Titel
Ansteckung
(lat. Infectio), die
Übertragung eines eigentümlichen, nach Art eines
Giftes wirkenden
Stoffs von außen her auf den tierischen
Organismus, ist die
Ursache zahlreicher, überaus wichtiger Erkrankungen, welche im
allgemeinen mit dem
Namen der Infektionskrankheiten belegt werden. Die Ansteckung
geschieht entweder von
Person zu
Person, durch
Kontagium,
oder sie erfolgt ohne direkte Berührung mit Kranken vom
Boden oder der
Luft her,
Miasma, oder es findet
bei einer und derselben
Krankheit bald die eine, bald die andre Art der
Aufnahme oder beide zusammen statt, also eine kontagiös-miasmatische
Ansteckung.
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Ein besonderer Wert kommt indessen dieser Einteilung nicht zu. Kein Kapitel aus der ganzen Medizin hat in neuester Zeit so viele
Bearbeitung und Änderung erfahren wie die Lehre
[* 3] von der Ansteckung
und den ansteckenden Krankheiten; jeder Versuch einer Gesamtübersicht
kann nur Geltung beanspruchen für den Tag, an dem er niedergeschrieben ist. Es ist daher im folgenden
darauf zu achten, was als feststehend, was als wahrscheinlich und was als möglich bezeichnet ist; die wesentlichen Fragen
beziehen sich 1) auf die Natur des Ansteckung
sstoffs, 2) auf die Art, wie derselbe wirkt, und 3) auf die Krankheitserscheinungen,
welche er als Reaktion des tierischen Organismus hervorruft.
Rechnen wir im Anschluß an die geschichtliche Entwickelung unsrer Kenntnisse jegliche Art von Infektion oder Miasma (Verunreinigung)
hierher, so kennen wir den Ansteckung
sstoff am besten bei der Krätze, Räude, der Trichinen- und andern Wurmkrankheiten. Bei
ihnen ist 1) kein Zweifel über das Wesen des Ansteckung
sstoffs, es sind in allen Fällen lebende niedere
Tiere oder Larvenzustände derselben;
2) läßt sich der Weg, auf dem sie in den Körper eindringen, verfolgen, ihre Wirkung meist als rein mechanische feststellen;
3) kennen wir genau diejenigen Krankheits- und Heilungsvorgänge, mittels deren sich der Tierkörper gegen die Eindringlinge zu wehren vermag. Nächstdem kennen wir am besten die Vermittler einiger Hautkrankheiten, [* 4] des Erbgrindes (Favus), der ansteckenden Flechten [* 5] (Herpes tonsurans) und der Pityriasis versicolor. Es sind dies Fadenpilze, welche in Aussehen und Fruchtbildung dem Milchschimmel nahestehen, wahrscheinlich Abkömmlinge desselben sind; sie gelangen durch direkte »Kontagion« oder mittelbare Übertragung auf die Haut [* 6] von Tieren und Menschen, keimen daselbst und rufen dadurch oberflächliche Entzündungen hervor, die selten tiefer in die Lederhaut vordringen.
Hier ist es schon zweifelhaft, ob die Wirkung rein mechanisch ist, oder ob etwa gebildete chemische Stoffe den Reiz auslösen;
es ist auch fraglich, weshalb nicht jede Tierart oder jeder Mensch für diese Ansteckung
empfänglich ist, so
daß man den nicht eben klaren Begriff einer besondern Anlage (Prädisposition) zu Hilfe nehmen muß. Noch viel verwickelter
aber werden die Probleme bei den mit Fieber verbundenen Infektionskrankheiten im engern Sinn. Beim Milzbrand, der Tuberkulose,
dem Pockenlymphegift (Vaccina), dem größern Teil der Wundkrankheiten (Pyämie), dem Hospitalbrand und Kindbettfieber, dem
Rotz, Tripper wissen wir, daß sie durch niederste pflanzliche Keime (Bakterien) hervorgebracht werden, sobald diese in lebensfähigem
Zustand direkt in die Blutbahn hineingelangen.
Wir wissen ferner, daß diese Keime sich teils in den Geweben, in den Wundrändern, ja selbst im Blut vermehren, daß sie später
absterben und mit dem Harn ausgeschieden werden; aber über das Zustandekommen der fieberhaften Erscheinungen,
der nervösen Störungen und endlich des Todes sind wir noch äußerst mangelhaft unterrichtet. Bei einer andern Gruppe von
Krankheiten, welche durch Ansteckung
vermittelt werden, beim Rückfalltyphus, dem Unterleibstyphus, dem Aussatz, den Pocken, dem Wechselfieber,
einigen Herzklappenentzündungen, haben wir zwar einige Kenntnis über die Formen und die gleichfalls pflanzliche
Natur des Krankheit erregenden Stoffs; aber wir kennen nicht die Wege, auf denen die kleinen Organismen in die Blutbahn gelangen,
wir wissen nichts über ihre chemische Wirkungsweise und noch weniger, weshalb sie sich immer in ganz bestimmten Organen ansiedeln,
und
weshalb die Gewebe
[* 7] stets in derselben »spezifischen« Weise durch ganz typische, anderweit nicht vorkommende
Reaktionen darauf antworten. Es bleibt dann endlich eine ansehnliche Zahl von wichtigen Krankheiten übrig, bei denen wir Sicheres
weder über die Pilznatur des Ansteckung
sstoffs noch über seine Verschleppung oder über seine Wirkung, geschweige denn über
seine Beziehungen zu den Geweben beibringen können; es gehören hierher die Ruhr, der Flecktyphus, das
gelbe Fieber, die Pest, Masern, Scharlach, Grippe, Tollwut, Syphilis u. a. Alle diese haben nun in ihrer Verbreitung, in dem Verlauf
und dem Erlöschen der Epidemien so mancherlei Übereinstimmung mit den besser gekannten Arten der Ansteckung
, daß die frühere Annahme
eines gasförmigen Infektionsstoffs jetzt allgemein aufgegeben und durch die Vermutung eines parasitischen Wesens ersetzt ist.
Allen insgesamt ist das Vorkommen eines sogen. Vorläufer-, Prodromal-, Inkubations- oder Latenzstadiums eigen d. h. einer freien
Zeit, welche zwischen Ansteckung
und dem Ausbruch der Krankheit liegt; alle verlaufen mit Störungen, welche auf eine Veränderung der
gesamten Blutmasse schließen lassen; die meisten befallen dasselbe Individuum nur einmal, bei mehreren derselben gewährt
eine Impfung
[* 8] oder Durchseuchung einen Schutz gegen spätere der gleichen oder ähnlichen Krankheit. Es ist daher wahrscheinlich,
daß man in Zukunft auch bei dieser großen Anzahl von Ansteckungen
pflanzliche Keime als eigentliche Erreger auffinden
und ihre Rolle durch Versuche über allen Zweifel stellen wird.
Daß wir über die Wege, auf denen Ansteckung
skeime in den Körper gelangen, so wenig orientiert sind, liegt an der außerordentlichen
Kleinheit der parasitären Wesen, dann aber daran, daß die einzigen Pilze,
[* 9] welche man bisher in größerer Menge rein darstellen
kann (bösartige Schimmelpilze, Milzbrand-, Tuberkulose-, Rotz- und Fäulnisbakterien), nur bei direkter
Impfung ins Blut ihre schädlichen Wirkungen entfalten, dagegen die unverletzten Oberflächen der Haut, des Darms und der Lungen
nicht anzugreifen vermögen.
Die Dauerhaftigkeit des Ansteckung
sstoffs ist äußerst verschieden, etwas Genaueres ist nur über die Stäbchenbakterien
des Milzbrandes bekannt, welche sehr bald bei eintretender Fäulnis ihre Keimkraft verlieren, aber von
außerordentlicher, Jahre und Jahrzehnte überdauernder Zähigkeit sind, sobald sich in ihnen sogen. Dauersporen gebildet haben,
ein Vorgang, der bei höherer Temperatur 1-2 Tage nach dem Tod eines milzbrandkranken Tiers einzutreten pflegt.
Außerordentliche Fortschritte hat die Lehre über die Ansteckung dadurch gemacht, daß die nur mikroskopisch erkennbaren kleinsten Pilze, Monaden und Bakterien auf künstlichem Nährboden rein gezüchtet und dann verimpft wurden. Versuche dieser Art haben ein unzweifelhaftes Resultat geliefert beim Milzbrand, einigen Wundkrankheiten, bei gewissen Verschimmelungen durch Aspergillus glaucus, bei der Tuberkulose, dem Rotz und der Hühnercholera, und es ist vornehmlich mittels vervollkommter Methoden eine Reihe der wichtigsten Entdeckungen auf diesem Gebiet von Koch gemacht worden. Die Forderung, welche diesen Forschungen zu Grunde liegt, ist:
1) Aufsuchen der pflanzlichen Keime in Blut und Organen des kranken Menschen, 2) Reindarstellung in dem Kulturapparat.
3) Hervorbringen der gleichen Krankheit durch Impfung der kultivierten Pilze beim Tier.
Da sich nun erfahrungsgemäß manche Krankheiten, wie Syphilis, Wechselfieber u. a., nicht auf Tiere ¶
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übertragen lassen, so sind hier wiederum der Forschung Schranken gesetzt, welche vorläufig noch nicht überwunden werden können. Das ideale Ziel des Strebens ist dann das Auffinden wirksamer Mittel, um die Entwickelung der Krankheitserreger zu vernichten, wie es bei der Wundbehandlung durch Karbol, Salicyl, Sublimat etc. geschieht, und wie es beim Wechselfieber durch innern Gebrauch von Chinin und beim Gelenkrheumatismus durch innere Gaben von Salicylsäure bereits erreicht ist (s. Impfung).
Die Frage, ob die krankmachenden Pilze ganz besondere und unveränderliche Arten sind, läßt sich bis jetzt nur sehr unvollkommen beantworten; doch steht fest, daß in gewissem Grad Umwandlungen schädlicher Organismen in unschädliche künstlich durch Kulturen möglich sind.
Vgl. Griesinger, Infektionskrankheiten (2. Aufl., Erlang. 1864);
Nägeli, Die niedern Pilze in ihren Beziehungen zu den Infektionskrankheiten (Münch. 1877);
R. Koch, Wundinfektionskrankheiten (Berl. 1879);
»Mitteilungen aus dem Kaiserlichen Gesundheitsamt« (das. 1881).