Titel
Arbeiterko
lonien,
auch Ackerbaukolonien. Als Ende der siebziger und Anfang der achtziger Jahre des 19. Jahrh. die Wanderbettelei in Deutschland [* 2] einen so bedrohlichen Umfang angenommen hatte, daß sie als wirkliche Landplage empfunden wurde, begann man nach wirksamen Mitteln zu suchen, um sich vor den Gefahren der gewerbsmäßigen Landstreicherei zu schützen, zugleich aber auch den hilfsbedürftigen, wegen Arbeitslosigkeit auf die Landstraße gewiesenen Wanderern in zweckmäßiger Weise Unterstützung zu gewähren und sie so vor dem Versinken in Arbeitsscheu zu bewahren.
Zwar hatten schon früher die evang. Herbergen (s. d.) zur Heimat und die Kolpingschen kath. Gesellenvereine (s. d.) nach dieser Richtung eine segensreiche Thätigkeit entwickelt; auch die Vereine gegen Hausbettelei (s. d.) hatten dadurch, daß sie armen Reisenden an bestimmten Gabestellen ein kleines Geldgeschenk oder Anweisungen auf Beköstigung und Nachtlager überwiesen, dem von Thür zu Thür wandernden Bettel in etwas Einhalt geboten, namentlich da, wo die Vereinszwecke, wie seit 1880 im Königreich Sachsen, [* 3] gleichsam zur Kommunalsache seitens größerer Bezirke gemacht worden waren.
Allein die Erfolge aller dieser Bestrebungen waren im ganzen dürftig und mußten es sein, weil es an einer festen Organisation der Hilfsthätigkeit für ganze Länder fehlte oder weil bloß die Bekämpfung der äußern Erscheinung des Wanderbettels zum Zweck derselben gemacht, nicht aber die Verstopfung der beiden Quellen der Bettelplage, der Liederlichkeit und der Hilflosigkeit, systematisch in Angriff genommen wurde. In dieser Richtung ging man 1880 in Württemberg [* 4] mit der Einrichtung von kommunalen Naturalverpflegungsstationen für arme Reisende einen Schritt weiter.
Durch letztere konnte der ordentliche arme Wanderer vor Not geschützt und der Geschäftsbettler von der Wanderstraße abgedrängt werden. Allein arbeitsscheuen Landstreichern leisteten gerade diese Stationen unerwünschten Vorschub, solange sie nicht auch eine Arbeitsleistung forderten. Daher mußte mit den Stationen ein Arbeitsnachweis verbunden und beim Mangel an fester Arbeitsgelegenheit die Verpflegung wenigstens von einer einmaligen ernsten Arbeitsleistung abhängig gemacht werden.
Derartig eingerichtete, in einem hinreichend dichten Netze zweckmäßig verteilte Naturalverpflegungsstationen werden gegenwärtig als das Hauptmittel zur Bekämpfung der Wanderbettelei angesehen. Sie beseitigen in der That den Thürbettel, verhindern durch in natura gewährte Speisung und Unterkunft, daß die Wanderer der Trunksucht anheimfallen, heben durch Arbeitsnachweis und die geforderte Arbeitsleistung das sittliche Selbstbewußtsein hilfsbedürftiger Reisender und besitzen in dem Arbeitszwange vor allem ein wirksames Mittel, eine getrennte Behandlung der Würdigen und Unwürdigen vorzubereiten.
Vom Standpunkte der Nächstenliebe war aber noch ein weiterer
Ausbau der geschilderten Einrichtung möglich
und erforderlich.
Arme Wanderer, die trotz redlichen Bemühens nirgends
Arbeit finden, darf man nicht dauernd von
Station zu
Station irren lassen; sie verfallen sonst der Verwahrlosung. Es gilt, ihnen für längere Zeit Unterkommen zu schaffen,
bis sie Gelegenheit zum Wiedereintritt in die wirtschaftliche Gesellschaft finden. Einrichtungen mit
diesen Zielen bieten überdies den
Vorteil, in
Not geratene Reisende innerlich zu heben und zu stärken. Pastor von
Bodelschwingh
in
Bielefeld
[* 5] verbreitete diese Ideen, unterstützt von Freunden der Innern Mission (s. d.),
mit großer Wärme
[* 6] und bethätigte sie praktisch durch
Begründung der ersten Arbeiterko
lonien Wilhelmsdorf bei
Bielefeld, nachdem
er schon jahrelang würdigen
¶
mehr
hilfsbedürftigen Wanderern in der Anstalt Bethel dauernde Unterkunft gegen Arbeit gewährt hatte. Er brachte es dahin, daß
in der benachbarten Senne ein größerer Strich unbebauten Landes erworben und, nach Einrichtung der erforderlichen Wohn- und
Wirtschaftsgebäude durch die Hände arbeitsloser Reisender, welche längere Zeit in der Kolonie Aufnahme fanden, in landwirtschaftliche
Kultur genommen wurde. Am wurde die Arbeiterko
lonie Wilhelmsdorf zu dem doppelten Zwecke eröffnet:
1) arbeitslustige und arbeitslose Männer jeder Konfession und jeden Standes, soweit sie wirklich noch arbeitsfähig sind, so lange in ländlichen und andern Arbeiten zu beschäftigen, bis es möglich geworden ist, ihnen anderweit lohnende Arbeit zu beschaffen;
2) arbeitsscheuen Vagabunden jede Entschuldigung abzuschneiden, daß sie keine Arbeit hätten. Die und Naturalverpflegungsstationen
haben sich im großen Ganzen entschieden bewährt und sich binnen wenigen Jahren lebensvoll entwickelt. Statistische Daten
über die Arbeiterko
lonien giebt die oben stehende Tabelle.
Name der Kolonie (Provinz, Staat) | Eröffnungstag | Belegbare Plätze | Aufgenommene | Entlassene | |
---|---|---|---|---|---|
seit Eröffnung bis inkl. Febr. 1895 | |||||
Wilhelmsdorf, Provinz Westfalen | 22. März 1882 | 236 | 7666 | 7430 | |
Kästorf, Provinz Hannover | 24. Juni 1883 | 200 | 4665 | 4472 | |
Rickling, Provinz Schleswig | 10. Okt. 1883 | 120 | 4933 | 4784 | |
Friedrichswille, Provinz Brandenburg | 13. Nov. 1883 | 175 | 5995 | ||
Dornahof, Königreich Württemberg I. | 15. Nov. 1883 | 100 | 3996 | 5830 | |
Seyda, Provinz Sachsen | 14. Dez. 1883 | 200 | 5073 | 3865 | 4900 |
Dauelsberg, Großherzogtum Oldenburg | 8. Febr. 1884 | 50 | 2080 | 2031 | |
Wunscha, Provinz Schlesien I. | 14. Juli 1884 | 100 | 2986 | 2865 | |
Meierei, Provinz Hannover | 25. Juli 1884 | 150 | 3534 | 3423 | |
Carlshof, Provinz Ostpreußen | 15. Okt. 1884 | 250 | 5652 | 5451 | |
Berlin mit Tegel | 1. Dez. 1884 | 260 | 5588 | 5441 | |
Ankenbuck, Großherzogtum Baden | 26. Febr. 1885 | 76 | 2071 | 2007 | |
Neu-Ulrichstein, Hessen | 1. Juli 1885 | 130 | 2763 | 2660 | |
Lühlerheim, Rheinprovinz | 15. Febr. 1886 | 125 | 2855 | 2736 | |
Schneckengrün, Königreich Sachsen | 22. Febr. 1886 | 122 | 3032 | 2943 | |
Elkenroth, Rheinprovinz (kath.) | 20. Okt. 1886 | 60 | 1421 | 1369 | |
Simonshof, Königreich Bayern I. | 1. Mai 1888 | 104 | 2626 | 2532 | |
Maria-Veen, Westfalen (kath.) | 1. Okt. 1888 | 120 | 2575 | 2454 | |
Alt-Latzig, Provinz Posen | 26. Okt. 1888 | 45 | 1098 | 1039 | |
Magdeburg, Provinz Sachsen | 23. Nov. 1888 | 70 | 1840 | 1777 | |
Geilsdorf bei Stadt Ilm, Thüringen | 28. Juli 1889 | 80 | 1349 | 1286 | |
Erlach, Königreich Württemberg II. | 1. April 1891 | 100 | 1088 | 1001 | |
Hamburg, Rothenburgsort | 1. Dez. 1891 | 110 | 963 | 855 | |
Hohenhof, Provinz Schlesien II. (kath.) | 2. Jan. 1892 | 82 | 400 | 320 | |
Hilmarshof, Provinz Westpreußen | 17. Jan. 1892 | 40 | 678 | 619 | |
Herzogsägmühle, Königreich Bayern II. | 1. Aug. 1894 | 50 | 140 | 67 | |
Im ganzen | 3155 | 77067 | 74157 |
^[Tabellenenede]
[^Leerzeile]
An der Spitze der Bewegung und der Organisation steht der Centralvorstand deutscher Arbeiterko
lonien. Die Zeitschrift «Die
Arbeiterko
lonie» (seit 1883) giebt über Einrichtung und Entwicklung fortlaufende Nachrichten.
Als eine Ergänzung der Arbeiterkolonien
sind ferner die Heimatkolonien anzusehen, deren erste im Sept. 1886 in Düring
bei Loxstedt unter dem Namen Friedrich Wilhelmsdorf mit 12 Kolonisten eröffnet wurde. Hier soll denjenigen, welche sich in
den Arbeiterkolonien
als brauchbar erwiesen haben, die Möglichkeit geboten werden, durch eigene (landwirtschaftliche)
Arbeit sich seßhaft zu machen.
Litteratur. Stursberg, über und Naturalverpflegung der wandernden Bevölkerung [* 8] (Gotha [* 9] 1883);
Huzel, Das System der kommunalen Naturalverpflegung (Stuttg. 1883);
von Bodelschwingh, Die Ackerbau-Kolonie Wilhelmsdorf (3. Aufl., Bielef. 1883);
ders., Vorschläge zur Vereinigung aller deutschen Arbeiterkolonien
(2. Aufl., ebd. 1884);
Berthold, Statistik der Arbeiterkolonien
im Deutschen Reiche
(Lpz. 1885);
ders., Die deutschen Arbeiterkolonien
, ihre Entstehung, Organisation u. s. w. (im
«Jahrbuch für Gesetzgebung, Verwaltung und Volkswirtschaft», hg. von Schmoller, Jahrg. 10, S. 453 fg.,
Lpz. 1886);
ders., Die Weiterentwicklung der deutschen Arbeiterkolonien
(Berl. und Dresd. 1889);
ders., Statistik der deutschen Arbeiterkolonien
für 1887-89
(Berl. 1891);
ders., Die deutschen Arbeiterkolonien
, 6. Folge für 1889-91 (ebd. 1893);
Evert, Entwicklung der Naturalverpflegungsstationen und in Preußen [* 10] (in der «Zeitschrift des königl. preuß. Statistischen Bureaus», 1885);
Artikel Arbeiterkolonie im «Handwörterbuch der Staatswissenschaften», Bd. 1 (Jena [* 11] 1890);
Protokolle der ordentlichen Versammlungen des Centralvorstandes deutscher in den 1.1884 fg. (Berlin [* 12] und Bielefeld);
Berichte der Vereine für in Sachsen, Bayern [* 13] und Württemberg.