Titel
Ancillon
(spr. angssijong), 1) Charles, Jurist und Diplomat, geb. zu Metz, studierte in Marburg, Genf und Paris und war 1685 Parlamentsadvokat zu Metz. Nach der Aufhebung des Edikts von Nantes folgte er seinem Vater, der 1692 als Prediger der französisch-reformierten Gemeinde zu Berlin starb, in diese Stadt, wo ihn der Kurfürst zum Gerichtsvorstand der französischen Kolonie und 1691 zum Gesandten in der Schweiz und beim Markgrafen von Baden-Durlach ernannte. Im J. 1699 kehrte Ancillon nach Berlin zurück und wurde Historiograph des Königs. Er starb als Polizeidirektor in Berlin. Seine »Histoire de l'établissement des Français réfugiés dans les états de l'Electeur de Brandebourg« (Berl. 1690) bewog noch viele französische Protestanten zur Niederlassung in Brandenburg. Ferner schrieb er: »L'irrévocabilité de l'édit de Nantes« (Amsterd. 1688);
»La France intéressée à rétablir l'édit de Nantes« (das. 1690);
»Histoire de Soliman II« (Rotterd. 1706) u. a.
2) Johann Peter Friedrich, preuß. Staatsmann, Urenkel des vorigen, geb. zu Berlin, studierte in Genf Theologie und wurde 1790 Prediger der französischen Gemeinde zu Berlin, 1792 zugleich Professor der Geschichte an der Kriegsakademie, 1803 Mitglied der Akademie der Wissenschaften und königlicher Historiograph, nachdem er sich durch sein »Tableau des révolutions du système politique de l'Europe depuis le XV. siècle« (1803, 4 Bde.; neue Aufl. 1824) als tüchtigen Historiker bewährt hatte. Im J. 1809 wurde er zum Staatsrat im Departement des Kultus ernannt und 1810 zum Erzieher des Kronprinzen, nachmaligen Königs Friedrich Wilhelm IV., berufen, dessen Neigung zur nebelhaften Romantik und zum nervösen Subjektivismus er freilich nur steigerte, statt sie zu bekämpfen, so daß er an den unglücklichen Ergebnissen der Regierung seines Zöglings wesentliche Schuld trägt.
Von diesem seinem neuen Wirkungskreis völlig in Anspruch genommen, gab Ancillon das Predigtamt und die Professur auf. Nachdem er 1813 und 1814 seinen Zögling ins Feld begleitet hatte, trat er als der Kronprinz majorenn wurde, von seiner Stellung als Prinzenerzieher zurück und ward als Wirklicher Geheimer Legationsrat in das Ministerium der auswärtigen Angelegenheiten berufen, womit seine eigentliche politische Laufbahn begann. Bei der 1817 erfolgten Errichtung des Ausschusses für die Bearbeitung und Einführung der provinzialständischen Verfassung und des Oberzensurkollegiums wurde Ancillon als Mitglied hinzugezogen.
Auch ward er zum Mitglied des Staatsrats ernannt, als diese oberste Staatsbehörde 1817 ins Leben gerufen wurde. Bei den wiederholten und langwierigen Krankheitsanfällen des Grafen von Bernstorff, der seit 1818 an der Spitze des Ministeriums der auswärtigen Angelegenheiten stand, leitete Ancillon die Geschäfte der politischen Sektion. An den Beratungen über eine ständische Verfassung nahm er teil, zeigte sich aber sehr unselbständig und schwankend und lenkte schließlich ganz in die romantisch-reaktionären Bahnen des Kronprinzen ein. Im Mai 1831 wurde er zum Wirklichen Geheimrat sowie zum Chef des Departements für das Fürstentum Neuenburg, 25. Juli d. J. aber zum Staatssekretär für die auswärtigen Angelegenheiten ernannt und 1832 als Staatsminister an die Spitze dieses Ministeriums gestellt.
Obwohl in dem Ruf eines gewissen Liberalismus stand, leitete er die Geschäfte doch in ganz reaktionärem Sinn und im engsten Anschluß an Österreich; er entwarf 1834 mit Metternich das Wiener Schlußprotokoll, welches jede Erweiterung konstitutioneller Rechte in Deutschland ausschloß. Er starb Trotz der Menge der Geschäfte, die ihm während seiner politischen Laufbahn seit 1814 oblagen, war er fortdauernd schriftstellerisch thätig. Außer vielen akademischen und politischen Abhandlungen schrieb er noch: »Mélanges de littérature et de philosophie« (Berl. 1801, 2 Bde.; 3. Aufl. 1823);
»Über Souveränität und Staatsverfassung« (das. 1816);
»Über Staatswissenschaft« (das. 1819);
»Über Glauben und Wissen in der Philosophie« (das. 1824);
»Nouveaux essais de politique et de philosophie« (das. 1824, 2 Bde.);
»Über den Geist der Staatsverfassungen und dessen Einfluß auf die Gesetzgebung« (1825; neue Ausg. in franz. Sprache, Par. 1850);
»Pensées sur l'homme, ses rapports et intérêts« (Berl. 1829, 2 Bde.);
»Zur Vermittelung der Extreme in den Meinungen« (das. 1828-31, 2 Bde.; 2. Aufl. 1838).
Doch besitzen seine Schriften keinen wissenschaftlichen Wert mehr.