Anschauung
,
eigentlich die
Vorstellung des Gesichtssinns, namentlich sofern sie im einzelnen deutliche und im ganzen
wohlabgegrenzte
Bilder liefert; dann aber die
Auffassung der Sinnenbilder überhaupt. Die Anschauung
ist, im Unterschied vom allgemeinen
und abstrakten
Begriff (s. d.), einzeln und konkret, zugleich aber in
bestimmter
Beziehung zum
Begriff zu denken. So giebt der
Begriff vom Dreieck
[* 2] nur die allgemeinen
Merkmale, die jedem Dreieck
wesentlich zukommen, wogegen die Anschauung
das im
Begriff allgemein Gedachte am einzelnen
Beispiele in concreto darstellt. In diesem
Sinne fordert Kant, daß man sich seine
Begriffe anschaulich und andererseits seine Anschauung
verständlich mache.
Am bestimmtesten gestaltet sich dieser Gegensatz in seiner
Beziehung auf das Grundproblem der Erkenntnistheorie, die Frage
nach dem Ursprung des Gegenstandes in der Erkenntnis.
Ist derselbe einerseits, sofern darin eine Einheit des Mannigfaltigen gedacht wird, der
Ausdruck der synthetischen Einheit
des
Begriffs, so bezieht sich diese andererseits stets auf einen sinnlich gegebenen
Stoff (das Mannigfaltige
selbst). Sofern auf der erstern alles Verstehen beruht, nannte Kant diesen
Faktor der gegenständlichen Erkenntnis Verstand;
sofern aber der Anteil der
Sinnlichkeit es allein ermöglicht, dem
Begriff die entsprechende in concreto und damit erst seine
wirkliche Anwendung zu geben, nannte er diesen zweiten
Faktor schlechtweg Anschauung
(obwohl zu den bestimmten
Anschauung
die begriff
liche Funktion unerläßlich ist). Nach dieser Gegenüberstellung des anschaulichen und
¶
mehr
begriff
lichen Faktors der gegenständlichen Erkenntnis ist Anschauung
eigentlich nicht mehr eine fertige Bewußtseinsgestalt,
sondern ein bloß in der abstrakten Zerlegung der Erkenntnisbedingungen isolierbarer Bestandteil des bestimmten Bewußtseins
eines Gegenstandes, und in dieser engern Bedeutung von der Anschauung
im ursprünglichen und gewöhnlichen Sinne wohl zu unterscheiden.
Der Gegenstand ist für die so verstandene Anschauung
erst unbestimmter (noch zu bestimmender)
Gegenstand; nennt ihn Kant «gegeben», so ist er doch nicht ein schon erkannter,
worauf der Begriff dann bloß weiter zu bauen hätte; er ist gegeben eigentlich nur im Sinne der gestellten Aufgabe (der Erscheinung
den Gegenstand zu bestimmen).
Daher deckt sich bei Kant der «unbestimmte» Gegenstand
der Anschauung
mit der «Erscheinung». Weiter unterscheidet Kant
an der Anschauung
selbst einen reinen und empirischen Bestandteil. Das Reine oder die Form der Anschauung
(d. h. das Gesetzmäßige an ihr,
welches den Grundcharakter der Anschauung
überhaupt bestimmt) ist die Ordnungsweise des Mannigfaltigen in Raum und
Zeit, während das bestimmte Gegebensein eines Anschaulichen (hier und jetzt) im Raume und in der Zeit
(genauer: was ein Hier und Jetzt in Raum und Zeit bestimmbar macht, nämlich die Empfindung) die Materie oder das Empirische
der Anschauung
heißt.
Kant nennt dann auch Raum und Zeit selbst «reine Anschauung»
, was
aber nicht darüber täuschen darf, daß eine gesonderte (also empfindungsfreie) von Raum und Zeit, ohne
Etwas in beiden, nicht möglich ist, und daß andererseits die bloße Form oder Gesetzlichkeit des räumlich-zeitlichen Anschauens
nicht selbst ein Gegenstand der Anschauung
, sondern nur des Begriffs ist. (Über sinnliche und intellektuelle Anschauung
sowie über den
Unterschied zwischen äußerer und innerer s. Intellektuell, Sinnlichkeit und Sinn.) - In unbestimmtester Bedeutung versteht
man unter Anschauung
dasselbe wie Ansicht, d. h. die subjektive Auffassung von irgend einer Sache. So spricht man von Weltanschauung
,
Lebensanschauung u.s.w. und meint damit, die Gesamtvorstellung von Welt und Leben, die der Einzelne sich
gebildet hat.