ausstattung aufgeführt wurde.
Weit verbreitet ist die Vorstellung, daß Wolke und Nebel eine Art Gespinst oder Kleid seien. So erklärt es sich wohl am einfachsten, daß die Göttin der Gewitterwolken (ähnlich wie die Walkyren) auch als geschickte Spinnerin und Weberin und als göttliche Erfinderin dieser Künste gedacht wurde. Als Göttin der weiblichen Arbeit erscheint Athena schon in den Homerischen Gedichten, wo es von ihr heißt, daß sie ihren eigenen Peplos und das Gewand der Hera gewebt habe, und wo wiederholt die weibliche Kunstarbeit des Spinnens und Webens mit dem Ehrennamen «Werke der Athena» belegt wird.
Der bekannteste Beiname dieser Athena war Ergane, den sie zu Athen, in Samos, Thespiä, Elis, Sparta und Megalopolis führte. Als Symbol dieser Kunstfertigkeit führt in mehrern Bildwerken die Spindel. (Über das Märchen von der Arachne s. d.) Die uralte für Ilion und Athen bezeugte Kultsitte, der Athena an ihrem Feste einen schön gewebten Peplos darzubringen, hängt mit ihrer Bedeutung als Ergane zusammen. Im Anschluß an diese Funktion wird ihr auch die Erfindung aller übrigen Kunstfertigkeiten zugeschrieben, so, abgesehen von der Erfindung der Flöte, Trompete, des Wagens, Pfluges und Schiffes, die der Goldschmiedekunst, des Walkens, der Schuhmacherei, des Ciselierens, der enkaustischen Malerei, der Töpferei, Bildhauerei u. s. w. In Athen feierten die sämtlichen Handwerker der und dem Hephaistos das Fest der Chalkeen. Sogar als eine Förderin und Beschützerin der ärztlichen Kunst tritt Athena auf. Sie erhielt davon den Beinamen Hygieia in Athen und im Demos Acharnai, oder Paionia (in Athen und Oropos).
Ebenfalls aus der Funktion des Spinnens und Webens, vielleicht auch unter Einwirkung der in der Ilias (15,668) ausgesprochenen Vorstellung, daß die Göttin des plötzlich aufleuchtenden Blitzes, die Athena Glaukopis, mit ihren alle Dunkelheit durchdringenden Eulenaugen Scharfblick verleibe, ist der Gedanke hervorgegangen, daß Athena eine Göttin der Klugheit, der Besonnenheit, des denkenden Verstandes sei. Sie heißt deshalb schon in den Homerischen Gedichten Polybulos. Sicherlich ist der Hesiodische Mythus von Metis (s. d.) als Mutter der Athena auf diese ihre Wesenseigenschaft zurückzuführen.
In Attika und auch anderwärts scheint Athena seit ältester Zeit wichtige Beziehungen zur Baumzucht und zum Ackerbau gehabt zu haben, wie sowohl aus der Erechtheussage als auch aus dem in engem Anschluß an diese entwickelten Festcyklus der in Athen hervorgeht. So ging die Sage, und im Westgiebel des Parthenon war sie bildlich dargestellt, daß der uralte Ölbaum auf der Akropolis eine Schöpfung der Athena sei: Poseidon und Athena hätten um die Herrschaft in Attika gestritten und Poseidon, um seine Macht zu beweisen, zuerst seinen Dreizack in den kahlen Felsen gestoßen;
dann aber habe Athena unmittelbar daneben den ersten Ölbaum wachsen lassen und sei für die Schöpfung dieser den Hauptreichtum Attikas ausmachenden Kulturpflanze als die wahre und echte Herrin der zukunftsreichen Stätte anerkannt worden.
Das Fest dieser die Ölkultur fördernden und schützenden Athena hieß Skirophorien (s. d.).
Eine ganz ähnliche Bedeutung wie für die Olivenzucht hatte in Attika auch für den Ackerbau. Dies ist namentlich in der Sage von Erichthonios oder Erechtheus (s. d.) ausgesprochen, der eigentlich die Personifikation des Samenkornes ist. Athena spielt in dieser Sage die Rolle einer gütigen, allen Wetterschaden vom Getreide abwehrenden Wolkengöttin. Die Feste, welche dem Erechtheus und der Athena galten, waren:
1) Die Chalkeen, ein uraltes Fest des Hephaistos und der Athena, die Erfindung des Pfluges und die Erzeugung des Erechtheus feiernd, 2) die Procharisterien, zu Ende des Winters für die emporkeimenden Saaten von allen Beamten der Athena gefeiert, 3) die Plynterien, ein Ernteanfangsfest (s. Kallynterien), 4) die Errhephorien (s. d.) oder Arrhepborien, 5) die Panathenäen (s. d.). Wahrscheinlich wurde wegen ihrer agrarischen Bedeutung Athena mit Ähren in den Händen abgebildet und auch Ktesia, d. i. Spenderin der Habe, genannt. Wie Mythus und Kultus, so hat auch die künstlerische Darstellung der Göttin in Athen ihre höchste Ausbildung erhalten, besonders durch Phidias, der sie namentlich außer in dem kolossalen Erzbilde auf der Akropolis (der sog. Athena Promachos) im Parthenon in einem Kolossalbilde aus Gold und Elfenbein als Nikephoros darstellte
[* ] ^[Abb: Fig. 1.]
(s. Fig. 1: Statuette der Athena Parthenos, 1880 zu Athen gefunden, die allgemein für die treueste Kopie des berühmten Originals des Phidias gehalten wird; vgl. Schreiber, Athena Parthenos, Abhandlungen der Königlich Sächsischen Gesellschaft der Wissenschaften, 8, 1883). Wollen die
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Künstler sie als friedliche Göttin, als Athena Ergane oder als Agoraia (zum Volke Redende) bezeichnen, so werden meist die Attribute des Schildes oder Speers, seltener beide zugleich, weggelassen. Niemals erscheint Athena unbekleidet, sondern immer mit langem, bis auf die Füße herabreichendem und den ganzen Körper bedeckendem Gewand, oft auch noch mit einem Überwurf bekleidet [* ] (s. Fig.2: Archaische Athena aus dem äginetischen Tempelgiebel).
Die Formen des Körpers zeigen mehr Kraft als weibliche Fülle; der Ausdruck des Gesichts ist der ruhigen Ernstes und klarer Verständigkeit, mehr streng und würdevoll als anmutig. Phidias hatte ihr noch ein mehr rundliches, volleres Gesicht gegeben, und unter seinem Einfluß ist auch später dieser Typus oft nachgebildet worden. Ein anderer Typus zeigt ein längliches, schmales, scharfgeschnittenes Gesicht, so namentlich eine schöne Statue im Louvre, sowie eine Büste in der Glyptothek in München.
Vgl. Lauer, System der griech. Mythologie (1853);
F. Athena Voigt, Beiträge zur Mythologie des Ares und der Athena (Lpz. 1881);
Röscher, Die Grundbedeutung der in «Nektar und Ambrosia» (ebd. 1883).