Wie nämlich dieses vor dem Erscheinen des Messias eine furchtbare Zerrüttung aller sittlichen Verhältnisse (Geburtswehen
des Messias) erwartete, so das Urchristentum vor der gehofften Wiedererscheinung Christi, und wie das BuchDaniel den AntiochosEpiphanes als den Gottesfeind schildert, um durch die Aussicht auf seinen gewissen Untergang über die Drangsale
der Gegenwart hinwegzuheben, so erscheint in der Offenbarung des JohannesNero in gleicher Stellung.
Neuerdings sollte 1805 mit Napoleon I. und 1848 mit den Revolutionsmännern die Zeit des Antichrists anbrechen. Die älteste
poetische Darstellung derAntichristsage ist das Gedicht Muspilli (s. d.); von spätern Schriften über den Gegenstand, die
sich durch das ganze Mittelalter hinziehen, erinnern wir an die der Dichterin Ava (gest. 1127), an das
Mysterium »Ludus paschalis de adventu et interitu Antichristi«, das früher dem Wernher von Tegernsee zugeschrieben wurde, an den
Abschnitt »Von dem endechriste« in Freidanks »Bescheidenheit« u. a.
Vgl. Philippi, Die kirchliche und biblische Lehre
[* 3] vom Antichrist (Gütersl.
1877).
Widerchrist, bei LutherEndechrist, nach der schon in der christl. Urzeit ausgebildeten Vorstellung eine
vom Satan gesendete Persönlichkeit, die kurz vor der erwarteten zweiten Erscheinung Christi alle Macht des Bösen in der Welt
zum Kampfe gegen die christl. Kirche zusammenfaßt, danach aber durch den wieder erschienenen Christus überwunden wird. Die
Vorstellung ist wahrscheinlich nicht schon auf jüdischem, sondern erst auf christl. Boden entstanden und
hat erst unter dem rückwirkenden Einflusse des Christentums auch im spätern Judentume Eingang gefunden.
In den Reden Jesu wird zwar seine eigene Wiederkunft, der die Erscheinung vieler falscher (Pseudo-) Messiasse und Apostel (Matth.
24, 5.23.24). vorhergehen werde, aber nicht ein persönlicher Gegenmessias geweissagt. Erst die älteste Kirche hat die Begriffe
und Pseudochrist verbunden und dahin entwickelt, daß der «Mensch der Sünde» oder der Antichrist sich selbst für Christus, ja für
Gott ausgeben werde
(2 Thess. 2,3. fg.). Infolge der Christenverfolgung unter Nero gewöhnten sich die Christen, in dem röm.
Weltreiche die Konzentration aller dem Reiche Christi feindseligen Mächte, in Nero selbst aber den persönlichen
Antichrist zu erblicken, von dem eine weit verbreitete, bis ins 5. Jahrh. erhaltene
Sage erzählte, daß er nicht gestorben sei und dereinst zum Kampfe gegen das Messiasreich wiederkehren werde.
Dieser Vorstellung gemäß beschrieb die Offenbarung des Johannes (s. Apokalypse und Nero) das heidnische Rom.
[* 5] Nachmals
ist die Vorstellung vom Antichrist namentlich von denjenigen Kirchenlehrern ausgebildet worden, die überhaupt einer mehr sinnlichen
Anschauung von den «letzten Dingen» huldigten. Die Erwartung seiner
Erscheinung war besonders lebhaft bei den Parteien, die noch im 2. und 3. Jahrh. die baldige
Wiederkunft Christi zur Stiftung des Tausendjährigen Reichs erwarteten. (S. Chiliasmus.) Dagegen trat diese
Vorstellung in der geistigen Anschauungsweise der Alexandrinischen Schule (s. d.) in den Hintergrund und der Antichrist wurde
auch späterhin meist nur abstrakt als Personifikation des Irrtums und des Abfalls vom Glauben verstanden.
Seit dem 13. Jahrh. wurde es in den Parteien und Sekten, die sich vom Papsttum
entfernt hatten, gebräuchlich, den in der röm. Hierarchie und der Person des Papstes zu finden. So u. a. Occam, Wiclif, die
Reformatoren; ja der Satz, daß der Papst der Antichrist sei, ging durch die Schmalkaldischen Artikel sogar über in den kirchlichen
Lehrbegriff der Lutheraner. In der griech.-morgenländ. Kirche wurde vornehmlich seit dem 15. Jahrh. die
saracen.-türk. Herrschaft oder auch Mohammed zum den schon Papst Innocenz III. 1213 als solchen
bezeichnet hatte.
Beim Eintritt des Jahres 1000, beim Beginn der Kreuzzüge, beim Hereinbrechen des SchwarzenTodes und anderer Heimsuchungen
glaubte man die Ankunft des Antichrist nahe. Noch in neuester Zeit tauchte die Vorstellung auf: so meinte man 1805 mit
Napoleon I., 1848 und 1849 mit der Revolution, dann mit Napoleon III. den Antichrist gekommen. (Vgl. Chiliasmus.) Für die urchristl.
Vorstellung vom Antichrist als dem wiederkehrenden Nero vgl. Renan, L'Antichrist
(Par.
1873; deutsch Lpz. 1873); Philippi, Die biblische und kirchliche
Lehre vom Antichrist (Gütersloh 1877). - In der Poesie erscheint der Antichrist namentlich in althochdeutscher Zeit, zuerst
im Muspilli (s. d.), dann öfter in Gedichten über den Jüngsten Tag und den Weltuntergang, so bei der Ava (s. d.), bei Freidank
(s. d.) in einem Kapitel «von dem Endechriste», vor allem in dem «Ludus de Antichristo»
(Spiel vom Antichrist),
einem lat., als Oratorium gedachten Drama mit reicher, meist stummer Handlung, von einem bedeutenden, sehr
patriotisch gesinnten deutschen Dichter um 1060 auf Andeutungen in Adsos Traktat«De Antichristo» mit wunderbarem Geschick
aufgebaut. Der deutsche Kaiser (dem Dichter schwebt Barbarossas Heldengestalt vor) erkämpft alle Reiche der Welt;
der Antichrist, dem die Heuchler den Weg bahnen, gewinnt schnell alle Fürsten, nur der Kaiser widersteht und besiegt ihn. Als auch
er, durch Scheinwunder überzeugt, dem Antichrist huldigt, schreitet Gott ein. BesteAusgabe von W. Meyer (Münch. 1882), Verdeutschung
und Erklärung von von Zezschwitz, «Das Drama vom Ende des röm. Kaisertums und von der Erscheinung des
Antichrist» (Lpz. 1878).