Titel
Assyrien
,
im engsten und ursprünglichen Sinn die von dem semitischen Stamm der Assyrer bewohnte Ebene zwischen Tigris und dem Großen Zab um Ninive, welche bei den Eingebornen selbst Assur (s. d.) hieß. Später wurde darunter alles Land zu beiden Seiten des Tigris und am Fuß der Gebirge bis zum Dialas südwärts verstanden, und noch weitere Ausdehnung [* 2] erhielt der Name, wenigstens bei den Ausländern, durch die großen Eroberungen der assyrischen Könige, welche schon seit dem 13. Jahrh. v. Chr. den Tigris abwärts bis zum Persischen Meerbusen, im 11. den Tigris aufwärts gegen W. bis zum obern Euphrat, im 10. über das östliche Kleinasien und im 8. Jahrh. bis an die östlichen Küsten des Mittelmeers [* 3] reichten.
Die Griechen verstanden unter Assyrien
meist das syrische
Küsten- und das untere
Euphrat-Tigrisland mit, ja beschränkten zuweilen
den
Namen auf letzteres. Das eigentliche Assyrien
ist eine räumlich beschränkte, fruchtbare,
durch viele Gebirgsbäche bewässerte
Ebene, die indessen an
Reichtum sich mit
Babylon nicht messen kann und von niedern Höhenzügen
vielfach durchschnitten ist. Der
Muschelkalk desselben und große Thonlager lieferten gutes Baumaterial, die nahen
Gebirge
Marmor,
Alabaster,
Silber,
Kupfer,
[* 4]
Blei
[* 5] und
Eisen,
[* 6] wodurch
Baukunst
[* 7] und
Skulptur mächtig gefördert wurden.
Die wichtigsten
Städte waren
Assur (bei
Xenophon Känä), Kalach, Ninua oder
Ninive, sämtlich am
Tigris gelegen, und
Arbela (das
jetzige Erbil), zwischen den beiden
Flüssen Zab.
Unsre Kenntnis der assyrischen Geschichte ist durch die Entzifferung der Keilinschriften einigermaßen aufgeklärt. Die
Überlieferung der Griechen von der
Gründung des assyrischen
Reichs und seiner Hauptstadt
Ninive durch
Ninos
(s. d.) und den Eroberungszügen seiner kriegerischen
Witwe, der Halbgöttin
Semiramis (s. d.), der weichlichen Herrschaft
ihres Nachfolgers Ninyas und der Derketaden ist eine
Sage medisch-persischen Ursprunges. Die ältesten Bewohner Assyriens
gehörten wie die
Babylons dem nichtsemitischen
Volk der
Sumerier (s. d.) oder Akkadier an. Nachdem die
Semiten im südlichen
Euphrat- und Tigrisland, in
Babylon, zur Herrschaft gelangt waren, drangen sie auch nach dem obern
Flußgebiet
vor. Um 1900
v. Chr. gründeten sie unter Samsi-Bin, Sohn des Ismidagon, auf dem rechten westlichen
Ufer des
Tigris die Stadt
Assur (jetzt
Ruinen von Kalat Schirgath), welche sie so nach dem Beinamen des babylonischen
Gottes
El, »der
Gütige«, benannten; auch Ninua mit einem
Tempel
[* 8] der
Göttin
Istar wurde schon damals gegründet, aber erst viel später Hauptstadt.
An der Spitze des Landes stand ein Statthalter oder Vizekönig (Patis) des babylonischen Herrschers. Um 1500 riß sich von Babylon los und machte sich unabhängig, entwickelte sich aber nur langsam zu größerer Macht. Salmanassar I. (um 1300) erbaute eine neue Residenz, Kalach, am Ostufer des Tigris (heute Nimrud), kämpfte mit Glück gegen Babylon und erweiterte das Reich nach Norden. [* 9] Tiglath Pilesar I. (1130-1100), »der Begünstigte Assurs«, eroberte Mesopotamien und das südliche Armenien, bekämpfte erfolgreich Babylon und drang über den Euphrat bis zur syrischen Küste des Mittelmeers vor.
Einen großen Aufschwung nahm das Reich unter Assurnasirpal (883-860), der viele Kriegszüge unternahm und bereits den Phönikern Tribute auferlegte, ferner Kalach neu gründete und den Nordwestpalast daselbst erbaute, und seinem Sohn Salmanassar II. (860-825), der 25mal den Euphrat überschritt und zuerst in Medien und Persien [* 10] einfiel. In seinen Inschriften werden auch die Könige Ahab und Jehu von Israel erwähnt. Die Nachfolger hatten genug zu thun, das Erworbene zu behaupten und das Reich zu befestigen.
Tiglath Pilesar II. (745-727), der von den Hebräern in zwei Könige, Phul und Tiglath Pilesar, zerlegt wird, unterwarf nicht nur die unter der schwachen Regierung seiner Vorgänger abgefallenen Völker wieder, sondern erweiterte noch den Umfang des Reichs: er eroberte Babylon, ganz Armenien und einen großem Teil Mediens, nahm 732 Damaskus und zwang die Könige von Israel und Juda, ihm zu huldigen und Tribut zu zahlen. Seine Kriegszüge dehnte er im Süden und Westen bis Arabien und bis zur ägyptischen Grenze, in Kleinasien bis nach Kappadokien, in Iran bis Arachosien aus.
Unter ihm ward Assyrien
wirklich eine Weltmacht. Unter
Salmanassar IV. (727-722) empörten sich, auf die
Hilfe
Ägyptens vertrauend,
die
Philister, Phöniker und
Hosea von
Israel;
Salmanassar unterdrückte aber den
Aufstand, nahm die Küstenstädte,
belagerte
Tyros, freilich vergeblich, und schloß
Samaria ein, das sich aber erst seinem Nachfolger
Sargon (722-705) ergab.
Dieser schlug die Ägypter 720 bei
Raphia zurück, eroberte
Kypros und unterwarf selbst einen Teil
Arabiens; auch warf er einen
Aufstand der
Meder unter Dajauku (Dejokes) nieder und unterjochte von neuem
Babylon.
Nordnordöstlich von Ninive erbaute er sich eine neue Residenz, Dur-Sarrukin (Chorsabad). Sanherib (705-681) hatte mit einem Aufstand der Babylonier und einer von den Ägyptern unterstützten Erhebung Hiskias' von Juda zu kämpfen. Seine schweren Verluste in der Schlacht bei Altaku (701) gegen Tirhaka von Ägypten [* 11] zwangen ihn aber, die Belagerung Jerusalems aufzuheben und auf einen Teil der Eroberungen in Syrien zu verzichten. Dagegen vollendete er die Unterwerfung Kilikiens.
Auf Sanherib, der von zwei seiner Söhne ermordet wurde, folgte nach deren Besiegung ein dritter Sohn, Asarhaddon (681-668), der nicht nur die Herrschaft über Iran, Babylon, Syrien und Arabien behauptete, sondern auch 672 Ägypten eroberte und es durch 20 Vasallenfürsten verwalten ließ. Als Zeugnis seines Siegeszugs ließ er an einem Felsen bei Beirut sein Bildnis mit Inschrift einmeißeln und begann den Bau des Südwestpalastes in Nimrud, der aber unvollendet blieb. Sein Sohn Assurpanibal (668 bis 626) zwang Lydien zur Huldigung und Zahlung von Tribut, verlor aber während eines Aufstandes seines Bruders Samas sum ukin in Babylon 650 Ägypten. Zwar warf er 633 einen neuen Aufstand der Meder unter Phraortes nieder; aber schon brachen die Skythen und Kimmerier ein, und unter den drei letzten Königen, deren Reihenfolge nicht feststeht, ¶
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rissen sich die meisten eroberten Länder von Assyrien
los. Indem die Meder unter Kyaxares zuerst die Barbaren besiegten und vertrieben,
wurden sie das mächtigste Volk und vereinigten sich 609 mit dem Unterkönig Nabopolassar von Babylon zum Kriege gegen Assyrien
, welcher
nach hartem Kampf 606 mit der Einnahme Ninives und dem Untergang des letzten Königs (Asarhaddon II.) und seines
ganzen Volks endete. Wenn auch die zuerst von Layard aufgedeckten Ruinen ihrer Städte mit ihren Reliefs und Inschriften zeigen,
daß die Assyrer in Architektur, Skulptur, namentlich in der Kriegskunst eine ziemlich hohe Stufe der Bildung erreicht hatten,
so beruhte der Bestand des assyrischen Reichs doch nur auf der Gewalt und dem Schrecken ihrer Waffen;
[* 13] die
Unterwerfung der Völker war nur eine äußerliche, und die militärische Herrschaft eines verhältnismäßig so kleinen Volks
war von jedem Kriegszufall abhängig. Die Assyrer verschwanden aus der Geschichte, das Land fiel an das medische Reich. -
Der Bericht des Ktesias von dem weibischen König Sardanapal (Assurpanibal) ist wieder eine medisch-persische
Sage, welche im Gegensatz zu der mannweiblichen Semiramis, der Gründerin des Reichs, einen weibischen Mann an das Ende der assyrischen
Geschichte stellte, zu dem sie den Mythus des semitischen Gottes, der Frauenkleider trug, benutzte.
[Kultur.]
Über die assyrische Kultur liegt uns ein reicher Schatz von Aufschlüssen in den noch erhaltenen zahlreichen Monumenten vor. Die bedeutendsten Ausgrabungen sind die der alten, gewaltigen Hauptstadt Ninive beim jetzigen Kujundschik, die von Dur Sarrukin beim jetzigen Chorsabad und die von Kalach beim heutigen Dorf Nimrud, bestehend in Palästen und Grabmonumenten (Grabhügel des Ninus). Die Tempel und Paläste, welche sich auf künstlichen Anhöhen erheben, waren aus Erdziegeln und Balken errichtet, die Wände aber mit großen Kalkstein- oder Alabasterplatten bekleidet, welche sich leicht bearbeiten ließen und daher mit Bildwerken und Inschriften bedeckt, gewöhnlich auch bemalt waren (s. Tafel »Baukunst II«, [* 14] Fig. 1-3, und Tafel »Ornamente [* 15] I«, [* 12] Fig. 1-5). An den Eingängen der wegen der kurzen Deckbalken schmalen Säle und Hallen standen geflügelte Löwen [* 16] oder Stiere mit Menschenköpfen, Figuren von (Göttern oder Priestern u. dgl. (s. Tafel »Bildhauerkunst [* 17] I«, [* 12] Fig. 6-9). Da fast jeder König neue Paläste erbaute und an ihren Wänden seine Thaten in Bild und Schrift verherrlichte, so vertraten diese Monumente die Stelle von Archiv und Chronik des Reichs.
Zugleich treten uns darin die gesamte Lebensweise und Beschäftigung der Assyrer in Krieg und Frieden entgegen. Eine Hauptrolle spielen die kriegerischen Thaten der Könige, welche überall majestätisch erscheinen, in kriegsgerüsteter Stellung oder auf dem Thron [* 18] sitzend, oder wilde Tiere jagend, oder den Göttern opfernd, um sie ein großes Gefolge von Weibern, Eunuchen und Kriegern zu Fuß, zu Pferd [* 19] und zu Wagen. Szenen von Schlachten [* 20] und Belagerungen, Triumphzüge mit gebundenen Gefangenen, grausame Hinrichtungen rebellischer Fürsten etc. nehmen einen breiten Raum ein, alles bezieht sich auf den König und seinen Hof. [* 21]
Die Könige waren unumschränkte Herrscher, welche unter dem unmittelbaren Schutz der Gottheiten selbst deren Gebote ausführten. Die Zahl der Beamten war eine bedeutende, ihre Reihenfolge genau geordnet: neben dem Feldhauptmann, dem Haremsobersten, dem Palasthauptmann gab es Landeshauptleute, Präfekten der Städte, Schreiber u. a. Das Kriegswesen war wohlgeordnet und hoch entwickelt. Das Fußvolk war teils schwer, teils leicht bewaffnet. Der König und die Fürsten kämpften mit Pfeil und Bogen [* 22] von Streitwagen [* 23] herab.
Auch Reiterei fehlte nicht. Die Assyrer verstanden es, ihr Lager [* 24] zu befestigen, feindliche Städte mit Einschließungswällen zu umgeben und mit Belagerungsmaschinen zu bestürmen. In der Schlacht stritten sie in wohlgeordneten Reihen. Doch sind auch die Beschäftigungen des Friedens und des Privatlebens, wiewohl in geringeren Maß, auf den Bildwerken vertreten. Wenn die Alten vieles von dem Wohlleben der Assyrer erzählen, so wird dies durch die Monumente bestätigt, wo oft Gastmahle dargestellt und die Menschen mit reichen, bunten, fein gewobenen und gestickten Gewändern angethan sind; kostbarer Schmuck fehlt nicht, das Haar [* 25] ist sorgfältig gepflegt, besonders der Bart, der bis auf die Brust reicht und in zwei gekräuselte Locken ausläuft; Bart und Kopfhaar sind oft schwarz gefärbt, um den Kopf ist eine geschmückte Binde geknüpft (s. Tafel »Kostüme [* 26] I«). [* 27]
Die Hausgeräte sind reich verziert, von Metall, Holz, [* 28] Elfenbein; besonders die Waffen sind künstlich gearbeitet und mit Köpfen von Löwen, Widdern etc. als Griff versehen. Teppiche und Gewänder sind gut gewebt. Hieraus ersehen wir, daß die Assyrer ein wohlzivilisiertes Volk waren, dessen Industrieprodukte auch nach andern Ländern ausgeführt wurden; assyrische Arbeiten in Gold [* 29] und Silber, Glas- und Thonwaren, [* 30] Teppiche und Webereien wurden selbst in Griechenland [* 31] nachgeahmt.
Was den Charakter der assyrischen Kunst betrifft (welche von der babylonischen nicht verschieden war), so ist derselben ein gewisses starres, stereotypes Wesen eigentümlich; besonders für Hauptfiguren, wie die Könige, bildeten sich typische Formen aus, die Natur wird möglichst genau nachgeahmt, ohne Freiheit und Individualität; die Tiergestalten, besonders die Figuren von Löwen, sind künstlerischer als die der Menschen. Alles weist auf eine lange geübte Technik hin, welche mit der Zeit in einer bestimmten Manier erstarrte.
Die Inschriften sind in der sogen. Keilschrift (s. d.) geschrieben, deren Handhabung besondere Schriftgelehrte voraussetzt; die Zahl der Zeichen betrug über 400; das Material dazu war Thon, der in nassem Zustand mit einem Griffel beschrieben und dann gebrannt wurde. Assurpanibal sammelte eine ansehnliche Bibliothek von mehreren Tausend solcher beschriebener Thontäfelchen, welche teils historischen und geographischen, teils naturwissenschaftlichen Inhalts sind, teils auch Poesie, Grammatik, Mathematik und Astronomie [* 32] betreffen (jetzt zum Teil im Britischen Museum). Die Inschriften finden sich meist auf vier- bis sechsseitigen, um eine Achse drehbaren Säulen [* 33] oder Cylindern.
Was endlich die Religion betrifft, so ersieht man aus den Darstellungen, daß sich die religiösen Vorstellungen und Zeremonien hauptsächlich um die Anbetung der siderischen Mächte drehten; es ist im wesentlichen der babylonische Götterdienst (womit die präzise Einteilung von Maß, Gewicht und Zeiten im engsten Zusammenhang steht). Als Hauptgott erscheint Assur, der nationale, höchste Gott, der babylonische El, neben ihm die Göttin Istar, der Mondgott Sir, die Sterne u. a.; geflügelte Stiere und Löwen mit einem Menschenhaupt waren die Symbole der Götter. Um die Ausgrabungen in Ninive haben sich besonders J. ^[James] Rich (1820), Resident der Ostindischen Kompanie in Bagdad, der französische Konsul in Mosul, Botta (1843 ff.), und der Engländer Layard (1845 ff.) verdient gemacht. Die Entzifferung der Keilschrift ist jetzt gelungen; die Resultate, die sich bisher ergaben, ¶
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verdankt man besonders Rawlinson, Hincks, Talbot, G. Smith, Ménant, Lenormant, Place, Schrader und Oppert, welch letzterer auch (neben M. v. Niebuhr, Brandis, Rawlinson, Layard u. a.) für die Chronologie Bedeutendes geleistet hat (s. Keilschrift und die dort angeführte Litteratur).
Vgl. Botta und Flandin, Monuments de Ninivé (Par. 1847-50, 5 Bde.);
Layard, Niniveh and its remains (Lond. 1849, mit Atlas [* 35] von 100 Tafeln; deutsch, Leipz. 1850) und Discoveries in the ruins of Niniveh and Babylon (Lond. 1853; deutsch, Leipz. 1856);
Oppert, Expédition scientifique en Mésopotamie (Par. 1857-64, 2 Bde.);
Place, Ninivé et l'Assyrie (das. 1867-69, 2 Bde.);
Lenormant, Lettres assyriologiques (das. 1871-79, 4 Bde.);
Oppert, Die Grundzüge der assyrischen Kunst (Basel [* 36] 1872);
M. v. Niebuhr, Geschichte Assurs und Babels (Berl. 1857);
Oppert, Histoire des empires de Chaldée et d'Assyrie (Versaill. 1865);
Rawlinson, The five great monarchies of the ancient eastern world (4. Aufl., Lond. 1879, 3 Bde.);
Lenormant, Manuel d'histoire ancienne de l'Orient (9. Aufl., Par. 1882, 3 Bde.; deutsch bearbeitet von Busch, 2. Aufl., Leipz. 1873, 2 Bde.);
Ménant, Annales des rois d'Assyrie (Par. 1875);
Hommel, Abriß der babylonisch-assyrischen Geschichte (Leipz. 1880);
»Revue d'Assyriologie«, herausgegeben von Oppert und Ledrain (Par. 1884 ff.).