Artĕmis,
griech. Göttin, gewöhnlich als Schwester des
Apollon
[* 2] und Tochter der Leto bezeichnet und dargestellt als
Göttin der Jagd. Aber diese populäre
Auffassung wie jene Genealogie enthüllt nur das allerwenigste
von dem Wesen dieser universellsten und vielgestaltigsten unter den weiblichen Gottheiten. Eine
Ahnung von dieser Mannigfaltigkeit
scheint der alte Dichter des in der Hesiodischen
Theogonie vorkommenden Hekatehymnus gehabt zu haben. Denn
Hekate
[* 3] (s. d.) ist
ursprünglich nur ein anderer
Name für Artemis
[* 4] selbst und bedeutet die «Entfernte, Fernwirkende»,
wie Hekatos, die männliche Form dieses
Beiworts, dem
Apollon gehört: beides mit
Beziehung auf Mond
[* 5] und
Sonne,
[* 6] deren
Strahlen mit Pfeilen verglichen wurden, daher die
Beiworte Jocheaira («die Pfeilschützin») für Artemis
,
Hekatebolos
(«Ferntreffer») für den
Bruder.
Die Homerische Artemis
hat unbedingte Gewalt über Leben und
Tod der Mädchen und Frauen, wie
Apollon über
das
Schicksal der
Männer. In
Athen
[* 7] konzentriert sich diese Macht mehr auf das weibliche Geschlechtsleben, so daß hier Artemis
zum
Teil den Charakter einer Eileithyia (s. d.) gewinnt. Die an der attischen
Ostküste bis
Aulis hin (von wo
Agamemnon absegelte) verehrte
Iphigeneia
(d. i. «Geburtsmächtige») ist ursprünglich
Artemis
selbst, wie dies die Kulte des nördl.
Peloponnes beweisen, und ist erst allmählich zu einer Heroine,
der Agamemnonstochter, geworden.
Auch die Nemesis von Rhamnus stellte wahrscheinlich nur eine Besonderheit der Artemis
vor, die zu beiden Seiten des
Euripus unter dem
Namen Artemis
Amarynthia,
d. i. «die Glänzende», hochgefeiert war.
Beiwörter wie die «Einsamwandelnde», die «Ruhige»
charakterisieren sie als Dämonin der Nacht. Sie ist, ungeachtet ihrer geburtshilflichen Funktion, die jungfräuliche Göttin,
die streng über der
Tugend ihrer Nymphen und ihrer Priesterinnen wacht, die die Unkeuschheit einer Kallisto (s. d.)
straft und den
Aktaion, der sie im
Bade gesehen, in einen Hirsch
[* 8] verwandelt.
Ihre ehemalige Mondbedeutung,
gleichwie die Sonnennatur
Apollons, trat frühzeitig zurück hinter dem abstraktern, geklärtern Götterglauben
Homers, der
für jene Gestirne besondere Personifikationen,
Selene
[* 9] und Helios,
[* 10] hat, ward aber schon von den
Philosophen und Dichtern des 6. und 5. Jahrh.
v. Chr. wieder entdeckt und
¶
mehr
ausgesprochen. (Vgl. Roscher, Selene und Verwandtes, Lpz. 1890.) - Nun verehrten aber von den ältesten Hellenen die einen
den Donner- oder Himmelsgott und die Erde, die andern Sonne und Mond: ein Dualismus, der die verschiedentlichsten Kreuzungen
und Mischungen zu Wege gebracht hat, derart, daß z. B. Zeus
[* 12] mit einer ehemaligen Mondgöttin
(Hera)
[* 13] gepaart, Apollon oft mit Demeter
[* 14] verbunden ist. So erklärt es sich wohl, daß die Herrschaft der Artemis
nicht nur das
gesamte animalische Leben umfaßt, sondern auch auf die eigentlichen Erzeugnisse des Erdbodens übergreift; sie wird daher
auch Tochter der Demeter genannt.
Der Urhellene wußte sein lebhaftes Gefühl für die lebenerzeugende Naturkraft der Artemis
nicht
besser auszudrücken als dadurch, daß er in ihr die intime Freundin und Pflegerin der Tiere feierte; alles Junge ist ihr heilig,
sie hegt es oder erjagt es nach Belieben. Namentlich Hirsche,
[* 15] Bären und Wildschweine spielen daher in ihrem Mythen- und Bilderkreise
eine große Rolle. Der ätolischen in Achaia trieb man all solches Getier in einen Feuerkreis zusammen
und fügte diesem Opfer jegliche Art von Früchten hinzu, indem die Opfernden sich selbst mit Ähren bekränzten. Des Oineus
Saaten werden der Sage nach von dem Eber heimgesucht, weil er versäumt, der Artemis
die Erstlinge seines Ertrags
zu opfern.
Man pflegte früher von einer persischen Artemis
zu sprechen und verstand darunter einen aus archaisch-griech.
Bildwerken bekannten Typus, wo die beflügelte Göttin mit Löwen
[* 16] oder Panthern dargestellt ist, die sie würgt oder am Bein
hält. Mögen in der Ausbildung dieses Typus oriental. Einflüsse mitgewirkt haben, so ist doch auch hier
die hellenische Artemis
zu erkennen, nur im Stil des östl. Griechentums, welches auch solche Raubtiere
[* 17] aus der Nähe kannte. Mit
dem löwengestaltigen Dionysos
[* 18] von Samos hat diese Göttin die Menschenopfer gemein.
Auch eine taurische Artemis
wurde im Altertum, obwohl irrtümlich, angenommen; die Annahme beruht auf einem Spielen oder
einer Verwechselung mit dem Namen der Artemis
Tauropolos, d. i. die «Stiertummelnde», was die Volksetymologie als die «Tauris Umwandelnde»
mißverstand. Man meinte wahrscheinlich die Göttin Chryse des halbbarbarischen Lemnos, die man ins Scythenland versetzte.
Chryse erinnerte die Hellenen des Festlandes an die brauronische (zu Brauron in Attika und auf der Burg
von Athen verehrte) Artemis
wie an die spartan.
Orthia oder Orthosia, die «Steife», sowohl durch ihre Menschenopfer als durch die eigentümliche Gestalt des Idols, der sie
ihren Namen verdankte. Mit eng aneinander geschlossenen Füßen und Armen, von denen sich nur etwa die Fackel oder Bogen
[* 19] führende
Hand
[* 20] loslöste, stand sie da, ein Überrest der Pfahl- oder hermenartigen Idole, die nur durch den angesetzten
Kopf und die Extremitäten an eine menschliche Gestalt erinnerten.
Am bekanntesten ist dieser Typus bei der ephesischen Artemis
, wo
erst spätere Kunst die tote, formlose Körpermasse durch ornamentale Querstreifen belebt hat. Die vielen Brüste, welche
Fruchtbarkeit bedeuten sollen, sind nur dieser kleinasiatisch-orientalischen, mehr aphroditeartigen Göttin
eigen. Während die ephesische Artemis
mit ihren Hierodulen nicht tief in das griech.
Religionswesen eindrang, ist der Kult der kretischen Artemis
Britomartis (s. d.) im Archipel und dem Peloponnes weit zu verfolgen.
Die bildende Kunst stellte Artemis
als kräftige, blühende Jungfrau dar, in langen Frauengewändern (vgl.
Fig. 1, die sog. Artemis Colonna in Berlin)
[* 21] oder auch mit aufgeschürztem Chiton,
[* 22] wie es einer Jägerin bequem ist. Dabei trägt
sie gewöhnlich den Köcher, geschlossen oder geöffnet, und führt in den Händen Fackeln oder den Bogen, oder auch beides.
Oft sieht man bei ihr eine Hirschkuh, wie z. B. bei der bekanntesten
unter den erhaltenen Statuen der Göttin, der sog. Diana von Versailles
[* 23] (in röm.
Zeit einem griech. Werke des 4. Jahrh. v. Chr. nachgebildet, in der Villa Hadrians bei Tibur gefunden, ins Museum nach Versailles
gebracht, gegenwärtig im Louvre zu Paris,
[* 24] s. Fig. 2). Auf einzelnen Denkmälern reitet die Göttin auf
einer Hirschkuh, auf manchen fährt sie auf einem von Hirschen gezogenen Wagen, wie z. B.
(zusammen mit Apollon) auf dem Friese
[* 25] des Apollontempels von Bassä
[* 26] (s. d.). (S. auch Diana.) - Artemis heißt auch der 105. Planetoid.