Archangel
(Archángelsk
), ein
Gouvernement
Großrußlands, umfaßt den nördlichsten Teil des
Reichs, im N. vom
Eismeer
und
Weißen
Meer, im W. von
Finnland, im S. von den
Gouvernements
Wologda und
Olonez, im O. vom sibirischen
Gouvernement
Tobolsk
begrenzt, hat mit Einschluß der dazu gehörigen
Insel
Nowaja Semlja (nach Strelbitskys Berechnung) einen
Flächeninhalt von 858,560 qkm (15,593 QM.). An der westlichen
Grenze streichen von N. nach S. die Manselkaberge, von denen
aus nordöstlich ein niedriger Höhenzug sich durch die
Halbinsel
Kola erstreckt, wo er mit dem Swätoi
Noß (»heiliges
Vorgebirge«)
am
Eismeer endigt.
Östlich bildet der nördliche, niedrige Teil des Ural die Grenze gegen Sibirien. Meerbusen sind: der Tscheskajabusen, der Dwina-, Onega- und Kandalaskajabusen, sämtlich zum Weißen Meer gehörig und mit Inseln bedeckt;
der Kolabusen im äußersten Nordwesten.
Unter den zahlreichen Flüssen, die sämtlich von S. nach N. strömen, sind die Hauptströme: die Dwina, die Petschora, der Mesen und die Onega. Landseen zählt das Gouvernement über 1100, unter denen der Imandrasee, der Pawosero, Kunto, Angosero die bedeutendsten sind. Der nördlichste Teil des Gebiets bildet eine traurige und menschenleere, jeder europäischen Kultur unfähige Steppe, ohne Baum und Strauch, nur aus Tundren, d. h. mit Moosen bewachsenen, beinahe immer gefrornen Morästen, bestehend.
Die Küsten, tief und mannigfaltig eingerissen, tragen die Spuren der heftigsten Zerstörungen durch die Fluten. Die mittlere Jahrestemperatur beträgt -0,9° C. (Januar -13,6,° Juli +16,4° C.). Die einzigen Nahrungszweige der spärlichen Einwohner sind außer der Renntierzucht Fischerei [* 3] und Jagd auf Pelztiere und Vögel, [* 4] die auf den Seen der Tundren nisten. Der Viehstand betrug 1876: 104,000 Stück Hornvieh, 124,000 Schafe, [* 5] 40,000 Pferde [* 6] und 228,000 zahme Renntiere.
Bei dem durch die nasse Frühlings- und Herbstwitterung, die langen, heißen, aber nebeligen Sommertage begünstigten Wieswuchs gedeiht die Rindviehzucht vortrefflich, während für Schafe die Weiden zu naß sind und das Schwein [* 7] im Winter schwer zu ernähren ist. Als wichtigste Jagdtiere sind der Polar- und der blaue Fuchs [* 8] sowie der zahlreich auftretende Wolf zu nennen. Seltener ist der Wald- und der Eisbär; noch seltener und in geringer Menge zeigen sich das Hermelin, der Baummarder, die Flußotter, der Vielfraß, das Eichhorn und der Hase. [* 9]
Das Elen [* 10] dagegen lebt nur noch in der Tradition, und auch Zobel und Biber sind hier längst vertilgt. Im J. 1880 zahlte man 10,425 professionelle Jäger, 409 weniger als 1879, welche für 110,394 Rubel Wild zu Markte brachten. Fisch- und Robbenfang wird von Gesellschaften im Meer hinauf bis an die Küste von Spitzbergen betrieben. Mit dem Fischfang auf Seen und Flüssen waren 1880: 8552 Personen beschäftigt, welche einen Ertrag von 81,646 Rub. erzielten;
dem Seehund-, Walroß- etc. Fang lagen 3790 Mann ob.
Von mineralischen Produkten ist Sumpfeisen in Menge vorhanden, bleibt aber unbenutzt. Günstiger als im äußersten Norden [* 11] gestalten sich die Boden- und klimatischen Verhältnisse in dem südlichen Teil des Gouvernements, wo die Region der Wiesen und Waldungen beginnt und von 62 bis 64° selbst der Ackerbau nicht ohne Erfolg betrieben wird. Man gewinnt kleinkörnigen Winterroggen, Sommerweizen, Gerste, [* 12] Hafer, [* 13] Flachs, Erbsen, Kartoffeln (bis zu 65°) und Hopfen. [* 14]
Jedoch reicht der Ertrag für den Bedarf nicht aus, und auch hier wird daher das im höhern Norden nicht ungewöhnliche Notbrot aus Lichen islandica oder aus Calla palustris mit Spreu etc. gebacken. Der unfruchtbarste Strich erstreckt sich östlich vom Pinegafluß bis zum Ural, wo die moorige Petschorasteppe sich ausdehnt. Die Waldungen nehmen fast ein Drittel des gesamten Flächenraums ein und liefern, aus Lärchen, Fichten, Tannen, Rüstern, Erlen, Birken und Weiden bestehend, Masten, Balken, Bretter, Pech, Teer, Terpentin und Kohlen in großen Quantitäten.
Zehn Sägemühlen (1882) verarbeiten die reichen Vorräte zu Balken und Brettern. Die Bevölkerung, [* 15] (1880) 301,666 Personen oder 0,4 pro QKilometer, setzt sich zusammen aus: Lappen, westlich vom Weißen Meer (etwa 5000 Köpfe stark, getaufte Nomaden, Jäger und Fischer);
Samojeden, rechts vom Mesen bis zum sibirischen Grenzgebirge, auf den Inseln Waigatsch, Kalgujew etc. (s. d.);
Syrjänen, südlicher als die vorigen, an der Petschora (s. d.), und Ostjaken (s. d.);
zwischen diesen Völkern als Kolonisten angesiedelt sind Finnen (der größte Teil der Ackerbau und Viehzucht [* 16] treibenden Bevölkerung) und Russen, vorzüglich in den Städten.
Industrie und
Handel konzentrieren sich zum größten Teil in der Hauptstadt. Man zählte 1881 im
ganzen
Gouvernement 1635
Fabriken und industrielle Etablissements mit 2774 Arbeitern und einem Produktionswert von 2,705,167
Rubel. Nächstdem haben
Onega,
Mesen und
Kola einigen Handelsverkehr. Lehranstalten
gab es 1873: 87 mit 4332
Schülern.
Das
Gouvernement zerfällt in sieben
Kreise:
[* 17] Archangel
,
Pinega,
Mesen,
Onega,
Kem,
Cholmogory und Schenkursk.
Die Hauptstadt Archangel
(»Michaelsstadt«),
am rechten
Ufer der
Dwina gelegen, zerfällt in die
Alt- und
Neustadt,
[* 18] beide zum größten
Teil aus Holzgebäuden bestehend, und zählt (1881) 17,772 Einw.
Archangel
hat 13
Kirchen (darunter eine evangelische), ein altes
Kloster (zum heil.
Michael, nach dem die Stadt benannt ist), einen
1668-84 erbauten großen Kaufhof und eine große Schiffswerfte, zahlreiche
Fabriken (besonders Zuckersiedereien und große
Seilerbahnen) und eine bedeutende
Messe, die Margaritiussche (1. Sept. bis wurden für 1,216,000
Rub.
Waren herangeführt, für 740,000 weniger als 1879, und für 851,000
Rub. verkauft). Archangel
ist der Hauptseehafen Rußlands
am
Eismeer, der große
Stapelplatz des Handelsverkehrs auf der
Dwina, die allerdings durchschnittlich
¶
mehr
191 Tage mit Eis
[* 20] bedeckt ist. Im Verkehr von Archangel
spielt die Ausfuhr die bei weitem wichtigste Rolle; sie betrug 1883: 7,460,450
Rub., während die Einfuhr nur einen Wert von 760,740 Rub. repräsentierte. Exportiert wurden namentlich: Hafer 530,564 hl, Mehl
[* 21] und Grütze 5 ⅓ Mill. kg, Flachs 65,378 metr. Ztr., Werg 37,713 metr. Ztr., Dielen 306,478 Stand.-Dtzd.,
Leinsaat 90,194 hl. Die Einfuhr bestand im wesentlichen aus Salz,
[* 22] Stockfisch, Wein, Olivenöl u. a. Die Ausfuhr vermittelten 347 Seeschiffe
und 192 Küstenfahrer.
Von deutschen Schiffen gingen 98 ein und aus, 81 davon liefen mit Ballast ein. Der lebhafteste Verkehr wurde mit Skandinavien
und Großbritannien
[* 23] unterhalten. Archangel
ist die vierte Hauptstadt des Reichs, Sitz eines Zivilgouverneurs, eines
Bischofs, eines deutschen Konsuls und einer Admiralität und besitzt ein geistliches Seminar, ein Gymnasium und eine Schiffahrtsschule.
Auf den Triften der Umgegend von Archangel
blüht die Viehzucht. An der Mündung der Dwina liegt die Festung
[* 24] Nowodwinskaja, 1701 von
Peter d. Gr. zum Schutz des Fahrwassers erbaut. - Schon im 10. Jahrh. hatten die Normannen in der Gegend von Archangel
Handelsniederlassungen
gegründet; wichtig wurden dieselben aber erst, als 1553 die Engländer auf einer von Willoughby und Chancellor geleiteten
Expedition zur Entdeckung der nordöstlichen Durchfahrt den Seeweg nach der Dwinamündung gefunden hatten.
Der infolgedessen sich lebhaft entwickelnde Handelsverkehr zwischen den Russen und Engländern, welchen der Zar das Recht zur
Niederlassung und bedeutende Privilegien verlieh, veranlaßte 1584 die Anlegung eines Forts und sichern Stapelplatzes an der
St. Nikolasbucht im Weißen Meer, und es entstand dabei ein Ort, der anfangs Neu-Cholmogory (im südlicher
gelegenen Cholmogory hatten die Engländer bis dahin ihre Hauptniederlage), später Archangel
(Michaelsstadt) genannt wurde.
Bald befuhren auch holländische, norwegische und deutsche Schiffe
[* 25] den neuen Handelsweg, und die junge Stadt gelangte in kurzer
Zeit trotz der Aufhebung der englischen Privilegien unter dem Zaren Alexei Michailowitsch zu einer großen Bedeutung, die
sie bis auf Peter d. Gr. behauptete. Als dieser, um St. Petersburg
[* 26] zu begünstigen, einen Teil der russischen Kaufleute in
Archangel
zwang, nach der neuen Hauptstadt überzusiedeln, und Archangel obendrein mit höhern Zöllen belastete, sank Archangels
Handel
sehr und begann erst unter Katharina II., welche die ungünstigen Bestimmungen Peters aufhob, sich wieder
etwas zu heben. In neuerer Zeit wurde er besonders durch Alexander I., der den dortigen Kaufleuten ansehnliche Freiheiten gewährte,
gefördert.
Vgl. Poschmann, Beschreibung des Gouvernements von Archangel
(russisch, Archang. 1874, 2 Bde.).