Angelsächs
ische
Sprache
[* 2] und Litteratur. Von der Mitte des 5. bis gegen Ende des 6. Jahrh. ergriffen Anwohner
der
Nordsee:
Jüten,
Sachsen,
[* 3]
Angeln,
Friesen, allmählich von dem größten Teil des heutigen
England und dem südlichen
Schottland
dauernd
Besitz. Die
Sprache dieser niederdeutschen
Stämme in ihrer neuen
Heimat bis in das 12. Jahrh. nennt man
die angelsächs
ische (jetzt häufig auch die altenglische), ohne Rücksicht auf die Verschiedenheit der
Mundarten; nur dem
Dialekt nördlich des
Humber gibt man gewöhnlich eine besondere Bezeichnung: Nordhumbrisch, was durch die Eigenartigkeit seiner
Laut- und Flexionsverhältnisse gerechtfertigt erscheint.
Etwa seit der Mitte des 9. Jahrh. gelangte durch die Übermacht des westsächsischen
Reichs die
Mundart seiner Bewohner zum
Rang einer Schriftsprache;
in ihr sind die vorhandenen Litteraturdenkmäler zumeist abgefaßt.
Wie überall, so hat auch auf die
Sprache der
Angelsachsen und Nordhumbrier ihre Berührung mit andern Völkern einen namentlich
in Bezug auf die
Vermehrung des Wortvorrats nicht unbedeutenden Einfluß ausgeübt. Am wenigsten nachweisbar
ist dieser von der
Sprache der von den
Angelsachsen besiegten keltischen Briten, deutlicher von dem
Lateinischen, zumal nach
der Einführung des
Christentums, sowie von dem nahe verwandten
Altnordischen, der
Sprache der Norweger und
Dänen, die seit 787 beständig
Einfälle in
England machten und vorübergehend sogar (1016-42) die Oberherrschaft daselbst erlangten.
Vor Einführung des Christentums bedienten sich die Angelsachsen der Runen [* 4] als Schriftzeichen, später im allgemeinen des lateinischen Alphabets; nur für zwei Laute (w und hartes th) sah man sich genötigt, die betreffenden Runenzeichen beizubehalten, und weiches th bezeichnete man durch eine Modifikation des lateinischen d (đ). Die Konsonanten entsprechen im ganzen den gotischen und neuenglischen. Der Vokalismus zeigt, wie das Neuenglische, eine Menge von unreinen Mischlauten auf, wie sie durch Trübung, Brechung, [* 5] Umlaut und Schwächung entstehen; so erscheint z. B. das gotische a als a, ae, o, ea, e, i, y. Gegen das Gotische und Althochdeutsche gehalten, erscheint die Nominal- wie die Verbalflexion schon abgeschwächt, aber im Vergleich mit dem spätern Englisch noch in reicher Fülle und der syntaktischen Hilfsmittel wenig bedürftig.
Von der
Reduplikation haben sich noch deutliche
Spuren erhalten. Der angelsächs
ische Wortschatz ist bereits sehr bedeutend
und erfährt durch die Herausgabe von bisher ungedruckten Werken noch stets
Bereicherung. Infolge der
Eroberung
Englands durch die
Normannen (1066) wurde das angelsächs
ische
Idiom auf die untern Volksschichten zurückgedrängt,
während die höhern
Kreise
[* 6] und die
Schule sich der
Sprache der Eroberer bedienten. Vgl.
Englische Sprache.
[* 7]
In früherer Zeit haben sich um das
Studium der angelsächs
ischen
Sprache unter andern die
Engländer Somner, Hickes und
Lye
Verdienste erworben; von dem
Dänen
Rask erschien 1817 eine angelsächs
ische
Grammatik, eine englische Übersetzung derselben
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lieferte Thorpe (3. Aufl., Lond. 1879). Indessen hat auch auf diesem Gebiet
zuerst J. Grimm die Forschung in eine wissenschaftliche Bahn gelenkt. Im Anschluß an ihn wurde die angelsächs
ische Grammatik
behandelt von Heyne in seiner »Laut- und Flexionslehre der altgermanischen Sprachstämme«
[* 9] (3. Aufl., Paderb.
1880),
von Koch (»Englische Grammatik«, Götting. 1863 ff.),
Mätzner (»Englische Grammatik«, 3. Aufl., Berl. 1880 ff.),
Marsh (»Comparative grammar of the Anglo-Saxon«, New York 1870),
Grein (»Angelsächsische Grammatik«, Kass. 1880),
Th. Müller (»Angelsächsische
Grammatik«, Götting. 1883). Dem Selbststudium dient Körners »Angelsächsische Flexionslehre« (Heilbr. 1878). Lexika gaben heraus
Grein (»Angelsächs
ischer Sprachschatz«, Götting. 1861-64, nur für die Dichter; danach Greins »Kleines angelsächsisches
Wörterbuch«, bearbeitet von Groschopp, Kass. 1883); Bosworth (»Anglo-Saxon dictionary«, neu bearbeitet von Toller, Oxf. 1882);
Wright (»Anglo-Saxon and Old English vocabularies«, 2. Aufl. von Wülcker, Lond. 1884).
Leos »Glossar« (Halle
[* 10] 1872 ff.) ist unbrauchbar, besser noch Ettmüllers »Lexicon anglo-saxonicum« (Quedlinb.
1851).
Unter den zahlreich auf uns gekommenen, zum Teil noch ungedruckten Resten der angelsächsischen
Litteratur
stehen die Denkmäler der Poesie obenan; sie sind gesammelt von Grein in »Bibliothek der angelsächsischen
Poesie« (Kass. 1857-58, 2 Bde.; 2. Aufl. 1883 ff.).
Diese poetischen Denkmäler haben neben ihrem unschätzbaren sprachlichen und kulturhistorischen einen nicht unbedeutenden
ästhetischen Wert. Ihre metrische Form ist die auch bei den übrigen ältern deutschen Dialekten übliche:
zwei Halbverse einer wenigstens aus vier Hebungen bestehenden Langzeile sind durch die Allitteration gebunden.
Auf den Stil bezügliche Eigentümlichkeiten der angelsächsischen
Poesie sind: häufige Ersetzung des Pronomens durch verschiedene
Substantiva;
die zu einem Wort gehörige Apposition ist von diesem durch andre Satzglieder getrennt;
Vorwegnahme des Pronomens und eine oft erst viel später folgende Verdeutlichung desselben durch das betreffende Substantivum;
anstatt des epischen Nacheinander sprungweise, Zusammengehöriges trennende Darstellung;
sinnliche Umschreibungen (z. B. statt »gehen wir«: »macht euch auf, vorwärts zu tragen Waffen [* 11] und Gewand«);
glänzende Schilderungen bei fast gänzlichem Mangel an Gleichnissen.
Innigkeit des Gefühls und Weichheit der Empfindung bekunden sich überall, selbst in dem Volksepos, wenigstens in seiner überlieferten Gestalt, eine Erscheinung, die wohl hauptsächlich dem Einfluß des Christentums zuzuschreiben ist. Unter den epischen Dichtungen, die Stoffe aus der Volkssage behandeln, ist weitaus die wichtigste der »Beowulf« (s. d.); mit einer Episode in demselben steht in Zusammenhang das Fragment »Der Überfall in Finsburg«. Erhalten sind ferner noch zwei erst 1860 von G. Stephens aufgefundene Bruchstücke eines Epos, welches die Sage von Walter und Hildegunde behandelt: »Finsburg und Waldere« (abgedruckt in Greins Separatausgabe des »Beowulf«, 1867),
und das sogen. »Wîdsîthlied« (Lied des Vielgereisten),
»gleichsam ein versifizierter Katalog der deutschen Heldensage«. Hier seien angereiht ein mehr lyrisch gehaltenes Siegeslied auf die Schlacht von Brunanburg (938) und ein längeres Bruchstück eines Gedichts auf den Tod des Aldermans Byrhtnoth, der 991 im Kampf gegen die Dänen fiel. Es gibt mit der epischen Ausführlichkeit des »Beowulf« eine lebendige Schilderung des Kampfes und bietet ein schönes Beispiel dar für jenes von Tacitus hervorgehobene Verhältnis gegenseitiger Treue und Ergebenheit, wie es bei den alten Deutschen zwischen Fürst und Gefolge bestand.
Epen mit Stoffen aus der Bibel [* 12] oder Legende in freier Behandlung und vollständig deutscher Auffassung der geschilderten Personen und Zustände sind zunächst die früher dem Kädmon (Ceadmon) zugeschriebenen alttestamentlichen Dichtungen: »Genesis, Exodus und Daniel«, ferner »Judith«, mit nicht geringen dichterischen Vorzügen. Nur von drei größern Dichtungen geistlichen Inhalts, dem »Crist«, der »Elene« und der »Juliane«, kennen wir mit Bestimmtheit den Namen des Verfassers: Kynewulf, der wahrscheinlich im 8. Jahrh. im Norden [* 13] Englands lebte und dem geistlichen Stand angehörte.
Der »Crist«, mit mehr lyrisch-didaktischem Charakter, hat die dreifache Ankunft Christi, die »Elene« die Bekehrung Konstantins und die Auffindung des heiligen Kreuzes in teilweise sehr lebendiger Schilderung zum Gegenstand. Ebenso wird auch die Bearbeitung der Legenden von »Andreas«, »Guthlac« u. a. dem Kynewulf beigelegt. Mehr lyrischer Natur ist die Bearbeitung der Sage von dem Vogel Phönix, in anmutiger Sprache und mit herrlichen Naturschilderungen. Unter den lyrischen Stücken sind die vorzüglichsten: die nur verstümmelt überlieferte Klage über eine Burgruine und deren gefallene Bewohner;
der »Wanderer«, der, seit dem Tod seines Herrn ohne bleibende Stätte, über die Mühseligkeiten des menschlichen Lebens jammert;
die »Klage der Frau«, die, von den Verwandten ihres Mannes verleumdet und daraufhin von dem letztern verstoßen, ihr Leben einsam in einer Waldeshöhle vertrauert;
der »Seefahrer«, den trotz aller Beschwerden seines Standes die Sehnsucht nach dem Meer hinwegtreibt von allen Freuden des Landes, sobald die Natur sich verjüngt und der Kuckuck des Frühlings Ankunft verkündet.
Didaktischer Natur ist unter andern das »Runenlied«, das die Namen eines jeden dabeistehenden Runenzeichens poetisch beschreibt. Anziehend durch den Reiz der Sprache, treffliche Schilderungen und dichterische Belebung der Natur, dabei von Wichtigkeit für die Kenntnis des alten deutschen Lebens sind die »Rätsel« des Kynewulf. Als einziges Beispiel weltlicher Unterhaltungsprosa sei hier die Übersetzung der Geschichte des »Apollonius von Tyrus« aus dem Lateinischen erwähnt. Alle genannten poetischen Stücke sind allitterierend übersetzt von Grein (»Dichtungen der Angelsachsen«, Kass. 1858-59).
Unter den Schriftdenkmälern in Prosa sind die ältesten und neben der gleich zu nennenden Chronik wichtigsten
die Gesetze von dem kentischen König Äthelbyrht (560-616) an bis auf die in angelsächsischer
Sprache publizierten Knuts.
Die ältesten Gesetzsammlungen bis auf König Alfred sind jedoch der Sprache nach nicht in ihrer ursprünglichen Form, sondern
in einer spätern Rezension erhalten (Ausgaben unter andern von Thorpe, »Laws and institutes of the Anglo-Saxon
kings«, Lond. 1840, und Schmid, »Gesetze der Angelsachsen«, 2. Aufl., Leipz. 1858, mit Übersetzung und
Glossar).
Die seit der Mitte des 8. Jahrh. in angelsächsischer
Sprache reichlich vorhandenen Urkunden sind nebst den lateinischen gesammelt
in Kembles »Codex diplomaticus« (1838 ff., 6 Bde.)
und in Thorpes »Diplomatarium anglicanum« (1865). Die angelsächsische
Chronik reicht von der Invasion Cäsars
bis auf 1154; die Einträge der Zeit vor Alfred sind jedoch zumeist erst unter dessen Regierung zugefügt (beste Ausgabe mit
Übersetzung von Thorpe, 1861, 2 Bde.; die von
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Earle: »Two of the Saxon chronicles«, 1865, bietet den Text der ältesten und jüngsten Handschrift). Hohe Verdienste um die Ausbildung einer selbständigen Prosa erwarb sich König Alfred (s. d.). Seine Schriften sind zwar meistens nur freie Übersetzungen, enthalten häufig aber auch ihm selbst angehörige größere Einschaltungen. So erweitert er z. B. in seiner Übersetzung des Orosius (hrsg. u. übers. von Bosworth, 1855 u. 1859, und Thorpe in der englischen Übersetzung von Paulis »Leben Alfreds«, neue Aufl., Lond. 1873) dessen geographische Einleitung durch eine Übersicht über das gesamte germanische Gebiet und durch die Reiseberichte zweier nordischer Seefahrer über Skandinavien.
Außerdem sind von ihm erwähnenswert die Bearbeitung von Bedas »Historia eccles. Anglorum« (Ausgaben von Smith, Cambr. 1722; von Giles, Lond. 1864),
von Gregors »Cura pastoralis« (mit Übersetzung von Sweet, 1871-72) und von Boetius'
»De consolatione philosophiae« (Ausgaben mit Übersetzung von Cardale, 1829; Fox, 1864). Ein Jahrhundert später als Alfred trat
der gelehrte Mönch Aelfric sowohl durch Übersetzungen als durch eigne Schriften als Hauptförderer des
angelsächsischen
Prosastils auf. Hervorzuheben sind seine Übersetzung des Wichtigsten aus dem Pentateuch und dem Buch Josua,
nebst einer Einleitung über das Alte und Neue Testament (hrsg. von Grein in seiner »Bibliothek der angelsächsischen
Prosa«, Bd.
1, Kass. 1872); seine Homilien (zum Teil gedruckt in Thorpe, »The homilies of the Anglo-Saxon church«, 1844-46);
eine lateinische Grammatik in angelsächsischer
Sprache (beste Ausg. von Zupitza, 1880). Etwa gleichzeitig mit Aelfric verfaßte
Wulfstan seine Homilien, von denen indes nur wenig durch den Druck zugänglich gemacht ist, so unter anderm seine berühmte
»Ansprache an die Engländer« (»Sermo lupi ad Anglos«),
worin er in leidenschaftlicher, halb poetischer
Sprache die durch die dänischen Einfälle verursachte Demoralisation Englands schildert (abgedruckt in Riegers »Alt- und angelsächsischem
Lesebuch«, Gieß. 1861). Von Wichtigkeit sind außerdem eine dem 9.-10. Jahrh. angehörige Übersetzung
der Evangelien (hrsg. von Kemble u. Skeat, 1858 ff.; zusammengestellt mit der des Ulfilas, Wiclef und Tyndale
von Bosworth, 1865) sowie verschiedene zum Teil interlineare Psalmenübersetzungen (vgl. Thorpe, Libri psalmorum versio antiqua,
Oxf. 1835). Außerdem besitzen wir noch einige Heiligenlegenden, Nachrichten über die astronomischen, physikalischen und
medizinischen Ansichten jener Zeit (gesammelt von Wright in »Popular treatises of science«, 1841; Cockayne
in »Anglo-Saxon leechdoms«, 1864 ff.) und verschiedene Glossensammlungen.
Allen diesen in westsächsischer Mundart abgefaßten Schriftdenkmälern stehen die wenigen nordhumbrischen gegenüber. Es sind außer einigen Versen und einem Ritual zwei Interlinearversionen von lateinischen Evangelienkodices, dem sogen. »Codex Rushworthianus« zu Oxford [* 15] und dem »Codex Lindisfarnensis« (auch Durhambook genannt) in der Cottonschen Handschriftensammlung zu London. [* 16] Der letztere wurde von Bouterwek 1857 herausgegeben; mit großer Umsicht beide zusammen nebst der angelsächsischen Evangelienübersetzung von Kemble-Hardwick und Skeat (Cambr. 1858 ff.).
Vgl. Wülcker, Grundriß zur Geschichte der angelsächsischen Litteratur (Leipz. 1884);
zusammenhängende Darstellungen der angelsächsischen Litteratur besitzen wir außerdem in den Litteraturgeschichten von Morley, Taine u. a., sehr gut, auch die Sprache eingehend berücksichtigende von ten Brink (»Englische Litteraturgeschichte«, Bd. 1, Berl. 1877).
Von Lesebüchern sind erwähnenswert: Thorpe, Analecta anglo-saxonica (neue Aufl. 1868);
Ettmüller, Engla and Seaxna scôpas and bôceras (Quedlinb. 1850);
Rieger, Alt- und angelsächsisches Lesebuch (Gieß. 1861);
March, Anglo-Saxon reader (Lond. 1874);
Sweet, Anglo-Saxon reader (2. Aufl., das. 1878);
Körner, Einleitung in das Studium des Angelsächsischen, Teil 2 (Heilbr. 1880, hauptsächlich zum Selbststudium);
Wülcker, Kleinere angelsächsische Dichtungen (mit Wörterbuch, Halle 1882).