Titel
Appenzell
,
[* 2] Kanton [* 3] der nordöstlichen Schweiz, [* 4] ganz vom Kanton St. Gallen umgeben, 420 qkm (7,6 QM.) groß mit (1880) 64,799 Einw. Das Land ist ein wald- und wiesengrünes, mit hübschen Dörfern und zahllosen Häuschen übersäetes, von tiefen Flußtobeln (s. Sittern) durchfurchtes und von den kahlen Felswänden des Säntisgebirges (2504 m hoch) überragtes Voralpengelände, das gegen den Bodensee abfällt. Inselartig von flachem Niederland umgeben, schaut es nach allen Seiten aus, der innern Schweiz zu mehr an andre Berg- und Thalpartien angelehnt (Hinterland), nach dem Rhein und Bodensee kühner und freier vortretend (Vorderland). Der Kanton zerfällt seit 1597 infolge der Reformation in zwei selbständige Hälften: das äußere Gebiet (Außer-Roden), dessen Bewohner weit überwiegend reformiert sind, und das fast ganz katholische innere Gebiet (Inner-Roden). Die Außer-Roder sind ein geistig aufgewecktes Völkchen, haushälterisch und außerordentlich thätig. Sie pflegen den National- und Volksgesang sehr eifrig. In ihren öffentlichen Zusammenkünften ¶
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zeigt sich oft ein engherziges, ruhmrediges Wesen und viel Anhänglichkeit an altes Herkommen. Großartige Anstrengungen für Zwecke der Erziehung und Wohlthätigkeit, in neuerer Zeit namentlich auch für Straßenbauten, zieren die sozialen Bestrebungen Außer-Rodens. Die Inner-Roder stehen an geistiger Begabung nicht tiefer, sind aber durch und durch ein patriarchalischer Hirtenstand geblieben, behaglich und bequem, gemütlich, heiter, witzig, gastlich, alter Sitte ergeben, einfach und genügsam, neugierig, mit großer Vorliebe körperlichen Übungen und Spielen zugethan.
Die Frauen haben ihre bunte und die Sennen ihre wunderliche Tracht seit Jahrhunderten beibehalten. Staatsverwaltung, Schulen und Straßenwesen haben indessen angefangen, sich zu heben. Die zwei allgemeinsten Erwerbsquellen sind Viehzucht, [* 6] mehr in Inner-Roden, und Baumwollindustrie, mehr in Außer-Roden überwiegend. Kartoffeln wachsen wenig, noch weniger Getreide, [* 7] fast kein Wein, Obst nicht genügend. Der Fruchtmarkt des Landes ist das St. Gallische Rorschach; Märkte für andre Viktualien sind St. Gallen, Altstätten (ebenfalls zu St. Gallen gehörig) und Herisau, dessen Wochenmärkte von den Bauern Thurgaus befahren werden.
Der Wald, nirgends in ausgedehnten Beständen, jedoch in kleinen Stücken über das ganze Land zerstreut, genügt, wenigstens
in Außer-Roden, dem Bedarf nicht; aber man bemüht sich, dem Mißverhältnis entgegenzuwirken. Der frühere Rindviehschlag
ist soviel wie nicht mehr vorhanden. Der Hauptnutzen liegt in der Milch; Fettkäsereien finden sich fast
in allen Gemeinden, auch für die Ausfuhr arbeitend. Appenzell
ist das Land der Molkenkurorte. Inner-Roden hat sehr viele Ziegen, aus
deren Milch die Molken bereitet und zur Nachtzeit nach den Kuroten ^[richtig: Kurorten] getragen werden.
Alljährlich strömen Tausende von Kurgästen dahin, besonders nach Gais, Weißbad, Appenzell
, auch nach Gonten,
das eine Heilquelle besitzt, Heiden und Heinrichsbad. Stark ist auch der Touristenzug zum Säntis. Die Unternehmungen der St. Galler
und Appenzeller Baumwollfabrikanten sind ausgedehnt; sie beschäftigen Arbeiter selbst auf der schwäbischen Seite des Bodensees.
Den Absatz des Fabrikats besorgen manche Industrielle selbst, allein ihr Vereinigungspunkt und Markt ist
St. Gallen.
Die Handspinnerei, früher allgemein verbreitet, hat aufgehört; Weben [* 8] und Sticken sind in den Vordergrund getreten. Auch Bleichen, Appretierungen, Druckereien, Färbereien etc. florieren, namentlich in Herisau, das mit der nahen St. Galler Bahnstation Winkeln durch eine Schmalbahn verbunden ist. Neben verschiedenen Zeugen webt man hauptsächlich Musseline, Tüll, Gaze, Blattstich- und broschierte Zeuge. Wohl ein Viertel der Bevölkerung [* 9] ist mit Weberei [* 10] beschäftigt.
Neben der Handstickerei blüht nun auch die Maschinenstickerei (1100 Maschinen). Die besten Handstickerinnen findet man in Inner-Roden; unter ihren Händen entfalten sich kunstreiche Blumen, welche in Form und Farbenpracht den natürlichen kaum nachstehen. Man webt die Musseline in glatten Stücken zu Vorhängen oder zu Halstüchern, brodiert sie mit weißem Baumwollgarn zu Chemisetten, Hauben, Röcken oder mit gefärbter Baumwolle [* 11] (auch oft mit Seide) [* 12] zu Schürzen, Turbanen, Tapeten, Chorhemden, Manschetten, Bettdecken, Shawls und Schleiern.
Der interne und äußere Verkehr erforderte eine Menge schwieriger und brückenreicher Straßenzüge. Die wichtigsten laufen in St. Gallen als in einem gemeinsamen Brennpunkt zusammen; zwei Paßstraßen führen in das Rheinthal, über den Ruppen und Stoß; andre münden nach dem Toggenburg. Die Schmalbahn Winkeln-Herisau ist bis Urnäsch fortgesetzt (1875) und erstrebt Weiterbau nach Gonten-Appenzell; von Rorschach ersteigt, ebenfalls seit 1875, eine Zahnradbahn, 5½ km lang, die Höhe von Heiden.
Der Halbkanton Außer-Roden, 260,6 qkm groß mit 51,958 Einw. (darunter 3694 Katholiken), bildet nach der Verfassung vom (revidiert einen Freistaat mit rein demokratischer Verfassung und als solcher ein Glied der [* 13] Schweizer Eidgenossenschaft. Die Gesamtheit der »Landleute« und hier ansässigen Schweizerbürger übt ihre Souveränität in der Landsgemeinde, die alle Jahre, abwechselnd in Trogen und Hundwyl, gewöhnlich am letzten Sonntag des Aprils gehalten wird.
Ihr Besuch ist obligatorisch. Sie besitzt die gesetzgebende Gewalt, bestimmt die Verfassung, wählt die Standeskommission und das Obergericht sowie das Mitglied des Schweizer Ständerats, erteilt das Landrecht, bewilligt die Ausgaben für neue wichtige Bauten, nimmt die Landrechnung ab etc. Initiativvorschläge können nur durch das Mittel des Kantonsrats vor die Landsgemeinde gebracht werden; sofern dieser jedoch die Anregung ablehnt, kann der Antragsteller, aber nur vom »Stuhl« (d. h. dem erhöhten Sitz der Obrigkeit) aus, seine Sache persönlich der Landsgemeinde vortragen.
Der Kantonsrat, der in Herisau seine Sitzungen hält, besteht aus den Abgeordneten der Gemeinden (je 1 auf 1000 Seelen). Vollziehende Landesbehörde ist der Regierungsrat, aus sieben Mitgliedern; der eine der Landammänner ist als regierender Landammann der Präsident der Behörde, darf aber diese Stelle höchstens drei Jahre nacheinander bekleiden. Das Obergericht besteht aus elf Mitgliedern und hält seine Sitzungen in Trogen ab. Todesurteile dürfen nicht vollzogen werden, bevor der Kantonsrat die Begnadigung verweigert hat.
Die Synode, mit einem aus ihrer Mitte gewählten Dekan, versammelt sich in der Regel jährlich einmal, wechselweise in Trogen und Herisau. Das Kriminalgericht, vom Kantonsrat gewählt, hält seine Sitzungen in Trogen. An Stelle der hergebrachten Einteilung in Vorder- und Hinterland sind, wenigstens für die Bezirksgerichte, drei Bezirke getreten: Vorderland (Heiden), Mittelland (Teufen), Hinterland (Herisau). Die Gemeindeverwaltung, je für ein Jahr bestellt, besteht aus »Hauptleut' und Rät'«, d. h. einem Gemeinderat, dessen beide Präsidenten den Titel Hauptmann führen.
Das evangelisch-reformierte Bekenntnis ist Landesreligion; den Katholiken ist gemäß der Bundesverfassung freier Kultus zugesichert. Das Armenwesen ist Sache der Gemeinden. Die Jahresrechnung der »Landeskassa« für 1882 ergab 394,176 Frank Einnahmen und 382,674 Fr. Ausgaben. Den Hauptposten der Einnahmen bildet die Landessteuer (157,725 Fr.), den Hauptposten der Ausgaben das Straßenwesen (112,683 Fr.). Das reine Staatsvermögen betrug zu Ende des Rechnungsjahrs 790,335 Fr. Schul- und Kirchenwesen sind wesentlich Gemeindesache. Das Schulwesen gehört zu den regenerierten und umfaßt Primärschulen, Sekundär- oder Realschulen und die Kantonsschule zu Trogen.
Der Halbkanton Inner-Roden, 159 qkm mit 12,841 Einw. (darunter 545 Protestanten), bildet gemäß der neuen Verfassung vom (revidiert 1883) einen Volksstaat und ein Bundesglied der Schweizer Eidgenossenschaft. Die Staatsgewalt ruht wesentlich im Volk und wird durch die Landsgemeinde, die aus der Gesamtheit der Kantons- und ansässigen Schweizerbürger besteht, ausgeübt. ¶
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Die Landsgemeinde, deren Besuch obligatorisch ist, gibt sich Verfassung und Gesetze und wählt die obersten Landesbehörden: Standeskommission und Kantonsgericht, erteilt das Landrecht und vernimmt den Jahresbericht über die Amtsverwaltungen etc. Sie versammelt sich regelmäßig je am letzten Sonntag des Aprils. Die Standeskommission, die eigentliche Regierung des Landes, besteht aus neun Mitgliedern, von denen der regierende Landammann nach zweijähriger Amtsdauer auf das folgende Jahr nicht wieder wählbar ist.
Das Kantonsgericht besteht aus 13 Mitgliedern. Der Große Rat, aus der Standeskommission und den Volksrepräsentanten (je 1 auf 250 Seelen der Bezirksbevölkerung) gebildet, ist das Organ der gesetzgebenden Gewalt. Das Land ist in sechs Bezirke eingeteilt, deren Verwaltung auch hier die »Hauptleut' und Rät'« üben. Die Verfassung garantiert die üblichen Grundrechte wie in Außer-Roden. Die katholische Religion genießt als die Religion des Volks Schutz seitens des Staats; andern Konfessionen [* 15] ist Kultfreiheit zugesichert.
Der öffentliche Unterricht ist Sache des Staats und der Kirche, der obligatorische unentgeltlich. Inner-Roden
hat nur Primärschulen und eine Sekundärschule. Die Staatsrechnung Inner-Rodens für 1882 ergab bezüglich der Verwaltung des
»Landsäckelamts« 200,159 Fr. Einnahmen und 156,829 Fr. Ausgaben; das Vermögen zeigte an Aktiven 391,569 Fr., an Passiven 333,669
Fr. Hauptort ist der Flecken Appenzell
, ein im Thal
[* 16] der Sittern freundlich gelegener, während des Sommers sehr belebter
Ort mit einem Kapuzinerkloster und (1880) 4302 Einw. (darunter 157 Protestanten). In der Nähe die beiden Molkenkurorte Weißbad
und Gonten, ferner die Ebenalp, der Säntis etc.
[Geschichte.]
Seit dem 8. Jahrh. hatte das Kloster St. Gallen durch Kauf und Schenkung allmählich die Grundherrschaft über den
ganzen jetzigen Kanton Appenzell
erworben. Um 1070 baute angeblich Abt Nortbert ein Gotteshaus am Fuß des Säntis, das, des Abtes Zelle
[* 17] (Abbatis cella) genannt, der um dasselbe entstehenden Gemeinde und später der ganzen Gegend den Namen gab. Im J. 1345 erwarb
das Kloster mit der hohen Gerichtsbarkeit sämtliche Hoheitsrechte über das Land; aber schon 1377 zwangen
die fünf Gemeinden Appenzell
, Hundwyl, Urnäschen, Gais und Teufen den Abt Georg zu dem Zugeständnis, daß sie in ein Bündnis mit den
schwäbischen Städten treten, sich eine Landsgemeinde und einen Landrat von 13 Mitgliedern geben durften. So entstand das demokratische
Gemeinwesen, welches zuerst als »Appenzell
das
Land« bezeichnet wird.
Die Härte, womit der neue Abt Kuno von Stoffeln (1379-1411) seine herrschaftlichen Rechte durch Einzug des Todfalls, Beschränkung des freien Zugs, der freien Heirat etc. geltend machte, bewog die Appenzeller, denen sich nunmehr auch die übrigen Gemeinden des Berglands anschlossen, im Verein mit der Stadt St. Gallen sich gegen den Abt zu erheben (1401). Sie zerstörten die äbtischen Burgen, [* 18] traten, als St. Gallen vom Kampf abstand, in ein »Landrecht« mit den Schwyzern und brachten mit ihrer Hilfe dem Heer des Abtes und der mit ihm verbündeten Reichsstädte bei Vögelinseck eine schimpfliche Niederlage bei; nicht besser erging es einer österreichischen Kriegsmacht am Stoß Hierauf streiften die Appenzeller in den Thurgau, über den Rhein, überall die Burgen der Herren brechend und die Bauern zum Aufstand ermunternd, und bildeten einen »Bund ob dem See«, der sich mit reißender Schnelligkeit über die ganze Nordostschweiz und Vorarlberg bis nach Tirol [* 19] hinein verbreitete.
Eine Niederlage, welche sie 1408 bei Bregenz [* 20] durch die schwäbische Ritterschaft erlitten, löste diesen Bund zwar wieder ebenso schnell auf, ihre Freiheit aber blieb gesichert. Im J. 1411 sagten ihnen die sieben Orte der Eidgenossen (ohne Bern) [* 21] durch ein »Burg- und Landrecht« ihren Schirm zu und suchten ihre Pflichten gegen das Kloster in billiger Weise zu regeln. Allein die Appenzeller wollten von Verpflichtungen gegen den Abt nichts mehr wissen, selbst Bann und Interdikt blieben ohne Wirkung. Erst 1429 brachten die Eidgenossen einen Vergleich zu stande, wonach die Appenzeller die Entrichtung oder Ablösung der Zinsen und Gefälle verbürgten, während der Abt sich anheischig machte, ihnen den Blutbann und damit die politische Selbständigkeit zu verschaffen, was 1442 auch geschah. Im J. 1452 erlangte Appenzell infolge seiner Teilnahme am alten Zürichkrieg eine höhere Stellung in der Eidgenossenschaft, und nach den Mailänder Feldzügen wurde es zum vollberechtigten 13. Orte derselben erhoben. Die Reformation erregte anfänglich in Appenzell keine heftigen Stürme; schon 1522 entschieden sich einzelne Gemeinden dafür, während andre, namentlich die der innern Roden (Bezirke), stets beim alten Glauben fort beharrten.
Erst die Einführung des neuen Kalenders, die Aufnahme der Kapuziner im Hauptort und der Borromeische Bund entzündeten den Religionshaß in fanatischer Weise, bis nach zehnjährigen Wirren durch ein eidgenössisches Schiedsgericht die Teilung des Landes in zwei selbständige Halbkantone beschlossen wurde, die jedoch in der Eidgenossenschaft nur als Ein Ort galten. Die Reformierten zogen nach den äußern Roden, wo sie schon die Mehrheit hatten, und die Katholiken nach den innern, welche sofort dem Borromeischen und Spanischen Bund beitraten.
Anfang des 18. Jahrh. fand die Musselinfabrikation und -Stickerei in Außer-Roden Eingang und erhob es zu einem Hauptpunkt der Schweizer Industrie, während Inner-Roden seiner Hirtenbeschäftigung treu blieb. Durch die helvetische Verfassung wurden die beiden Appenzell 1798 mit St. Gallen, Toggenburg und Rheinthal zu einem Kanton Säntis verschmolzen, durch die Mediationsakte aber 1803 mit ihren Landsgemeinden wiederhergestellt. Obwohl dem Sonderbund geneigt, nahm Inner-Roden keinen Anteil daran, entzog sich aber der Truppenstellung gegen denselben, wofür es 15,000 Fr. Buße zu zahlen hatte. Um aristokratischen Tendenzen der Regierungen zu begegnen, brachte Inner-Roden 1829 seine uralte Landsgemeindeverfassung in ein systematisches Grundgesetz, was Außer-Roden 1834 that.
Letzteres trennte 1858 durch eine Verfassungsrevision die Justiz von der Verwaltung und verbesserte durch eine abermalige Revision, welche von der Landsgemeinde genehmigt wurde, den Organismus der Behörden und das Steuerwesen. Inner-Roden revidierte seine Verfassung Während Außer-Roden durch Annahme der Bundesverfassungen von 1848 und 1874 seinen eidgenössischen Sinn bethätigte, ist Inner-Roden der einzige Schweizerkanton, der seit 1848 konsequent alle Verfassungs- und Gesetzesvorlagen des Bundes verworfen hat.
Vgl. Walser, Neue Appenzeller Chronik (2. Aufl., Ebnat 1825-28, 2 Bde.; fortgesetzt von Rüsch, Trogen 1831, 2 Bde.);
Rüsch, Der Kanton Appenzell historisch, geographisch und statistisch (neue Ausg., St. Gallen 1859);
Zellweger, Geschichte des appenzellischen Volks (Trogen 1830-48, 6 Bde.);
Derselbe, Der Kanton Appenzell, Land und Volk und dessen Geschichte (das. 1867). ¶