Anthropoge
ographie.
Indem die Gegensätze von Bodengüte und Klima [* 2] schon auf den niedrigsten Kulturstufen tief einschneidende Unterschiede der Lebensbedingungen hervorrufen, zwingen sie die Vergesellschaftungen der Menschen zu verschiedenen Arten des Wirtschaftslebens und damit der Daseinsform überhaupt; sie bedingen Wanderungen, d. h. die Anfänge und Weiterentwicklung des Verkehrs. Die Siedelungen, und zwar ebensowohl das unscheinbarste Einzelgehöft wie die größte Weltstadt, sind nach ihren Anfängen und nach der Art ihres Wachstums in erster Reihe durchaus von den geogr. Verhältnissen der Örtlichkeit abhängig, die auch den Wert und die Bedeutung einer bewohnten Erdstelle für die weitere Umgebung oder für eine größere Gesamtheit, einen Stamm, ein Volk, einen Staat bedingen.
Und schließlich verleiht jede Landschaft der in ihr ansässigen Bevölkerung, [* 3] deren Erwerbsleben, Thätigkeit und Denkweise sie durch Generationen hindurch in ganz bestimmter Weise beeinflußt, einen ausgeprägten Charakter, der z. B. Gebirgsstämme von Küstenbevölkerungen, Tropenbewohner von Polarvölkern scharf unterscheidet. Freilich fällt hierbei das nichtgeogr. Moment der geistigen Veranlagung oder der kulturellen Entwicklungsstufe eines Volks schwer in die Wagschale, indem es selbstverständlich principiell unterscheidend wirkt, ob ein tief stehendes Naturvolk sich den Einflüssen eines Erdraumes machtlos ausgesetzt sieht, oder ob ein Volk mit vergleichsweise hoher Kultur diese Einflüsse mehr oder weniger brach zu legen im stande ist und so der Landschaft mehr seinen Stempel aufdrückt, als von ihr abhängig wird. Man vergleiche, um diesen Gegensatz in seinem ganzen Gewichte zu ermessen, z. B. nur das geogr. Gesamtbild der Vereinigten Staaten [* 4] Amerikas von heute mit dem ihres Gebietes vor der Zeit der europ. Besiedelung.
Indem also die Anthropoge
ographie zeigt, in welcher
Weise die menschlichen Vergesellschaftungen von den natürlichen Zuständen der Wohnsitze
bedingt sind, und wie andererseits der
Mensch kleinere und größere Erdräume in tief einschneidender
Weise umzugestalten und sich auf diese
Weise erst dienstbar zu machen vermag, bedarf sie zu ihren Untersuchungen und Schlußfolgerungen
natürlich in ausgedehntester
Weise der Rücksichtnahme auf die Zeit, da nur in langen
Perioden der Prähistorie und der Geschichte
die in Rede stehenden Einflüsse ihre Wirkungen ausüben konnten und können. Die Bezeichnung historische
Geographie für Anthropoge
ographie ist daher wohl berechtigt; nur ist zu beachten, daß sie ab und zu auch in anderm
Sinne gebraucht wird, nämlich so, daß es sich um die geogr. Zustände bestimmter Epochen
handelt. In diesem
Sinne spricht man z. B. von einer Geographie
Italiens
[* 5] zur Zeit des röm. Kaiserreichs
oder allgemein von einer mittelalterlichen Geographie u. s. w. Das Wort Anthropoge
ographie ist
also jedenfalls vorzuziehen.
Sucht man das Forschungsgebiet der Anthropoge
ographie genau zu umgrenzen, so wird man als ihre allgemeine
Aufgabe erkennen, den Einfluß der
Naturbedingungen, also z. B. der
Lage in einem Kontinent, auf einer
Insel oder Halbinsel, der
Größe des
verfügbaren Raumes, der Art seiner Umgrenzung, der Bodenunebenheiten, der
Flüsse,
[* 6]
Küsten, Seen,
des
Klimas, des Pflanzenkleides
der Erde, darzuthun, und zwar den Einfluß auf die Art,
Größe, Verteilung der Siedelungen, auf die räumliche
Ausdehnung
[* 7] der
Völker und ihrer Kulturkreise, auf den Verkehr und seine vielseitigen, besonders wirtschaftlichen
Wirkungen.
Man kann also Siedelungskunde, Verkehrs- und Wirtschaftsgeographie als wichtige Hauptteile der Anthropoge
ographie aufstellen.
Auch die politische Geographie, die sich mit den Besitzverhältnissen der menschlichen
Staaten und deren
Gliederung zu einer
bestimmten Zeit befaßt, ist ein Zweig der der für zahlreiche anthropogeogr.
Untersuchungen die naturgegebene
Form ist, in welche sich alles der
Statistik zugängliche geogr. Material am bequemsten einfügt, da eben die
Zahlen der
Statistik
an die
Erhebungen innerhalb polit. Grenzen
[* 8] gebunden sind.
Wenn häufig gesagt wird, es falle der Geographie die schöne
Aufgabe zu, Vermittlerin und Bindeglied zu sein zwischen den
Welten der historischen und der Naturwissenschaften, so trifft das sicherlich ja allermeist zu für die
Anthropoge
ographie, welche eben das abgerundete länderkundliche
Bild einer Erdstelle nur dann vollständig vor
Augen führen kann, wenn sie
den jeweiligen geogr. Gesamtzustand des
Landes und seiner Bewohner als einen naturbedingten auffaßt.