Titel
Archangelsk
oder Archangel.
1) Das größte und nördlichste Gouvernement im Europäischen Rußland, südlich vom Eismeer mit dem tief eindringenden Weißen Meere, östlich von Finland, nördlich von Olonez und Wologda, westlich vom Ural gelegen, hat mit Nowaja Semlja und andern Inseln des Eismeers 858930,4 qkm, d. i. ungefähr 7,5 Proz. von ganz Europa und mehr als das Doppelte des preuß. Staates, aber nur (1885) 315730 E., darunter 32020 Stadtbewohner. Abgesehen von den Westabfällen des Urals, den östl. Zweigen des norweg. Gebirges und den Felshöhen der lappländ.
Halbinsel Kola sowie von den isolierten Höhenzügen des Pai-Choi und der Timanischen Berge (von 300 m Höhe), gehört das Land der osteurop. Tiefebene an, hat großenteils den Charakter des polaren Sibiriens, in seinem westl. Teil jedoch vorwiegend denjenigen Finlands (s. Kola) und ist reichlich bewässert durch die Petschora, den Mesen, die Dwina, den Onega und unzählige kleinere Flüsse, sowie besonders im westl. Teile durch sehr viele größere und kleinere Seen.
Das Gouvernement hat Gold-, Silber-, Blei-, Kupfererze, Naphtha u. s. w., welche jedoch nur mangelhaft ausgebeutet werden. Der Süden gehört der Region der Wälder und der Viehzucht an, aber nordwärts gehen Tannen, Fichten, Birken, sibir. Cedern und Lärchen nach und nach in kriechendes, dürftiges Gesträuch über. Strecken, die nur mit Renntierflechten überzogen sind, werden im Norden immer häufiger (s. Tundra). Ungeheure Landstrecken liegen völlig menschenleer.
Etwa fünf Achtel des Areals sind ganz unfruchtbares Land, nahezu ein Drittel Wald. Die Krone besitzt ein Waldareal von 43 Mill. Dessätinen. Auf Kulturboden kommen kaum 880 qkm, auf Wiesen und Weiden nur 1700 qkm. Das Klima ist sehr rauh; die mittlere Jahrestemperatur von Archangelsk ist 0,37° C. Der Winter dauert 8 Monate und ist so streng, daß selbst das Meer gefriert; der kurze Sommer ist heiß, oft naß. Der kürzeste Tag dauert in der Hauptstadt 3 Stunden 12 Minuten. Lappen und Karelier leben im Kemskischen Kreise, Samojeden und Syrjänen im Osten, zwischen ihnen angesiedelte Russen.
Die Hauptbeschäftigung bilden Fischfang und Jagd auf Land- und Wasserpelztiere und Vögel, die auf den Seen nisten. Das wichtigste Jagdtier ist der freilich an Zahl sehr abnehmende Polarfuchs, selten ist der gemeine Fuchs, seltener der Wald- und Eisbär, Hermelin, Baummarder, Vielfraß, Flußotter, Eichhörnchen, Hase. Zobel, Biber und Elen sind fast ganz vertilgt. Der Wolf ist häufig. Bedeutend ist die Jagd auf Robben, Walrosse und Delphine, sowie der Fischfang an der Küste, namentlich an der Murmanschen. Außerdem werden Schiffbau, Teer-, Leinen-, Matten-, Leder- und Talgfabrikation betrieben. Ackerbau findet sich in den südl. Kreisen, Viehzucht in den Kreisen Cholmogory, Mesen, Pinega, teilweise Archangelsk Die Industrie ist gering; zu erwähnen sind die Sägemühlen, welche für
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2 ½ Mill. Rubel produzieren. Der Handel mit den andern Städten Rußlands wird durch die Dwina und Onega vermittelt, auf denen Getreide, thönerne Geschirre und Eisenwaren eingeführt werden. (Über die Ausfuhr s. Weißes Meer.) Das Gouvernement hat 684 Schulen, darunter 168 Volksschulen. Es zerfällt in die 9 Kreise Archangelsk, Cholmogory, Kem, Kola, Mesen, Onega, Petschora (seit 1891), Pinega und Schenkursk. -
Vgl. Poschmann, Beschreibung des Gouvernements von Archangelsk (russ., 2 Bde., Archangelsk 1874).
2) Kreis im mittlern Teile des Gouvernements Archangelsk, hat 30 471,3 qkm mit 51 076 E.
3) Hauptstadt des Gouvernements und des Kreises Archangelsk, lang und schmal gebaut, rechts von der Dwina, 40 km oberhalb deren Mündung, ist der wichtigste Handels- und Hafenplatz an der Nordküste Rußlands, Sitz eines Civilgouverneurs, eines Bischofs, einer Admiralität, eines deutschen Konsuls für das Gouvernement und hat (1885) 17802 E., Post, Telegraph, 23 griech.-kath., 1 luth., 1 röm.-kath., 2 anglikan. Kirchen, ein Kloster, ein geistliches Seminar, ein Gymnasium, eine Kreisschule, eine Schiffahrtsschule, ein Irrenhaus, zahlreiche Warenmagazine, Schiffswerfte, ein Seehospital, 1 großes steinernes Kaufhaus und meist hölzerne Häuser.
Unter den Gebäuden ist die 1805 vollendete Kathedrale hervorzuheben; von Denkmälern die Statue Lomonossows. In Archangelsk bestehen bedeutende Seilerwerkstätten, Thransiedereien sowie Segeltuch-, Zucker- und andere Fabriken. Für den Handel wichtig ist der Margaritinsche Jahrmarkt vom 1. Sept. bis zum 1. Okt. - Schon seit dem 10. Jahrh. hatten Normannen in der Gegend von Archangelsk Handelsniederlassungen. Bekannter wurde der Ort, als 1553 Engländer auf einer Expedition zur Auffindung einer Nordostdurchfahrt den Seeweg nach der Dwina gefunden hatten, an der damals ein kleines Kloster des heil. Nikolaus stand.
Eine mit Bewilligung Iwans II. gegründete engl. Faktorei vermittelte den Handel über Moskau nach Persien und Ostindien. Der infolgedessen sich lebhaft entwickelnde Handelsverkehr veranlaßte 1584 die Erbauung eines Forts an der Nikolausbucht, und der dabei entstehende Ort wurde nach dem von dessen Ringmauern mit eingeschlossenen Kloster des Erzengels (archelangus) Michael nun «Archangelskoi-Gorod» oder das Neue Kastell des Erzengels St. Michael genannt. 120 Jahre lang war die Stadt der einzige Seehafen und Stapelplatz für die Ausfuhr russ. Produtke und die Einfuhr europ. Waren und Kulturgegenstände nach Rußland.
Infolge der Erlaubnis des Zaren Boris Godunow (1598-1605) siedelten sich auch Holländer und Deutsche an und trieben Handel; 1660 erhielten die Reformierten, 1683 die Lutheraner ihre Kirche. Von 1668 bis 1684 ließ Alexej Michailowitsch das große und feste Kaufhaus Gostinnoj-Gorod durch gefangene Tataren erbauen. Der Verkehr mit Wechseln, die damals in Rußland noch unbekannt waren, wurde 1670 zu Archangelsk eingeführt. Peter d. Gr. besuchte 1693 und 1694 die Stadt, um größere Fahrzeuge in offener See zu sehen.
Als Peter seiner neuen Hauptstadt gleichen Stapel erteilte, dagegen Archangelsk mit höhern Zöllen belastete und die reichsten Einwohner dieser (1708 zur Gouvernementsstadt erhobenen) Stadt zur Übersiedelung nach Petersburg zwang, sank der Handel sehr, bis 1764 die ungünstigen Bestimmungen wieder aufgehoben und dem trefflichen Nordhafen alle Vorrechte des Petersburger Hafens eingeräumt wurden. Seitdem hat sich mit der wachsenden Bevölkerung Rußlands der Ein- und Ausfuhrhandel an der Dwina immer mehr gehoben, und Archangelsk ist jetzt für Sibirien der Hauptstapelplatz, der durch Kanäle mit Moskau und Astrachan in Verbindung steht. 1888 führte Archangelsk für 6 Mill. Rubel Waren aus, darunter für über 1 ½ Mill. Lebensmittel, Roh- und Halbrohmaterial für 4 ½ Mill., und für 1 Mill. Rubel ein.
Gewöhnlich Mitte Mai kommen die fremden Schiffe an und segeln meist im September wieder ab. Die Hauptausfuhrartikel sind Getreide, Leinsaat, Flachs, Teer, Pech, Thran, Holz und Felle; die Haupteinfuhrartikel Wein, Maschinen und Kolonialwaren. An dem Handel nimmt auch die Bjelo-More- (Weißes-Meer-) Compagnie teil, die zugleich eine große Schneidemühle besitzt und die Dampfschiffahrt auf der Dwina und den Handel mit den Produkten des Walfischfangs betreibt. Ein großes Hindernis des Handels ist die Sandbank vor dem sonst sichern Hafen, dessen Einfahrt früher durch die 1863 aufgehobene Festung Nowodwinstaja geschützt wurde. Die Admiralitätsgebäude und Kasernen der Matrosen liegen auf der Insel Solombala, welche der Fluß Kusnetschicha bildet. Von hier gehen viele Expeditionen im Sommer auf den Fischfang, im Winter auf die Jagd bis nach Spitzbergen und Nowaja Semlja, bis zur Lenamündung und weiter. 1854 und 1855 wurde Archangelsk nebst den andern Häfen des Weißen Meers (Onega, Kem und Sumskij-Possad) von den Engländern blockiert.