Titel
Appenzell.
[* 2]
1) Der 13. Kanton
[* 3] der
Schweizer Eidgenossenschaft, ganz von dem Gebiete des Kantons St.
Gallen umschlossen, hat 419,6 qkm und
zerfällt in die beiden Halbkantone Appenzell
-Außerrhoden (260,6 qkm) und Appenzell-Innerrhoden (159 qkm).
Das Land liegt auf der nördl. und nordwestl.
Abdachung der Säntisgruppe, die sich nach der Südgrenze
des Kantons hier im Alpsteingebirge mit dem Säntis (2504 m) und dem Altmann (2435 m) zu ihren größten, mit ewigem Schnee
[* 4] bedeckten
Höhen erhebt.
Hier entspringen die beiden Hauptflüsse des Kantons, die
Sitter und deren Zufluß Urnäsch. Beide fließen zur
Thur, die
Gewässer
des nördl. Landesteils dagegen zum Rhein und zum
Bodensee. Ganz Appenzell
ist ein Bergland, dessen südl.
Ketten
den Charakter der Hoch- und Mittelalpen besitzen, während die nördlich und nordwestlich sich anschließenden Nagelfluhgebirge
ein freundliches Voralpengelände bilden. Die Bewohner, lebenslustig und aufgeweckt, lieben die körperlichen
Übungen, besonders
das Schwingen oder
Ringen und das Werfen mit großen
Steinen; sie tragen überhaupt das Gepräge des german.
Altschweizertums. Der Kanton hat mehr Wiesen und
Weiden als Obst- und Getreidebau, ist reich an
Wald und besitzt mehrere Mineralquellen;
der einst bedeutende
Ackerbau ist der
Industrie gewichen.
appenzell
Appenzell-Außerrhoden hat (1888) 260,6 qkm, 12 899 Haushaltungen und 54 109 E., 208 auf 1 qkm,
darunter 49 549
Evangelische, 4444 Katholiken und 23 Israeliten. Am wurden gezählt 51 958 E., 1870: 48 720, 1860: 48 452. Von
der
Bevölkerung
[* 5] sind 26 226 männl., 27 883 weibl.; im Halbkanton geboren 43 305, in der übrigen
Eidgenossenschaft 9061,im
Auslande 1743;
Bürger ihrer Wohngemeinde sind 19 474, einer andern Gemeinde
des Kantons 20 611, eines andern Kantons 11 888,
Ausländer 2136. Der Muttersprache nach sind 53 757 Deutsche,
[* 6] 71
Franzosen
und 240
Italiener. Die alte Landestracht ist fast ganz verschwunden.
Land- und Forstwirtschaft. Von der Fläche sind 253,6 qkm, d. i. 97,31 Proz., produktives Land: 38,3 qkm Waldungen, 215,2 qkm Acker-, Garten-, Wiesen- und Weideland. Von dem unproduktiven Lande, 7 qkm, d. i. 2,69 Proz., kommen 1,1 qkm auf Flüsse [* 7] und Bäche und 4,1 qkm auf Felsen, Schutthalden u. s. w.
Verkehrswege. An
Straßen besitzt der Halbkanton 166 km, an Eisenbahnen die
Bergbahn Rorschach-Heiden (7 km)
und die Schmalspurbahn Winkeln-Appenzell
(Appenzeller Bahn, s. d.). Eine
Straßenbahn, streckenweise mit Zahnradbetrieb, führt von
St.
Gallen nach Gais.
Die Industrie ist vertreten (1884) durch 201 Fabriken mit 4170 Arbeitern und 586 Pferdestärken und erstreckt sich auf Stickerei (155 Werkstätten mit 2629 Arbeitern), Appretur und Baumwollspinnerei; ferner bestehen 21 Bankgeschäfte und 13 Aktiengesellschaften.
Verfassung und Verwaltung. Nach der rein demokratischen Verfassung zuletzt revidiert) ist die Landesgemeinde oder die allgemeine Versammlung des Volks die höchste Behörde. Sie besteht aus allen Landleuten und den wenigstens seit einem vollen Jahre dort gesetzlich niedergelassenen schweiz. Bürgern über 18 Jahr, außer den Ehr- und Wehrlosen, und versammelt sich jährlich am letzten Sonntag im April, abwechselnd in Trogen und Hundwil, genehmigt, verwirft oder ändert die Gesetze ab und prüft die Jahresrechnung, wählt den aus 7 Mitgliedern bestehenden Regierungsrat und aus dessen Mitte den Landammann, die Mitglieder des Obergerichts sowie die Vertreter des Halbkantons in der Bundesversammlung,und erteilt das Landrecht (Indigenat).
Auf Kosten des Landes dürfen wichtige Neubauten nicht ohne Einwilligung der Landesgemeinde unternommen werden. Der Große Rat, in den jede Gemeinde auf 1000 Seelen ein Mitglied sendet, überwacht die gesamte Landesverwaltung und berät die der Landesgemeinde vorzulegenden Anträge. Die Vorgesetzten der Gemeinden, die von den «Kirchhören», d. i. von den Versammlungen stimmfähiger Gemeindegenossen und Beisassen, gewählt werden, heißen «Hauptleut' und Rät».
Der Halbkanton entsendet 1 Mitglied in den Ständerat und 3 Mitglieder in den Nationalrat. Jede Gemeinde besitzt 1 Vermittleramt und 1 Gemeindegericht; ferner bestehen 3 Bezirksgerichte in Heiden, Herisau und Teufen, 1 Kriminalgericht (7 Mitglieder) und als oberste Instanz 1 Obergericht (11 von der Landesgemeinde gewählte Mitglieder), beide in Trogen. Seit 1876 ist die Advokatur in Prozessen, die an das Obergericht gelangen können, zulässig. In kirchlicher Hinsicht ist jede Gemeinde selbständig; gemeinsame Angelegenheiten besorgt die Synode; die Katholiken stehen unter dem Bischof von St. Gallen. Die Staatsrechnung des J. 1887 zeigte eine Einnahme und Ausgabe von 470 638 Frs., wovon auf die Steuern 164 026 Frs. kamen.
Öffentliche Anstalten. Der Volksunterricht ist obligatorisch. In Trogen 1 Kantonsschule und Erziehungsanstalt mit 6 Gymnasial- und Realklassen, in Herisan, Teufen, Gais und Heiden Realschulen.
b. Appenzell
-Innerrhoden hat (1888) 159 qkm, 3163 Haushaltungen und 12 888 E., 81 auf 1 qkm,
darunter 673
Evangelische. Am wurden gezählt 12 841 E., 1870: 11 909, 1860: 11 913. Von der
Bevölkerung sind 6312 männl., 6576 weibl.;
im Halbkanton geboren 11 383, in der übrigen Eidgenossenschaft 1209, im
Auslande 296;
Bürger ihrer Wohngemeinde
sind 11 355, einer andern Gemeinde des Kantons 192, eines andern Kantons 1040,
¶
mehr
Ausländer 295. Der Muttersprache nach sind 12 849 Deutsche und 28 Italiener. In Innerrhoden hat sich die alte Landestracht noch erhalten; bunte Farben, namentlich Rot, goldene und silberne Spangen und Ketten spielen in dem sehr kleidsamen Kostüm [* 9] der Innerrhödlerinnen die Hauptrolle.
Land - und Forstwirtschaft. Das Hauptgewerbe der Bewohner, die konservativer, bequemer, aber auch minder wohlhabend sind, ist die Alpenwirtschaft. Der Innerrhödler lebt im Sommer auf der Alp, im Winter hilft er bei der Holzarbeit oder beim Sticken, das auch hier überall zu Hause ist. Von der Fläche sind 144,4 qkm, d. i. 90,82 Proz., produktives Land: 18,7 qkm Waldungen, 125,7 Acker-, Garten-, Wiesen- und Weideland. Von dem unproduktiven Lande, 14,6 qkm, d. i. 9,18 Proz., kommen 11,5 qkm auf Felsen und Schutthalden u. s. w. Die Industrie ist vertreten (1884) durch 18 Fabriken, wovon 16 Stickereien, mit 428 Arbeitern und 6 Pferdestärken. Die Straßen betragen 44,5 km.
Verfassung und Verwaltung. Nach der Verfassung angenommen und 1883 revidiert) ist Innerrhoden gleichfalls, wie Außerrhoden, ein besonderer selbständiger Freistaat. Die Landesgemeinde ist die höchste Staatsbehörde, hat die gleichen Befugnisse wie im andern Halbkanton und wählt den einzigen Nationalrat sowie den aus 9 Mitgliedern bestehenden Regierungsrat (Standeskommission), an deren Spitze der Landammann steht, und das 13 Mitglieder zählende Kantonsgericht.
Der die Gesetze vorberatende Große Rat wird von den Bezirken, und zwar 1 Mitglied auf 250 Seelen gewählt, und seine Mitglieder aus jedem Bezirk bilden für diesen die Verwaltungsbehörde. Auch hat jeder Bezirk 1 Bezirksgericht. Das Kantonsgericht (13 Mitglieder, von der Landesgemeinde gewählt) bildet die zweite, der Große Rat die höchste Instanz. Der Halbkanton sendet je 1 Mitglied in den eidgenössischen Stände- und Nationalrat. Eigentümlich ist das Verbot aller Advokatur in Rechtshändeln unter den Kantonsangehörigen. Dasselbe stützt sich auf den Grundsatz, daß jeder Landmann das Landrecht kennen soll; Auswärtigen ist die Annahme von Advokaten erlaubt. Das strengkath. Land steht mit seinen 4 Klöstern unter dem Bischof von Chur. [* 10] Der Volksunterricht ist obligatorisch. Die Staatseinnahmen betrugen 1887: 113 838 Frs., die Ausgaben 109 773 Frs. Das Wappen ist für beide Halbkantone ein aufrecht stehender schwarzer Bär in silbernem Felde.
[* 2] ^[Abb.]
2) Dorf und Lehn, Hauptort des schweiz. Halbkantons Appenzell
-Innerrhoden, in 781 m Höhe, anmutig
in dem offenen Thale der Sitter gelegen, an der Appenzeller Bahn, mit alten hölzernen Häusern, ist Sitz der Kantonsregierung
sowie Versammlungsort der Landesgemeinde und hat mit Einschluß seiner großen Gemarkung (Vorderlehn, Hinterlehn u. a.)
(1888) 4472 E., darunter 183 Evangelische, Post, Telegraph,
[* 11] große Mutterkirche des Ländchens (1826 erbaut)
mit Schädelsammlung, altertümliches Rathaus, Landesarchiv mit Urkunden, Bannern u. s. w., neues Krankenhaus,
[* 12] ein Kapuzinerkloster,
einst Landsitz der Äbte von St. Gallen, Nonnenkloster, sowie Handel mit Stickereien, Leinen- und Baumwollwaren, die im Kanton
verfertigt werden. Appenzell
ist eine der ältesten Molkenkurorte der Schweiz
[* 13] und sendet noch jetzt Senner zur
Bereitung von
Ziegenmolken in verschiedene Badeorte; es wird als Höhenkurort viel besucht und hat eine neue Badeanstalt.
[* 14] - Appenzell, bis 1597 Hauptort des ungetrennten Kantons, hat als Mittelpunkt der Kurorte Gonten (900 m), Gais (938
m) und Weißbad (820 m), sowie Ausgangspunkt der Ausflüge nach dem Säntis lebhaften Fremdenverkehr.
Geschichte. Appenzell kam seit dem 8. Jahrh. nach und nach durch Kauf und Schenkung an die Abtei St. Gallen, die hier eine landesfürstliche Gewalt begründete, und hat seinen Namen von der angeblich durch Abt Nortbert von St. Gallen im 11. Jahrh. dort gegründeten ersten Kirche (Abbatis cella genannt) des Landes. Der Druck der Äbte erzeugte zu Ende des 14. und Anfang des 15. Jahrh. einen Aufstand, und die Siege der Bergbewohner beim Dorfe Speicher an der Vögeliseck (1403) und am Stoß (1405) gaben Appenzell Unabhängigkeit und demokratische Regierungsform.
Das Land verband sich schon 1452 mit sieben Kantonen, ward aber erst 1513 förmlich in die Eidgenossenschaft aufgenommen. Nach langen Zwistigkeiten infolge der Reformation ward Appenzell 1597 durch eidgenössisches Schiedsgericht in die beiden politisch und konfessionell geschiedenen und voneinander völlig unabhängigen Landesteile Innerrhoden (katholisch) und Außerrhoden (reformiert) getrennt. Im 18. Jahrh. erzeugte die oligarchische Richtung in beiden Kantonen Unruhen. 1798 teilten sie das Schicksal der andern Kantone. (S. Schweiz.) Die Neugestaltung der Eidgenossenschaft durch die Bundesverträge von 1815 und 1848 wurde in Auherrhoden gern, in Innerrhoden nur mit Widerstreben angenommen. Bei der Abstimmung über die Bundesrevision der Schweiz 1872 verwarfen beide Halbkantone die neue Verfassung; 1874 lehnte Innerrhoden das veränderte Revisionsprojekt wieder ab, während Außerrhoden es mit bedeutender Mehrheit annahm.
Litteratur. Hahn, [* 15] Beschreibung des Kantons Appenzell (Heilbr. 1827);
Rüsch, Der Kanton Appenzell historisch-geographisch und statistisch (neue Aufl., St. Gallen 1859);
Zellweger, Geschichte des appenzellischen Volks nebst Urkunden (6 Bde., Trogen 1830-40);
ders., Der Kanton Appenzell (ebd. 1867);
Henne am Rhyn, Das Appenzeller Land (3. Aufl., Linz [* 16] 1893);
Appenzellische Jahrbücher, hg. von der appenzellischen Gemeinnützigen Gesellschaft (Trogen, seit 1854).