Rückschlag zur Ahnenähnlichkeit, das Auftreten der
Erblichkeit gewisser Eigentümlichkeiten der Körperbildung, auch gewisser
Krankheitsanlagen, geistiger
Eigenschaften etc. von mehr oder weniger entfernten
Ahnen. Man beobachtet diese
Erscheinung besonders
bei gekreuzten
Rassen, indem ein oder das andre
Individuum der folgenden
Generationen auf den besondern
Typus eines der Stammeltern zurückschlägt. Der Atavismus spielt deshalb unter den Beweismitteln der Darwinschen
Theorie eine gewisse
Rolle, sofern das plötzliche Auftreten gewisser körperlicher Eigentümlichkeiten mitunter Andeutungen
über die Abstammung von
Pflanzen und
Tieren gibt. So schlagen die meisten Obstsorten, wenn sie aus
Samen
[* 2] statt aus
Stecklingen gezogen werden, auf die wilde Stammart zurück; bei
Haustieren der verschiedensten
Rassen treten gelegentlich
Kennzeichen einer wilden Art auf, z. B. bei
Tauben
[* 3] die Kennzeichen der Felsentaube
(Columba livia), die deshalb als die Stammform
unsrer zahllosen Taubenrassen angesehen wird.
In der
Regel handelt es sich nur um einen
Rückschlag in Bezug auf einzelne Merkmale, wenn z. B.
Pferde
[* 4] gefärbte Querringel an den
Beinen zeigen, die auf eine dem
Zebra ähnliche Stammform deuten, oder wenn sie statt eines einfachen
Hufs mehrere freie
Zehen aufweisen, was an eine frühere Ahnenstufe erinnert. Man erklärte sich diese
Erscheinung früher
durch ein besonderes
Gesetz der latenten
Vererbung, nunmehr aber einfacher dadurch, daß nach dem sogen. biogenetischen
Grundgesetz
(s.
Entwickelungsgeschichte)
[* 5] jedes Lebewesen in seiner individuellen
Entwickelung durch die Zustände seiner
Ahnen gewissermaßen
hindurchgehen muß und deshalb durch eine teilweise
Hemmung der Weiterbildung in ältern Bildungszuständen verharren kann.
In diesem
Sinn hat man auch gewisse
Mißbildungen, wie
Mikrokephalie (s. d.), als Atavismus
(Rückschlag auf die
affenähnlichen
Ahnen des
Menschen) gedeutet; doch können solche offenbar krankhafte und unharmonische
Bildungen nicht für
sich als Beweismittel der Abstammung gelten. Eine ähnliche, aber noch sehr der
Aufklärung bedürftige
Erscheinung wird von
vielen Tierzüchtern behauptet, daß nämlich die erste
Befruchtung
[* 6] eines Muttertiers eine gewisse Nachwirkung
auf alle folgenden
Geburten äußere, so daß ein Muttertier, welches zum erstenmal von einem
Tier aus unedler
Rasse befruchtet
wurde,
dadurch zur Erzielung einer ganz reinen
Rasse überhaupt unfähig werden soll.
des Seelenlebens. Als geistigen Atavismus bezeichnet Mantegazza die Wiederkehr von psychischen Charakteren der anthropomorphen
(menschenähnlichen) Vorfahren bei Menschen höherer Rasse. Dieses regressive Phänomen des Denkens und Empfindens kann sich
äußern:
1) durch Stehenbleiben der psychischen Entwickelung in ihrem kindlichen Stadium;
2) durch Auftreten von geistigen Eigenschaften, die eine Anzahl von Generationen übersprungen haben und
unter begünstigenden Umständen nun auf einmal wieder zum Vorschein kommen. Letzteres ist insbesondere dann der Fall, wenn
die Hemmungszentren (d. h. die im menschlichen Gehirn
[* 7] enthaltenen Apparate, welche die Beherrschung der niedern sinnlichen
Regungen durch die höhern Instinkte ermöglichen) durch außergewöhnliche Verhältnisse außer Kraft
[* 8] gesetzt
werden und nunmehr jene bestialischen Triebe, wie sie zweifelsohne dem Urmenschen eigentümlich waren, wieder die Oberhand
gewinnen.
Als ein solcher der unter außergewöhnlichen, das Gleichgewicht
[* 9] der Zentren im Gehirn störenden Umständen zu stande kommt,
ist es z. B. zu betrachten, wenn beim Schiffbruch vom Hunger gepeinigte Angehörige von Kulturvölkern zu
Menschenfressern werden. Je nach der Erscheinungsform unterscheidet Mantegazza verschiedene Arten von psychischem Atavismus, nämlich:
1) Atavismen der Ernährung, die am deutlichsten im Kindesalter zu Tage treten und sich z. B. darin äußern, daß der Mensch,
wenn er sich selbst überlassen wird, in den ersten Jahren seines Lebens vegetabilische Nahrung (Obst, saure
oder süße Speisen u. dgl.) bevorzugt.
2) Atavismen der Muskelbewegung und Mimik
[* 10] (Vorliebe der Kinder für Herumwälzen auf der Erde, Klettern und Schaukeln auf Bäumen,
unbewußtes Beißen von Gras, Knabbern an Strohhalmen u. dgl.).
3) Geschlechtliche Atavismen (Bisse und sonstige automatische Thätlichkeiten, wie sie die gegenseitigen Liebkosungen beider
Geschlechter nicht selten begleiten).
4) Atavismen der Grausamkeit (blutdürstige Neigungen, die dem Menschen noch von der Urzeit her anhaften und auf der Jagd, im
Kriege, im Duell, bei den spanischen Stiergefechten, den in England beliebten Hahnenkämpfen u. dgl. sich gegenwärtig noch
bethätigen). Psychische Atavismen äußern sich ferner noch in der Vorliebe für bestimmte Beschäftigungen;
dieselben können unter Umständen sogar
ein Charakteristikum bestimmter Völker oder der Anhänger von gewissen religiösen
Bekenntnissen abgeben. So sind z. B. die furchtsamen und angstvollen Bewegungen vieler Juden als eine auf die langjährigen
Verfolgungen von seiten der Christen zurückzuführende besondere Form des psychischen Atavismus aufzufassen; der würdevolle Gesichtsausdruck
des heutigen Römers erinnert an ein Volk, das während vieler Jahrhunderte den Erdkreis beherrschte etc.