Feindliche Gesinnung gegenüber Angehörigen des jüdischen Volkes, deren Ursachen in selbstgewollter
religiöser Absonderung des Judentums, einer aufgezwungenen gesellschaftlichen Isolierung, Ausschluß aus vielen Berufszweigen,
allgemein als andersartig empfundenem Verhalten usf. beruht. Antisemitismus ist sehr alt und gab oft
Veranlassung zu Verfolgungen (⟶
Pogrom);
unter dem ⟶
Nationalsozialismus nahmen diese ein grauenhaftes Ausmaß an. Überwindung
des Antisemitismus gehört zu den ersten Forderungen religiöser und menschlicher ⟶
Toleranz.
Bekämpfung der Eigentümlichkeiten des Judentums, namentlich Bezeichnung für die in neuester Zeit
besonders in Deutschland,
[* 3] Rußland und Österreich-Ungarn,
[* 4] in schwächerm Maße auch in Frankreich hervortretende Bewegung, die
sich die Zurückdrängung des jüd. Einflusses auf wirtschaftlichem, gesellschaftlichem und geistigem
Gebiete zum Ziele setzt. In Deutschland tauchte die antisemit. Bewegung zu Ende der siebziger Jahre auf,
befördert durch die Eindrücke der sog. Gründerzeit und durch den konservativen Umschwung
in der innern Politik seit 1879. Litterarisch wurde die Bewegung vorbereitet namentlich durch die Schriften von Wilhelm Marr,
«Der Sieg des Judentums über das Germanentum» (Bern
[* 5] 1873); Otto Glagau, «Der Börsen- und Gründungsschwindel
in Berlin»
[* 6] (Lpz. 1876) und (als 2. Teil) «Der Börsen- und Gründungsschwindel in Deutschland» (ebd. 1877),
und Eugen Dühring,
«Die Judenfrage als Rassen-, Sitten- und Kulturfrage» (2. Aufl., Karlsr. 1881). Von
großer Wirkung war dann seit 1878 das Auftreten des Hofpredigers Stöcker in Berlin in den Versammlungen
der Christlich-socialen Partei (s. d.). (Vgl. Stöcker, Das moderne Judentum in Deutschland, Berl. 1880.) Die Erregung wuchs 1880 und
führte zu einem heftigen Broschürenkampf, an dem sich auch Gelehrte wie Treitschke («Ein Wort über unser Judentum», Berl.
1880) und Mommsen («Auch ein Wort über unser Judentum», ebd. 1881) beteiligten. 1880 wurde eine Antisemitenliga
gegründet.
Dann schied sich die Bewegung in eine sich mehr den Konservativen und Christlich-socialen nähernde Richtung unter Liebermann
von Sonnenberg undBernh. Förster, die im März 1881 den DeutschenVolksverein gründeten, und in eine radikalere, den Rassengegensatz
schärfer betonende, die von Ernst Henrici und dem Socialen Reichsverein vertreten wurde. Auf einem Kongreß
zu Cassel wurde 1886 eine Deutsche Antisemitische Vereinigung
[* 7] gegründet und gleichzeitig in Hessen,
[* 8] begünstigt durch die
bäuerlichen Verhältnisse daselbst, eine eifrige lokale Agitation betrieben, an deren Spitze der Reichstagsabgeordnete Boeckel
stand.
Auf einem Kongreß der verschiedenen antisemit. Richtungen zu Bochum
[* 9] 1889 schloß sich die Mehrheit als
Deutsch-sociale antisemitische Partei unter Liebermann von Sonnenberg zusammen, während die Minderheit unter Boeckel
und Zimmermann eine AntisemitischeVolkspartei gründete, die im Lauf der folgenden Jahre noch mehrmals den Namen wechselte.
Bei den Reichstagswahlen 1890 erlangten die Antisemiten fünf Mandate in Hessen. Als bei den Wahlen von 1893 ihre Zahl auf 16 gestiegen
war, schloß sich der größere Teil unter Vorsitz Boeckels zur Deutschen Reformpartei zusammen, während die Deutschsocialen
eine Sondergruppe bildeten. Im Okt. 1894 vereinigten sich in Eisenach
[* 10] die beiden Hauptrichtungen zur Deutsch-socialenReformpartei
unter Liebermann von Sonnenberg und Zimmermann. Der AbgeordneteAhlwardt, dessen Agitationsweise (seit 1890) unerquickliches
Aufsehen erregte,
wurde aus der Reichstagsfraktion ausgeschlossen. Mit Boeckel, der austrat, gründete
er eine neue antisemit. Volkspartei, die Juni 1895 ihren ersten Parteitag in Berlin abhielt. -
In Österreich
[* 12] förderte den Antisemitismus anfangs besonders der deutschnationale G. von Schönerer. Da dieser aber
auch gegen die Liberalen als «Judenfreunde» eiferte, so schlossen sich
bald auch die Klerikalen der Bewegung an und nahm diese einen vorherrschend antiliberalen Charakter an. Der Führer dieser
Richtung ist der WienerAdvokatLueger. Besonders in Wien
[* 13] breitete sich der Antisemitismus stark aus. Bei den Reichsratswahlen
vom März 1891 wurden in Niederösterreich 13 Antisemiten (unter 37 Abgeordneten) gewählt; im Wiener Gemeinderat erlangten
sie 1895 eine so starke Mehrheit, daß sie die WahlLuegers zum Bürgermeister durchsetzen konnten. - In Frankreich wurde der
Antisemitismus erweckt durch Drumonts Buch «La France juive» (Par. 1886). - In Rußland trat zu den socialen Ursachen
des Antisemitismus noch religiöser Fanatismus hinzu. Den Anstoß zur Bewegung gaben die tumultuarischen Judenverfolgungen 1881 in Südrußland
und in Polen. Am wurde eine Kommission zur Untersuchung der Judenfrage eingesetzt, die einige
die Rechte der Juden beschränkende Punkte aufstellte. Nach und nach wurden die Maßregeln gegen die Juden verschärft, so daß
seit 1891 eine starke Auswanderung derselben erfolgte. -
Vgl. von Brüggen, Rußland und die Juden (Lpz. 1882), und im allgemeinen
noch Lombroso, Der und die Juden im Lichte der modernen Wissenschaft (deutsch von Kurella, ebd. 1894).