Arzneimittel
(Medicamenta) heißen diejenigen meist chemisch wirkenden
Stoffe, welche zum Zwecke der
Heilung von
Krankheiten innerlich oder äußerlich angewendet werden; sie bilden somit eine
Klasse der Heilmittel (s. d.). Die Arzneimittel
sind
teils anorganische, teils pflanzliche oder tierische
Stoffe und machen keineswegs eine natürlich abgegrenzte oder an gemeinsamen
Eigenschaften erkennbare Gruppe aus; vielmehr kann nur die Erfahrung, der physiol. Versuch,
die Physik, und chem. Untersuchung darüber belehren, ob ein
Stoff als Arzneimittel
brauchbar ist oder nicht.
Die naive Naturanschauung früherer
Zeiten meinte wohl, die Arzneimittel
hätten in der Welt keinen weitern Zweck als
den der
Heilung,
und es müsse für jede
Krankheit ein bestimmtes in der Natur vorhanden oder ein bestimmtes Kraut gewachsen sein.
Nach den spätern Erfahrungen hat man diese
Ansicht von der speciellen Wirkung der Arzneimittel
fast vollständig aufgeben müssen;
jetzt sieht der Naturforscher in den Arzneimittel
nichts weiter als
Stoffe, die neben allen ihren sonstigen Eigenschaften auch solche
haben, die zur Bekämpfung einer
Krankheit benutzt werden können, Eigenschaften, die lediglich physikalische
oder chemische sind und deren Wirkungen durchaus nur nach den allgemeinen Naturgesetzen erfolgen.
Arzneimittel

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Seite 51.962. Die Kenntnis der Physik, und chem. Eigenschaften der Arzneien und die Zurückführung ihrer therapeutischen
Wirkungen auf bekannte Naturkräfte, sowie ihre Einordnung in bekannte Naturgesetze ist die eine notwendige
Bedingung einer
wirklich exakten und wissenschaftlichen Arzneimitt
ellehre oder
Pharmakologie. Die andere
Bedingung aber
ist eine genaue Untersuchung des
Baues und der physik. und chem. Beschaffenheit des Organismus in allen seinen
Teilen und gesunden
oder krankhaften Zuständen; denn die Arzneiwirkungen sind nichts weiter als
Veränderungen jener Physik, und chem. Beschaffenheit
und weiterhin auch des feinern
Baues der verschiedenen Organe. Daher ist eine genaue Kenntnis der
Anatomie,
Physiologie und Pathologie einerseits, der Physik und
Chemie andererseits nötig, um die Wirkungen eines Arzneimittel
zu verstehen, sie
im gegebenen Falle berechnen und
¶
mehr
demnach zweckmäßig anwenden zu können. Freilich sind bis jetzt die Arzneiwirkungen zum größten Teile noch unbekannt und
nur eine kleine Zahl derselben vollständig aufgeklärt, und die Arzneimittel
lehre ist bis jetzt nur zum kleinsten Teile,
was sie sein soll, d. h. eine auf den kranken Organismus angewandte Physik und Chemie. Bei einzelnen chem.
Mitteln ist auch die Wirkung im Organismus klar, sie ist ebendieselbe wie außerhalb des tierischen Körpers bei der
Verwendung zu technischen Zwecken. So werden z. B. Alkalien bei verschiedenen Magenkrankheiten verordnet, um die in abnormer
Menge gebildeten Säuren zu neutralisieren oder um Sekrete und Exkrete, die unter normalen Verhältnissen sauer
reagieren, wie z. B. den Urin, zu alkalisieren.
Andere Mittel wirken einfach dadurch, daß sie dem Blute und den Geweben einen Teil ihrer flüssigen Bestandteile entziehen; hieraus
erklärt sich z. B. die abführende Wirkung gewisser Mittelsalze. Bei vielen Arzneimittel
ist
der Vorgang ihrer Wirkung vollständig unbekannt; bei andern kennt man zwar die Endpunkte ihrer Veränderungen,
die chem. Vorgänge in den Verdauungsorganen, im Blute und in den Geweben aber nicht. So findet man z. B. das Jod, in welcher
Verbindung es auch genommen sein mag, gewöhnlich nach kurzer Zeit als Jodnatrium im Harn wieder; so tritt nach dem Gebrauche
des Terpentinöls im Urin ein angenehmer Veilchengeruch auf (Terpentinsäure).
Sehr wenige Arzneimittel
erleiden auf ihrem Wege durch den Körper gar keine Veränderungen. Bei den meisten Arzneimittel
muß man sich freilich
an die Erfahrung halten, welche zeigt, daß dies oder das in der oder jener Krankheit heilsam ist. Aber diese Erfahrung ist
schwer zu erwerben. Die Krankheiten sind nicht selbständige Wesen, die den Körper befallen und wieder
verlassen; sie sind auch nicht Zustände, die sich immer in derselben Weise wiederholen und bei jedem Kranken in der nämlichen
Weise ablaufen: sie sind vielmehr nichts weiter als über das richtige Maß hinausgehende oder hinter diesem Maße zurückbleibende
Lebensvorgänge, die sich von den normalen nur durch den zu hohen oder zu niedern Grad ihrer Entwicklung
unterscheiden, und sie gestalten sich, wenngleich sie des Verständnisses wegen einen und denselben Namen tragen, doch tausendfältig
verschieden und spotten daher oft jeder Berechnung. Je größer nun die Summe der Kenntnisse ist, die man
vor der Anwendung eines von dessen Eigenschaften einerseits und von der Natur der Krankheit andererseits hat, desto sicherer
wird man auch beurteilen können, ob die nach dem Gebrauche des Arzneimittel
eintretenden Änderungen des Krankheitsverlaufs
auf das Arzneimittel
zurückzuführen sind oder nicht, um so leichter und schneller wird man also
auch sichere Erfahrungen über die Arzneiwirkung sammeln können, während der ohne jene Vorkenntnis probierende Arzt, d. h.
der bloße Empiriker, viel schwieriger und erst nach einer unverhältnismäßig großen Zahl von Beobachtungen ein sicheres
Ergebnis erhalten kann.
Klystierschlauch - Kna

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Klystier. Die Einwirkung der Arzneimittel
selbst geschieht in der Regel vom Magen
[* 3] aus; bei rein örtlichen Leiden
[* 4] erfolgt natürlich
die Applikation je nach dem Bedürfnis an den verschiedensten Stellen. Die zweckmäßigste Art der Anwendung der Arzneimittel
lehrt die
Arzneiverordnungslehre. Die Form der Darreichung ist eine sehr mannigfaltige und richtet sich nach dem individuellen Bedürfnis
und nach den Eigenschaften des Mittels. Zum innern Gebrauche werden sowohl flüssige Formen, Lösungen,
Mixturen, Emulsionen, Tropfen u. s. w., oder trockne, z. B. Pulver, Pillen
u. s. w., gewählt, zum äußerlichen Gebrauche Salben, Pflaster, Lösungen, Ätzstifte u. dgl. Erweist sich die Einführung
der in den Magen unmöglich, oder wird eine recht schnelle allgemeine Wirkung derselben beabsichtigt, so bedient man sich
mit großem Vorteile der subkutanen Injektion
[* 5] (s. d.), wobei die unter die Haut
[* 6] eingespritzten Stoffe sehr
rasch in das Blut aufgenommen werden. In andern Fällen wird das Arzneimittel
direkt in die Blutadern eingespritzt (s. Transfusion), oder
direkt in die Haut eingerieben (Inunktion), oder als medikamentöses Klystier
[* 7] in den Mastdarm gespritzt, oder endlich in Form
von Dämpfen und Zerstäubungen durch die Lungen eingeatmet. (S. Inhalation.)
[* 8] Da die Wirkung einer Arznei
stets von zwei Bedingungen abhängt, erstens von den Eigenschaften der Arznei und zweitens von der Beschaffenheit desjenigen
Körperteils, mit dem sie in Berührung kommt, so versteht sich von selbst, daß eine Arznei sehr verschieden wirken muß,
je nachdem sie auf diesen oder jenen Körperteil, bei dem oder jenem Zustande desselben Teils angewendet
wird.
Viele Gifte z. B. wirken nicht, wenn sie verschluckt werden, weil die Verdauungssäfte sie in unschädliche Verbindungen überführen, während sie, ins Blut gebracht, sofort töten können. Ebenso wirkt manche Arznei, wenn sie auf die unverletzte Haut gebracht wird, gar nicht, während sie die ihrer Oberhaut beraubte Haut zu heftiger Entzündung reizt, oder, wenn sie durch die Blutgefäße der Haut ins Blut gelangt, starke Wirkungen auf das Nervensystem u. s. w. ausüben kann.
Epididymis - Epiglotti

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Epidermis.
Ein Spanischfliegenpflaster z. B. reizt die unverletzte Haut zu einer oberflächlichen Entzündung mit Blasenbildung; auf die
der Epidermis
[* 9] beraubte Haut gelegt, kann es eine Nierenentzündung hervorrufen, weil seine reizenden Bestandteile ins Blut und
mit demselben in die Nieren gelangen, welche für dieselben vorzugsweise empfindlich sind. Dies Beispiel zeigt zugleich, wie
eine Arznei nähere und entferntere Wirkungen haben kann: die Entzündung der Haut ist hier die nähere
Wirkung, die Nierenaffektion die entferntere. Der örtlichen Wirkung steht die allgemeine oder indirekte Wirkung der Arzneimittel
gegenüber.
Die allgemeinen Wirkungen treten natürlich erst ein, wenn die Arzneistoffe in das Blut übergetreten und durch dieses den
verschiedenen Drüsen, dem Nervensystem und den übrigen Geweben zugeführt worden sind.
Die jedesmal anzuwendende Menge eines Arzneimittel wird Dosis oder Einzelgabe genannt; sie schwankt je nach der Wirkung des betreffenden Mittels von 10 g und darüber bis zu 1/1000 g und noch weniger. Die höchste gesetzlich erlaubte Einzelgabe heißt Maximaldosis; sie ist für jedes einzelne stärker wirkende Mittel genau vorgeschrieben und darf vom Arzte nur in einzelnen Ausnahmefällen überschritten werden, welche er auf dem Rezept (s. d.) durch ein ! besonders hervorzuheben hat.
Arzneimittelträger - A

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Seite 51.963.Kinder erhalten je nach ihrem Alter 1/10 (Neugeborene), 1/8 (2-4 Jahre), 1/5 (5-7 Jahre), ¼ (8-10 Jahre), oder ½ (11-15 Jahre) der für Erwachsene bestimmten Einzelgaben. Die Einteilung der Arzneimittel läßt sich in sehr verschiedener Weise machen: als die richtigste erscheint zunächst die, welche dieselben nach der Ähnlichkeit [* 10] ihrer Wirkungen gruppiert. Da aber die letztern zu unvollständig bekannt sind, so ist diese Art der Einteilung noch nicht durchzuführen. Ein ¶
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anderes, aber auch unzulängliches Einteilungsprincip ist das der chem. Ähnlichkeit; noch unvollkommener, jedoch am gebräuchlichsten ist die Klassifikation nach ihrer Verwendung, wie Abführ-, Brechmittel, schweiß-, harntreibende, beruhigende Mittel u. s. w. - Über schwindelhafte s. Geheimmittel.
Vgl. Hirsch, [* 12] Die Prüfung der Arzneimittel (2. Aufl., Berl. 1875);
Binz, Grundzüge der Arzneimittellehre (12. Aufl., ebd. 1894);
Nothnagel und Roßbach, [* 13] Handbuch der Arzneimittellehre (7. Aufl., ebd. 1894);
Cloetta, Lehrbuch der Arzneimittellebre und Arzneiverordnungslehre (8. Aufl., hg. von Filehne, Freiburg [* 14] 1893);
Ewald, Handbuch der Arzneiverordnungslehre (12. Aufl., Berl. 1891);
B. Fischer, Die neuern Arzneimittel (6. Aufl., ebd. 1894);
Bernatzik und Vogl, Lehrbuch der Arzneimittellehre (2. Aufl., Wien [* 15] und Lpz. 1891);
Böhm, Lehrbuch der Arzneiverordnungslehre (2. Aufl., Jena [* 16] 1891);
Husemann, Handbuch der Arzneimittellehre (3. Aufl., Verl. 1892);
Lewin, Die Nebenwirkungen der Arzneimittel (2. Aufl., ebd. 1893);
Paschkis, Arzneiverordnungslehre (Wien 1892);
Moeller, Lehrbuch der Arzneimittellehre (ebd. 1893);
Schmaltz und Schmeisser, Die in alphabet.
Reihenfolge (Lpz. 1893);
Loebisch, Die neuern Arzneimittel (4. Aufl., Wien 1895);
Tappeiner, Lehrbuch der Arzneimittellehre und Arzneiverordnungslehre (2. Aufl., Lpz. 1895);
Böttger, Die reichsgesetzlichen Bestimmungen über den Verkehr mit Arzneimittel (3. Aufl., Verl. 1895).