Antichrist,
Widerchrist, bei Luther Endechrist, nach der schon in der christl. Urzeit ausgebildeten Vorstellung eine vom Satan gesendete Persönlichkeit, die kurz vor der erwarteten zweiten Erscheinung Christi alle Macht des Bösen in der Welt zum Kampfe gegen die christl. Kirche zusammenfaßt, danach aber durch den wieder erschienenen Christus überwunden wird. Die Vorstellung ist wahrscheinlich nicht schon auf jüdischem, sondern erst auf christl. Boden entstanden und hat erst unter dem rückwirkenden Einflusse des Christentums auch im spätern Judentume Eingang gefunden.
In den Reden Jesu wird zwar seine eigene Wiederkunft, der die Erscheinung vieler falscher (Pseudo-) Messiasse und Apostel (Matth. 24, 5.23.24). vorhergehen werde, aber nicht ein persönlicher Gegenmessias geweissagt. Erst die älteste Kirche hat die Begriffe und Pseudochrist verbunden und dahin entwickelt, daß der «Mensch der Sünde» oder der Antichrist sich selbst für Christus, ja für Gott ausgeben werde (2 Thess. 2,3. fg.). Infolge der Christenverfolgung unter Nero gewöhnten sich die Christen, in dem röm. Weltreiche die Konzentration aller dem Reiche Christi feindseligen Mächte, in Nero selbst aber den persönlichen Antichrist zu erblicken, von dem eine weit verbreitete, bis ins 5. Jahrh. erhaltene Sage erzählte, daß er nicht gestorben sei und dereinst zum Kampfe gegen das Messiasreich wiederkehren werde.
Dieser Vorstellung gemäß beschrieb die Offenbarung des Johannes (s. Apokalypse und Nero) das heidnische Rom. Nachmals ist die Vorstellung vom Antichrist namentlich von denjenigen Kirchenlehrern ausgebildet worden, die überhaupt einer mehr sinnlichen Anschauung von den «letzten Dingen» huldigten. Die Erwartung seiner Erscheinung war besonders lebhaft bei den Parteien, die noch im 2. und 3. Jahrh. die baldige Wiederkunft Christi zur Stiftung des Tausendjährigen Reichs erwarteten. (S. Chiliasmus.) Dagegen trat diese Vorstellung in der geistigen Anschauungsweise der Alexandrinischen Schule (s. d.) in den Hintergrund und der Antichrist wurde auch späterhin meist nur abstrakt als Personifikation des Irrtums und des Abfalls vom Glauben verstanden.
Seit dem 13. Jahrh. wurde es in den Parteien und Sekten, die sich vom Papsttum entfernt hatten, gebräuchlich, den in der röm. Hierarchie und der Person des Papstes zu finden. So u. a. Occam, Wiclif, die Reformatoren; ja der Satz, daß der Papst der Antichrist sei, ging durch die Schmalkaldischen Artikel sogar über in den kirchlichen Lehrbegriff der Lutheraner. In der griech.-morgenländ. Kirche wurde vornehmlich seit dem 15. Jahrh. die saracen.-türk. Herrschaft oder auch Mohammed zum den schon Papst Innocenz III. 1213 als solchen bezeichnet hatte.
Beim Eintritt des Jahres 1000, beim Beginn der Kreuzzüge, beim Hereinbrechen des Schwarzen Todes und anderer Heimsuchungen glaubte man die Ankunft des Antichrist nahe. Noch in neuester Zeit tauchte die Vorstellung auf: so meinte man 1805 mit Napoleon I., 1848 und 1849 mit der Revolution, dann mit Napoleon III. den Antichrist gekommen. (Vgl. Chiliasmus.) Für die urchristl. Vorstellung vom Antichrist als dem wiederkehrenden Nero vgl. Renan, L'Antichrist (Par. 1873; deutsch Lpz. 1873); Philippi, Die biblische und kirchliche Lehre vom Antichrist (Gütersloh 1877). - In der Poesie erscheint der Antichrist namentlich in althochdeutscher Zeit, zuerst im Muspilli (s. d.), dann öfter in Gedichten über den Jüngsten Tag und den Weltuntergang, so bei der Ava (s. d.), bei Freidank (s. d.) in einem Kapitel «von dem Endechriste», vor allem in dem «Ludus de Antichristo» (Spiel vom Antichrist),
einem lat., als Oratorium gedachten Drama mit reicher, meist stummer Handlung, von einem bedeutenden, sehr patriotisch gesinnten deutschen Dichter um 1060 auf Andeutungen in Adsos Traktat «De Antichristo» mit wunderbarem Geschick aufgebaut. Der deutsche Kaiser (dem Dichter schwebt Barbarossas Heldengestalt vor) erkämpft alle Reiche der Welt; der Antichrist, dem die Heuchler den Weg bahnen, gewinnt schnell alle Fürsten, nur der Kaiser widersteht und besiegt ihn. Als auch er, durch Scheinwunder überzeugt, dem Antichrist huldigt, schreitet Gott ein. Beste Ausgabe von W. Meyer (Münch. 1882), Verdeutschung und Erklärung von von Zezschwitz, «Das Drama vom Ende des röm. Kaisertums und von der Erscheinung des Antichrist» (Lpz. 1878).