Antizipation
(lat., »Vorausergreifung, Vorausnahme«), ein in verschiedenen Beziehungen angewendeter Ausdruck. In der Rechtswissenschaft bezeichnet Antizipation eine Handlung, die früher, als der ordnungsmäßige, gesetzlich vorgeschriebene Rechtsgang es erlaubt, vorgenommen wird; so z. B. der Antritt einer Erbschaft vor Eröffnung oder Anerkennung des Testaments, außerehelicher Beischlaf zweier später gesetzlich verbundener Eheleute etc. Im Finanzwesen bedeutet Antizipation die Vorausentnahme erst später fälliger Einnahmen. Dieselbe kann vorkommen in der Form, daß Steuervorschüsse gefordert werden, eine oft harte und bedenkliche Maßregel, oder daß die Vorausbezahlung von Steuern gegen Zinsvergütung freigestellt wird, was meist unzureichend ist, weil die Steuerpflichtigen nicht gerade auch augenblicklich zahlungsfähig sind; ferner in der Form, daß die zukünftigen Einnahmen einstweilen durch ein Anlehen verfügbar gemacht werden. Ursprünglich wurden solche Einnahmen den Gläubigern verpfändet. Später bediente man sich zu gleichem Zweck eines mit Hilfe der später eingehenden Einnahmen wieder einzulösenden Papiergeldes. So wurde 1812 die preußische Vermögens- und Einkommensteuer durch gestempelte Tresorscheine, welche die Staatskassen für bar annahmen, antizipiert. Die bei der Steuerzahlung eingehenden Scheine sollten vernichtet, die auf diese Weise nicht eingegangenen aber aus dem Steuerertrag eingelöst und vernichtet werden. Das heute angewandte Antizipationsmittel ist der Schatzschein (s. d.). Im Handel ist. Antizipation (antizipierte Zahlung, Zahlung anticipando) eine vor dem verabredeten, gebräuchlichen oder gesetzlichen Termin geleistete Zahlung. Dieselbe begründet einen Anspruch auf Zinsvergütung, welche durch Abzug eines Diskonts bewirkt wird. Im Kommissionshandel ist es häufig Gebrauch, daß der Verkaufskommissionär dem Kommittenten auf die von demselben zum Verkauf empfangenen Waren schon vor deren Absatz, oft gleich nach deren Absendung eine Abschlagszahlung bis zu zwei Dritteln des Werts entweder direkt oder in der Art macht, daß er einen vom Eigentümer auf ihn gezogenen Wechsel acceptiert. Solche Geschäfte heißen Antizipationsgeschäfte (vgl. auch Konsignation). In der Logik bezeichnet Antizipation eine Thatsache des Bewußtseins, insofern sie als wahr vorausgesetzt und als Prüfungs- oder Beweisgrund für einen andern Satz gebraucht wird. In der Rhetorik ist Antizipation s. v. w. Prolepsis. In der Medizin bedeutet Antizipation das verfrühte Eintreten von typischen Krankheits-, namentlich Fieberanfällen sowie überhaupt eine vorzeitige, dem Lebensalter des Patienten noch nicht angemessene Krankheit, z. B. die Menstruation bei kleinen Mädchen etc. In der Musik versteht man unter Antizipation das Eintreten eines oder mehrerer dem nächstfolgenden Akkord angehörender Töne auf dem leichten Taktteil: ^[img].