Titel
Arbeiterve
rsicherung.
Die Arbeiterve
rsicherung hat den
Zweck, von dem
Arbeiter und seiner
Familie die aus Arbeitsunfähigkeit und Arbeitslosigkeit
erwachsenden
Gefahren dadurch abzuwenden, daß in
Zeiten des
Erwerbs gezahlte Beiträge zur Auszahlung an die Unterstützungsbedürftigen
benutzt werden. Jene
Gefahren können erwachsen durch
Tod, welcher einmal unvermeidliche größere
Ausgaben (Begräbniskosten)
veranlaßt, dann den hinterbliebenen
Witwen und Waisen ihren Ernährer entzieht, ferner durch
Krankheit, welche Lohnausfall
und infolgedessen Unterstützungsbedürftigkeit zur
Folge hat, endlich durch
Invalidität, als welche jede länger dauernde
Arbeitsunfähigkeit aufgefaßt wird.
Die Invalidität nennt man eine vorübergehende, wenn eine Krankheit nur eine gewisse Dauer überschreitet, aber Hoffnung läßt, daß der Arbeiter zu seiner frühern Beschäftigung wird zurückkehren können; sie ist eine dauernde, wenn diese Hoffnung wegen Krankheit oder Altersschwäche als ausgeschlossen erscheint. Im letztern Fall spricht man von ganzer Invalidität, wenn vollständige Arbeitsunfähigkeit und Erwerbslosigkeit vorhanden ist, von halber Invalidität, wenn der Arbeiter zwar nicht zu der frühern, aber doch zu einer leichtern, wenn auch weniger lohnenden Beschäftigung befähigt bleibt.
Außerdem kann auch Hilfsbedürftigkeit infolge von Arbeitslosigkeit eintreten. Die Erwerbslosigkeit kann durch den Arbeiter selbst (selbstverschuldete Unfälle, durch Unachtsamkeit, verkehrtes Leben veranlaßte Krankheit, Nichtbenutzung vorhandener Arbeitsgelegenheit) oder durch dritte Personen (Unfälle, Entlassung durch den Arbeitgeber) verschuldet sein, oder es liegt eine menschliche Verschuldung nicht vor (Tod, Naturgefahren, Minderung der Arbeitsgelegenheit infolge von Änderung natürlicher oder sozialer Zustände), oder es können endlich verschiedene dieser Ursachen zusammenwirken.
Der einzelne Arbeiter ist nun nicht imstande, durch Zurücklegen von Ersparnissen sich gegen diese Gefahren ausreichend zu sichern. Wenn auch, was aber keineswegs immer der Fall ist, der Arbeitslohn so hoch steht, daß bei einem den Kulturanforderungen entsprechenden Leben wirklich Erübrigungen möglich sind, und wenn auch wirklich der Arbeiter, was nicht bei allen zu erwarten, sich zu den mit dem Sparen verknüpften Entsagungen entschließt, so wird er doch nicht immer so viel rechtzeitig zu erübrigen im stande sein, daß die zur Zeit des Todes oder der Arbeitsunfähigkeit vorhandene Summe zur Deckung des Bedarfs genügt.
Bei dem einen tritt der Fall, für welchen Vorsorge getroffen werden soll, niemals oder doch erst nach sehr langer Zeit ein, bei dem andern macht er sich sehr frühzeitig mit um so größerer Wucht (lange Krankheit, große Familie) geltend. Ist hiernach nicht jeder Einzelne, wenn auf sich allein angewiesen, im stande, seinen Unterhaltsbedarf dauernd zu decken, so muß der Weg der wechselseitigen Unterstützung, der sozialen Hilfe beschritten werden. Solche Hilfe wird einmal durch gesetzliche Anerkennung von Unterstützungspflichten der Familie, der Gemeinde, des Staats gewährt, neben welchen die Privatwohlthätigkeit ergänzend wirken kann.
Solche Unterstützungen werden nie zu entbehren sein, sei es, daß es sich um Sammlungen und um Zuwendung von öffentlichen Mitteln in unvorhergesehenen Fällen eines bedeutenden Bedarfs handelt, sei es, daß Hilfsbedürftigkeit bei Einzelnen eintritt. Nun sind aber die Unterstützungen, welche als unentgeltliche Zuwendungen den Charakter der Armenpflege tragen, für sich allein weder zureichend noch empfehlenswert. Die Gaben der Armenpflege, welche auch nur subsidiär gereicht werden sollen, werden gern karg bemessen; sie können nie so organisiert werden, daß sie überall wirklichem Bedarf genügen.
Außerdem wirkt die Armenpflege leicht demoralisierend, indem sie bei schwachem Charakter Arbeitsscheu und Neigung zum Bettel großzieht und allmählich in ganzen Schichten der Bevölkerung [* 2] alles Ehrgefühl unterdrückt. Aus diesem Grund soll man suchen, dieselbe nur auf solche Fälle zu beschränken, in welchen sie unentbehrlich ist, in andern aber Einrichtungen zu schaffen, in welchen bei wohlorganisierter Hilfe der Trieb zur Arbeit und menschliche Würde gewahrt werden. Hierzu erweist sich die Versicherung als sehr zweckmäßig, welche überdies das Gefühl einer durch eigne Arbeit und Sparsamkeit ermöglichten Selbständigkeit wach erhält. Auf die Summen, welche dem versicherten Arbeiter zu zahlen sind, hat derselbe ein Recht, sie sind nicht etwa Gnadenreichnisse. Hiernach wäre notwendig:
1) Eine Krankengeldversicherung. Der Arbeiter erwirbt sich durch Zahlung von Beiträgen das Recht auf den Bezug von Summen in Krankheitsfällen für eine Zeitdauer, welche statutarisch oder gesetzlich ein bestimmtes Maß nicht überschreiten darf.
2) Eine Invalidenversicherung, welche bei vorübergehender Invalidität schon im Interesse der Kostensparung und der Verhinderung der Simulation und einer Abschiebung von Lasten zweckmäßig von Krankenkassen übernommen, bei dauernder Invalidität durch eigne Invalidenkassen bewirkt wird.
3) Eine Begräbnisgeldversicherung, welche bei den sogen. Sterbekassen erfolgt.
4) Eine Versicherung von an Witwen und Waisen zu zahlenden Summen, welche von den Witwenkassen in Rentenform für die Witwe auf Lebenszeit, für die Waisen bis zur Erreichung eines gewissen Alters entrichtet oder auch von andern Kassen in Kapitalform gewährt werden (sogen. Lebensversicherung als Kapitalversicherung auf den Todesfall). Gleichsam als Unterabteilungen zu diesen Hauptversicherungsarten erhält man die Altersversorgung, wenn nur Invalidität infolge hohen Alters in Betracht gezogen wird, die Unfallversicherung, wenn die Versicherung sich nur auf die Fälle der Erwerbsminderung erstreckt, welche durch akute äußere Veranlassung, durch Unfall, hervorgerufen werden.
Voraussetzung der Versicherung ist aber nun, daß der Versicherte auch dauernd in der Lage ist, die erforderlichen Beiträge (Prämien) zu zahlen. So ist denn weiter noch notwendig 5) eine Arbeitslosigkeitsversicherung, d. h. eine Versicherung gegen die Folgen der Arbeits-, bez. Verdienstlosigkeit und zwar, wie sie in England durch Gewerkvereine gewährt wird, nicht nur solcher Verdienstlosigkeit, von welcher der Arbeiter ohne sein Verschulden betroffen wird, sondern auch solcher, welche er freiwillig als Mitglied eines bestimmten Verbands zum Zweck der Erzielung besserer Arbeitsbedingungen (Streiks) über sich ergehen läßt.
Im allgemeinen sind für die Einrichtung der Arbeiterve
rsicherung die
Grundsätze des Versicherungswesens maßgebend. Die zu entrichtenden Beiträge
müßten sich nach der
Höhe der versicherten
Summe und nach dem
Grade der Gefährdung
(Wahrscheinlichkeit, daß
die
Gefahr eintritt) richten, so nach dem Beitrittsalter, Wohnort, Beschäftigungsart etc.;
es wäre also im
Interesse der
Billigkeit wie im
Interesse der Verhütung von
Gefahren das
Risiko möglichst zu individualisieren.
Nun zwingen aber die Besonderheiten des Arbeiterlebens
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auch zu Abweichungen von jenem Grundsatz sowie zu Einrichtungen, welche bei andern Versicherungen nicht nötig sind. Eine vollständige Individualisierung der Risikos scheitert zunächst an den Schwierigkeiten der Bemessung. Man wird sich, wenigstens solange noch keine genügenden statistischen Daten vorliegen, mit Annäherungen begnügen müssen. Dazu kommt, daß in Arbeiterkreisen vielfach mit Zähigkeit an dem Grundsatz festgehalten wird, daß alle gleichviel zahlen sollen.
Jedenfalls ist die Beitragszahlung derart zu regeln, daß ihr durch den Lohn genügt werden kann. Kleine Ratenzahlungen, welche allenfalls nur kurze Stundungen nötig machen, sind, auch wenn dadurch mehr Kosten der Erhebung erwachsen, der Entrichtung großer Beträge vorzuziehen. Streng genommen, müßte der Lohn so hoch stehen, daß er zu allen Beitragszahlungen (mit wenigen Ausnahmen) ausreicht. Alsdann sollten auch die Arbeiter allein für die Beiträge aufkommen, die Arbeitgeber aber nur so viel zahlen, daß sie dadurch der ihnen obliegenden Haftpflicht enthoben werden.
Vielen Arbeitern ist dies deswegen erwünscht, weil damit die Notwendigkeit einer Beteiligung der Unternehmer an der Kassenverwaltung entfällt. Erweist sich der Lohn als nicht zureichend, so könnten die Arbeitgeber von dem Gesichtspunkt aus zugezogen werden, daß sie in ihren Beiträgen nur unumgängliche Lohnteile entrichten. Gemeinde und Staat würden durch Neueinrichtung solcher Versicherungen von manchen Lasten befreit, welche sie seither zu tragen hatten.
Waren auch diese Lasten auf falsche Schultern gelegt, so können immerhin vorübergehend gewährte Beiträge aus öffentlichen Kassen insbesondere dann auch als gerechtfertigt erscheinen, wenn durch die der Industrie neue Lasten aufgelegt werden (Altersversorgung, frühere Geltendmachung der Invalidität etc.), welche sie in den ersten Zeiten nicht zu ertragen vermag. Die Entschädigung ist in den meisten Fällen in Rentenform zu gewähren, da nur hierdurch der Zweck dauernder Sicherstellung erreicht wird.
Dagegen ist bei der Begräbnisversicherung Kapitalzahlung am Platz, welche auch sonst in hierzu geeigneten Ausnahmefällen
gewährt werden sollte. Große Schwierigkeiten macht die Frage der Organisation der Arbeiterve
rsicherung, sobald dieselbe
sich auf alle Arbeiter erstrecken, der Unternehmer sich beteiligen und die Freizügigkeit nicht gehemmt werden soll. Von der
früher besonders bei Staatsunternehmungen vorgekommenen patriarchalischen Einrichtung, bei welcher der Arbeiter zahlte, ohne
Rechte zu haben, und seiner Ansprüche, besonders als Strafe, leicht verlustig gehen konnte, muß heute abgesehen werden.
Den Arbeitern es überlassen, sich bei beliebigen Kassen, auch Prämiengesellschaften, zu versichern, würde mit einem auszuübenden Zwang nicht verträglich sein, da derselbe vollständige Sicherstellung des Arbeiters erheischt. So bleibt denn, wenn der Arbeiter zur Versicherung gezwungen wird, nur übrig die Zwangskasse, d. h. die unter Kontrolle zu stellende, allenfalls nur durch öffentliche Organe zu verwaltende Kasse, welcher der in einem bestimmten Bezirk wohnende oder einem bestimmten Beruf angehörige Arbeiter beitreten muß, dann der Kassenzwang, welcher die Arbeiter überhaupt nur verpflichtet, einer Kasse beizutreten, welche nach gewissen Normativbedingungen eingerichtet sein und verwaltet werden muß.
Eine genossenschaftliche, auf Gegenseitigkeit beruhende Kasse würde den Vorteil guter Kontrolle und Überwachung bieten; doch würde dieselbe im Interesse der Freizügigkeit und der Sicherheit eine Kassenverbindung nötig machen. Am schwierigsten ist die wichtige Arbeitslosigkeitsversicherung. Da bei derselben verschuldete und unverschuldete Arbeitslosigkeit praktisch nicht voneinander zu scheiden sind, so kann sie nicht zum Gegenstand des Zwanges gemacht werden und wird deshalb den Arbeitervereinen (Gewerkvereinen) zu überlassen sein.
Infolgedessen wird es aber unmöglich, einen Zwang vollständig bei allen andern Versicherungen durchzuführen, bei welchen durch dauernde Zahlungen Ansprüche erworben werden (Invaliden-, Witwenversicherung). Leichter ist er durchführbar, wo nur jeweilig durch bestimmt bemessene, in kürzern Zeiträumen erfolgende Zahlungen entsprechende Rechte erworben werden (Unfallversicherung, ein großer Teil der Krankenversicherung). Vgl. auch Hilfskassen.
Ein Verzeichnis der wichtigsten Litteratur findet sich in Schmollers »Jahrbuch für Gesetzgebung und Verwaltung«, Bd. 5, S. 278. Hier mögen hervorgehoben werden: Engel, Der Preis der Arbeit (2. Aufl., Berl. 1872);
»Über Alters- und Invalidenkassen für Arbeiter. Gutachten auf Veranlassung des Vereins für Sozialpolitik« (Leipz. 1874);
M. Hirsch, [* 4] Die gegenseitigen Hilfskassen und die Gesetzgebung (Stuttg. 1876);
L. Brentano, Die Arbeiterve
rsicherung gemäß der heutigen Wirtschaftsordnung (Leipz.
1879);
Derselbe, Der Arbeiterversicherung
szwang (Berl. 1881);
Hasbach, Das englische Arbeiterversicherung
swesen (Leipz. 1883);
v. Osten, Die in Frankreich (das. 1884).