Titel
Arbeiterve
rsicherung.
Mit Arbeiterve
rsicherung bezeichnet man Einrichtungen, die den
Arbeitern oder deren
Angehörigen
im Falle teilweisen oder gänzlichen
Verlustes der Erwerbsfähigkeit des Ernährers Unterstützungen zu gewähren bezwecken.
Entsprechend den verschiedenartigen Notfällen, denen die
Arbeiter ausgesetzt sind, gliedert sich die in
Kranken-,
Begräbnis-,
Unfall-,
Alters-, Invaliden-,
Witwen-, Waisen- und
Arbeitslosigkeitsversicherung.
Schon bei den alten Kulturvölkern
gab es
Kranken- und
Sterbekassen; auch die mittelalterliche, auf dem Zunftwesen beruhende Gewerbeverfassung erkannte für
Meister
und
Gesellen eine Pflicht zur Unterstützung der leidenden Genossen an. Ebenso legte die Hörigkeit der an die
Scholle gebundenen
ländlichen
Arbeiter der Gutsherrschaft die Verpflichtung auf, sich der
Unterthanen in Notfällen werkthätig anzunehmen.
Die Arbeiterve
rsicherung wurde im absoluten
Staat wesentlich gefördert; die mit gesetzlichem Beitrittszwang ausgestatteten
und unter staatlicher
Kontrolle stehenden Genossenschaften für einzelne
Berufe, insbesondere
Bergwerke und Schiffahrt, erhoben
Zwangsbeiträge von den Mitgliedern, aber auch Zwangszuschüsse der
Arbeitgeber. Dieses
System ist beispielsweise im Allgem.
Preuß.
Landrecht von 1794 vertreten, findet sich aber ziemlich gleichartig auch in den übrigen
Ländern.
- Die neuere, auf den Grundsätzen der
Gewerbe-, Zug- und Koalitionsfreiheit beruhende, der kapitalistischen Produktionsweise
entsprechende Wirtschaftsordnung hätte folgerichtig zur
Auflösung dieser Einrichtungen führen müssen.
Indessen fand sie ihre volle Verwirklichung nur in einigen außerdeutschen
Ländern, wie England,
Frankreich,
Belgien,
[* 3] während
in den deutschen
Staaten, namentlich in
Preußen,
[* 4] das
System der
Zwangskassen (s. d.) in gewissem
Umfange
aufrecht erhalten blieb, so daß die neueste socialpolit. Gesetzgebung des
Deutschen
Reichs hier teilweise an bestehende Einrichtungen
anknüpfen
konnte. Dem reinen
System der Erwerbsfreiheit entsprachen diejenigen Organisationen der Arbeiterve
rsicherung, die auf dem
Boden des
freien Associationswesens erwuchsen und namentlich in
Großbritannien
[* 5] zu großer
Ausdehnung
[* 6] gelangten:
die
Hilfskassen (s. d. und Friendly Societies), die sich meist auf
Kranken- und Begräbnisversicherung beschränken, und die
Gewerkvereine (s. d.,
Trade Unions), die neben ihren andern Obliegenheiten die meisten Zweige der Arbeiterve
rsicherung zur allseitigen
Entfaltung gebracht haben.
In eine ganz neue Entwicklungsform ist die in Deutschland [* 7] durch die socialpolit. Gesetzgebung der achtziger Jahre getreten. Diese knüpft zum Teil an das Hilfskassenwesen, zum Teil an die durch das Reichsgesetz vom eingeführte Haftpflicht (s. d.) der Eisenbahnen und industriellen Unternehmer für die Folgen von Betriebsunfällen an, zum Teil beschreitet sie völlig neue Bahnen. Sie bildet einen Versuch zur Lösung der socialen Frage, welche durch das Anwachsen der Socialdemokratie einen akuten Charakter gewonnen hatte.
Die zur Bekämpfung der letztern eingeführten Unterdrückungsmaßregeln sollten in positiver Förderung des Wohls der
Arbeiter
ihr Gegenstück und ihre Ergänzung finden.
Daß der
Staat sich in höherm
Maße, als bisher, seiner hilfsbedürftigen
Mitglieder annehme, wurde als eine
Aufgabe staatserhaltender Politik erkannt und als Ziel derselben hingestellt, auch die
besitzlosen
Klassen der
Bevölkerung,
[* 8] welche zugleich die zahlreichsten und am wenigsten unterrichteten sind, durch erkennbare
direkte
Vorteile dahin zu führen, den
Staat nicht als eine lediglich zum Schutz der besser situierten
Klassen der
Gesellschaft erfundene, sondern als eine auch ihren Bedürfnissen und Interessen dienende Institution aufzufassen.
Theoretisch
wurde der
Gedanke der erzwungenen Arbeiterve
rsicherung namentlich von
Adolf
Wagner (s. d.), vor allem von
Albert Schäffle (s. d.) ausgesprochen
und ausgestaltet, praktische Verwirklichung gab ihm Fürst
Bismarck. Im
Reichstag vertrat die Gesetzentwürfe Staatsminister
von
Bötticher.
Gegenstand der reichsrechtlichen Arbeiterversicherung
ist bisher:
1) Kranken-, 2) Unfall-, 3) Invaliditäts- und Altersversicherung. Kodifiziert ist die Versicherung zu 1 im Gesetz vom (Krankenversicherungsgesetz) mit Novelle vom zu 2 im Gesetz vom (Unfallversicherungsgesetz); zu 3 im Gesetz vom Außerdem das sog. Ausdehnungsgesetz vom (für 1 und 2), die Revision des Hilfskassengesetzes vom die Gesetze vom (Kranken- und Unfallversicherung für land- und forstwirtschaftliche Arbeiter) und vom 11. und (Unfallversicherung der Bauarbeiter und der Seeleute).
Der Hauptcharakterzug der ganzen Gesetzgebung liegt in der allgemeinen Durchführung des früher nur
vereinzelt, örtlich vorhandenen Versicherungszwanges, wodurch die Arbeiterversicherung
, gleich der Schule und dem
Militärdienst, zu einer öffentlich-rechtlichen Institution geworden ist. Dieser Zwang richtet sich nicht nur gegen die
versicherten
Arbeiter selbst, sondern auch gegen ihre
Arbeitgeber (s. d.). Die Organisation ist für die einzelnen
Zweige derselben verschieden gestaltet.
Ihre
Träger
[* 9] sind arbeiterversicherung
für die
Kranken- und Begräbnisversicherung hauptsächlich die
Orts- und Betriebs- (Fabriks -,
Bau -)
Krankenkassen und aushilfsweise die Gemeindeversicherung (s. d.), also örtlich
gegliederte
Vereinigungen der versicherten
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mehr
Arbeiter; b. für die Unfallversicherung die über das ganze Reich sich erstreckenden Berufsgenossenschaften (s. d.); c. für
die Invaliditäts- und Altersversicherung die Versicherungsanstalten, territorial gegliederte Verwaltungskörper. Neben diesen
erscheinen als weitere Träger der Arbeiterversicherung
, insbesondere der Unfallversicherung, auch das Reich, die Bundesstaaten und die größern
Gemeindeverbände (Provinzen, Kreise)
[* 11] für die von ihnen betriebenen wirtschaftlichen Unternehmungen und
Verwaltungszweige. Auch sind einige große Eisenbahn-Pensionskassen und ähnliche Kasseneinrichtungen neben der Invaliditäts-
und Altersversicherung zugelassen.
Der Kreis
[* 12] der Versicherungspflichtigen Personen ist für die einzelnen Zweige der Arbeiterversicherung
verschieden gezogen. Die Kranken- und Unfallversicherung
wurde zunächst nur für die Masse der industriellen Arbeiter eingeführt, später nach und nach auf Transportbetriebe,
Land- und Forstwirtschaft, Banken und Reederei ausgedehnt; gewisse Arbeitergruppen, insbesondere die land- und forstwirtschaftlichen,
können durch ortsstatutarische Bestimmung einer Gemeinde oder eines weitern Gemeindeverbandes dem Krankenversicherungszwang
unterworfen werden.
Die Invaliditäts- und Altersversicherung hingegen hat die gesamte männliche und weibliche Arbeiterbevölkerung einschließlich
der Dienstboten ergriffen. Den Gegenstand der Arbeiterversicherung
bilden: arbeiterversicherung bei
der Kranken- und Begräbnisversicherung die Gewährung freier ärztlicher Behandlung und Arznei, unter Umständen Verpflegung
in einem Krankenhause, ferner von Krankengeld an die durch Erkrankung erwerbsunfähigen Mitglieder und an Wöchnerinnen, und
von Sterbegeld an die Hinterbliebenen derselben; die Leistungen können auch auf Angehörige der Kassenmitglieder erstreckt
werden.
Die Unterstützungsdauer beträgt mindestens 13 Wochen; b. bei der Unfallversicherung die Fürsorge für die durch Betriebsunfälle Verletzten und deren Hinterbliebene, und zwar Ersatz der Kosten des Heilverfahrens von der 14. Woche an (bis dahin fallen dieselben der Krankenversicherung zur Last) und Gewährung einer Rente an den Verunglückten nach Maßgabe der durch den Unfall verursachten Verminderung seiner Erwerbsfähigkeit, im Sterbefall Ersatz der Beerdigungskosten und Gewährung einer in Prozenten des Jahresarbeitsverdienstes des Verunglückten abgestuften Rente an die Witwe, die Waisen und unter Umständen die Angehörigen desselben; c. bei der Invaliditäts- und Altersversicherung Gewährung einer Invalidenrente bei dauernder Erwerbsunfähigkeit und einer Altersrente nach zurückgelegtem 70. Lebensjahre, über die Höhe der zu leistenden Beiträge und der zu gewährenden Renten s. Arbeitgeber, Invalidenrente, Altersrente.
Über die Ansprüche der Versicherten auf Unfall-, Invaliden- und Altersrente entscheiden besondere aus Arbeitgebern und -Nehmern gebildete Schiedsgerichte, gegen deren Urteil Rekurs an das Reichsversicherungsamt (s. d.) zugelassen ist. An der Verwaltung sind ebenfalls Arbeitgeber und Versicherte beteiligt, und zwar bei der Krankenversicherung in dem Verhältnis von 1:2, bei der Invaliditäts- und Altersversicherung in dem Verhältnis von 1:1, und auch bei der Unfallversicherung ist den Versicherten durch gewählte Vertreter der Arbeiter Mitwirkung an der Verwaltung eingeräumt.
Die Auszahlung der Renten erfolgt durch Vermittelung der Post. An der Durchführung und Beaufsichtigung der Versicherungseinrichtungen sind zahlreiche Verwaltungsbehörden beteiligt, insbesondere das Reichsversicherungsamt und die für einzelne Staaten (Bayern, [* 13] Baden, [* 14] Hessen [* 15] u. s. w.) errichteten Landesversicherungsämter. Mit ersterm ist ein besonderes, namentlich der Invaliditäts- und Altersversicherung und statist. Zwecken gewidmetes Rechnungsbureau verbunden.
Dies ist in großen Zügen das Bild des heutigen Standes der Arbeiterversicherung
im Deutschen Reich. Mit der Invaliditäts-
und Altersversicherung hat sie ihren vorläufigen Abschluß gefunden. Die Witwen- und Waisenversicherung, für welche vielfach
die Priorität wegen größerer Dringlichkeit des Bedürfnisses beansprucht wurde, ist allerdings nur zum Teil in den Unfallversicherungsgesetzen
verwirklicht und steht im übrigen noch aus. Auch der Ausbau der Unfallversicherung ist noch nicht vollendet.
Immerhin bildet die «socialpolitische» Gesetzgebung schon jetzt ein großartiges, einheitliches Werk von gewaltigem Umfange und einschneidenden Wirkungen, von denen viele Millionen Arbeiter und Arbeitgeber betroffen werden. Ihre Beurteilung ist natürlich je nach dem wirtschaftlichen und polit. Standpunkt, den man einnimmt, sehr verschieden. Teils begegnet sie principiellem Widerspruch, namentlich wird der Versicherungszwang als unzulässig, unnötig und unwirksam bekämpft; teils werden die Ziele gebilligt, aber die zu ihrer Erreichung eingeschlagenen Wege getadelt.
Während ihr auf der einen Seite zum Vorwurf gemacht wird, daß sie durch teilweise Realisierung des socialistischen Programms
der Socialdemokratie Vorschub leiste, bemängelt diese umgekehrt das den Arbeitern Gebotene als unzureichend.
Für die Arbeiterversicherung
läßt sich namentlich Folgendes anführen: Sie befriedigt, wo nicht das dringlichste
so doch eines der wichtigsten Bedürfnisse des Arbeiters, die Sicherung seiner wirtschaftlichen Existenz. Sie entlastet nicht
nur die öffentliche und private Armenpflege, sondern setzt an die Stelle des mit einem Makel behafteten
Almosens einen durch eigene Vorsorge erworbenen Rechtsanspruch.
Allerdings ist diese Vorsorge eine erzwungene, aber sie hört darum nicht auf, Selbsthilfe zu sein, und entbehrt nicht der ethischen Bedeutung und erziehlichen Kraft. [* 16] Und nur durch den Zwang ist es erfahrungsmäßig zu erreichen, daß diese Vorsorge allgemein, gleichmäßig, rationell stattfindet. Bliebe sie der freiwilligen Initiative überlassen, so würde sie nie von der gesamten Arbeiterbevölkerung geübt werden. Diejenigen, welche sie übten, wären den Übrigen gegenüber im Nachteil, insbesondere die Unternehmer, welche Zuschüsse gäben, würden unter ungünstigern Bedingungen produzieren als ihre Konkurrenten.
Die Last der Invaliditäts- und Altersversicherung wird überhaupt nur erschwinglich, wenn die gesamten
Arbeitermassen zusammengefaßt werden. Nur der allgemeine Versicherungszwang ermöglicht die stetige Kontinuität der und
die volle Freizügigkeit unter den versicherten Arbeitern. Mit dem Grundsatz des Zwanges rechtfertigt sich auch seine Konsequenz,
die Herstellung von Anstalten, welche die Durchführung der in der vom Gesetz beabsichtigten Weise garantieren,
übrigens verbleibt der freien Vereinsthätigkeit auf dem Gebiet der Arbeiterversicherung
immer noch ein weites Feld
der Bethätigung. Die Zwangsversicherung beschränkt sich selbstredend nur auf das Allernotwendigste, die Renten erreichen
z. B. nie den vollen Lohn der Versicherten. Es können also freie
¶
1. 2. Handwerkerkaserne der «Victoria-Dwellings-Association, Limited» beim Battersea-Park in London. [* 18]
3. 4. Doppelhaus der «Berliner [* 19] Baugenossenschaft» zu Adlershof.
5. 6. Reihenhaus der Kolonie «Schederhof» von Friedrich Krupp in Essen. [* 20]
7. 8. Reihenhaus der Kolonie «Drei Linden» von Friedrich Krupp in Essen.
9. Arbeiter-Kost- und -Logierhaus des «Bochumer Vereins für Bergbau [* 21] und Gußstahlfabrikation». ¶
1. Wohnhaus für zwei Familien in Plaue.
2. Obergeschoß des Wohnhauses [* 22] Fig. 1.
3. Erdgeschoß des Wohnhauses [* 22] Fig. 1.
4. Wohnhaus [* 23] für zwei Familien in Bielefeld. [* 24]
5. Obergeschoß des Wohnhauses [* 22] Fig. 4.
6. Erdgeschoß des Wohnhauses [* 22] Fig. 4.
7. Wohnhaus für zwei Familien in Hamburg-Schiffbek.
8. Erdgeschoß des Wohnhauses [* 22] Fig. 7.
9. Garten [* 25] und Hof [* 26] zu [* 22] Fig. T.
10. Plan von Agnetapark zu Delft. ¶
mehr
Organisationen sowie Wohlfahrtseinrichtungen der Arbeitgeber ergänzend eintreten, und alle Lücken ausfüllen, welche die Zwangsversicherung gelassen hat.
Die Lasten, welche die der deutschen Industrie und Landwirtschaft auferlegt, sind schwer und werden in der Folgezeit immer höher anwachsen. Wie sie sich im einzelnen verteilen, bleibt abzuwarten. Das Gesetz bestimmt nur, wen sie in erster Linie treffen; ob und inwieweit eine Überwälzung vom Arbeiter auf den Arbeitgeber oder umgekehrt, durch Hinderungen der Lohnhöhe, oder vom Produzenten auf den Konsumenten, durch Änderungen der Warenpreise, vor sich gehen kann, wird sich nach den wechselnden wirtschaftlichen Machtverhältnissen regeln.
In gewissem Grade beeinträchtigt die Arbeiterversicherung
auch die nationale Produktion gegenüber dem
Ausland. Einige Staaten sind jedoch dem Beispiele Deutschlands
[* 28] schon gefolgt, z. B. Österreich,
[* 29] die Schweiz,
[* 30] Belgien, Frankreich,
Schweden
[* 31] und Norwegen (s. Invaliditäts- und Altersversicherung, Krankenversicherung, Unfallversicherung). Ob die Arbeiterversicherung
auch die
innerliche Überwindung der Socialdemokratie herbeiführen wird, muß dahingestellt bleiben. Auf alle Fälle sind ihre segensreichen
Folgen für die arbeitenden Klassen nicht zu unterschätzen.
Litteratur. Über Alters- und Invalidenkassen für Arbeiter (in den «Schriften des Vereins für Socialpolitik», Heft 5, Lpz. 1874);
Brentano, Die Arbeiterversicherung gemäß der heutigen Wirtschaftsordnung (ebd. 1879);
ders., Der Arbeiterversicherungszwang (Berl. 1881);
Rosin, Das Recht der Arbeiterversicherung, Bd. 1 in 2 Abteil., ebd. 1890);
Die Arbeiter-Versorgung, Centralorgan für die Arbeiterversicherung (1. bis 12. Jahrg., ebd. 1884-95);
Bornhak, Das deutsche Arbeiterrecht (Münch. 1892);
Görres, Handbuch der gesamten Arbeiter-Gesetzgebung des Deutschen Reichs (Freib. i. Br. 1892-93);
Piloty, Die Arbeiterversicherungsgesetze des Deutschen Reichs (2 Bde., Münch. 1893);
Weyl, Lebrbuch des Reichsversicherungsrechts (Lpz. 1894);
Menzel, Die Arbeiterversicherung nach österr.
Recht (ebd. 1893); Mandl, Österr. Gesetze über Arbeiterversicherung (Tl. 1-3, Wien [* 32] 1893-94).