(griech., »Zergliederung«),
die Lehre von Form und Bau der organisierten Körper und ihrer einzelnen Teile (theoretische Anatomie oder Zergliederungskunde), dann
die Untersuchung des organischen Körpers selbst in Bezug auf Form und Bau (praktische Anatomie oder Zergliederungskunst)
und endlich der Ort, wo dergleichen Untersuchungen vorgenommen
werden und Unterricht darin erteilt wird (anatomisches Theater).
Gewöhnlich braucht man Anatomie nur für Zergliederung des menschlichen Körpers (Anthropotomie), während man die Zergliederung
der Tiere Zootomie, die der Pflanzen Phytotomie nennt. Die theoretische Anatomie zerfällt in die allgemeine und
spezielle Anatomie. Die spezielle oder deskriptive Anatomie hat die Darstellung der einzelnen Teile und Organe zum Gegenstand. Mit Bezug
hierauf zerlegt man die menschliche in sechs Abschnitte, nämlich in
1) Osteologie oder Lehre von den Knochen und Knorpeln;
2) Syndesmologie oder Bänderlehre, die Darstellung der bandartigen Organe, durch welche die Knochen namentlich
in den Gelenken verbunden werden;
3) Myologie oder Muskellehre;
4) Angiologie oder Gefäßlehre, welche Lage und Verlauf der Blut- und Lymphgefäße darstellt;
5) Neurologie oder Nervenlehre, die Beschreibung des Nervensystems (Gehirns, Rückenmarks, der Sinnesorgane etc.);
6) Splanchnologie oder Lehre von den Eingeweiden, d. h. den Atmungs-, Verdauungs-, Harn- und Geschlechtsorganen.
Die allgemeine Anatomie beschäftigt sich nicht mit der Form der einzelnen Organe des Körpers, sondern mit den Eigenschaften des
Materials, aus welchem sich jene aufbauen. Die oberflächlichste Betrachtung lehrt, daß in verschiedenen Teilen des
tierischen Organismus Stoffe von gleichen Eigenschaften, wie Knochen, Muskeln, Sehnen, Nerven etc., wiederkehren.
Über die Struktur dieser Elementarteile gibt nun die allgemeine Anatomie Aufschluß und man ist daher sehr oft genötigt,
zur Ermittelung des feinern Baues der Gewebe das Mikroskop zu Hilfe zu nehmen.
Ein besonderer Zweig ist daher die mikroskopische Anatomie oder Gewebelehre (Histologie). Eine andre Behandlungsweise der Anatomie unterscheidet
am Körper größere oder kleinere Abteilungen (Regionen) und beschreibt die in jeder derselben vorkommenden
Abschnitte der oben genannten Systeme, wobei sie zugleich auf zuweilen vorhandene Abweichungen der gewöhnlichen Lagenverhältnisse,
die sogen. anatomischen Varietäten, Rücksicht nimmt. Sie wird topographische Anatomie oder, da ihre Kenntnis besonders für den
operierenden Chirurgen wichtig ist, chirurgische Anatomie genannt.
Zum Teil mit dieser zusammen fällt die Anatomie für bildende Künstler, die neben der äußern Form des Körpers auch die Veränderungen,
welche sich bei den Bewegungen desselben ergeben und durch das Spiel der Knochen und Muskeln bedingt sind, beschreibt und daher
die Betrachtung des lebenden Körpers zu Hilfe nehmen muß (s. Litteratur). Die bisher genannten Disziplinen
befassen sich sämtlich mit dem gesunden menschlichen Körper und werden daher zusammen auch als normale Anatomie bezeichnet im
Gegensatz zur pathologischen Anatomie oder der Lehre vom Bau des kranken Körpers.
Letztere wird stets getrennt abgehandelt und hat nicht nur die Unterschiede der kranken Teile von
den gesunden zu verfolgen und die gegenseitigen Beziehungen derselben zu ermitteln, sondern auch die Symptome der Krankheiten,
welche sich am lebenden Körper zeigen, aus den ihnen zu Grunde liegenden anatomischen Veränderungen zu erklären. Die Grundlage
der pathologischen Anatomie ist selbstverständlich die normale in ihrem ganzen Umfang (vgl. Pathologie); daher
zerfällt auch sie in einen speziellen und allgemeinen Teil, hat ihre gesonderte Gewebelehre etc.
Eine ganz besondere Stellung nimmt die vergleichende Anatomie ein, die es mit der Vergleichung der gesamten Tierwelt mit Einschluß
des Menschen zu
mehr
thun hat. Ursprünglich aus dem Bestreben hervorgegangen, für die Kenntnis des menschlichen Körpers Vergleichspunkte bei
den ihm nahestehenden übrigen Säugetieren zu finden, hat sie sich namentlich in der Neuzeit über das ganze Tierreich erstreckt
und ist so zu einem Teil der Zoologie (s. d.) im weitern Sinn geworden. Sie beschäftigt sich jedoch nur
mit den ausgebildeten Formen, über Entstehung und Wachstum derselben verbreitet sich die Entwickelungsgeschichte; beide zusammen
aber behandeln den Bau des tierischen Körpers zu jeder Zeit seiner Existenz und werden daher als Morphologie bezeichnet.
In der anatomischen Technik, die sich aus der praktischen Anatomie entwickelte, unterscheidet man gewöhnlich, namentlich
mit Bezug auf den Menschen, die Sektionen und das Präparieren. Unter Sektion (s. d.) versteht man die kunstgerechte Öffnung
der drei großen Höhlen des menschlichen Körpers, verbunden mit der Untersuchung der in ihnen befindlichen Eingeweide und
Organe. Das Präparieren besteht in der kunstgerechten Trennung der einzelnen Teile voneinander, so daß sie
ihrer Gestalt und Lage nach deutlich unterschieden werden können; man erhält so anatomische Präparate (s. d.) und stellt
sie in den anatomischen Sammlungen oder Museen auf, bildet sie auch wohl in Wachs, Gips etc. nach sowie auf den anatomischen
Tafeln ab.
Die geschichtliche Entwickelung der Anatomie weist die leichtverständliche Thatsache auf, daß zuerst fast nur
die Priester und Ärzte sich mit anatomischen Arbeiten befaßten. Bei den alten Griechen wurden nur Tierzergliederungen zu wissenschaftlichen
Zwecken in größerer Ausdehnung vorgenommen, und so hat auch Aristoteles in seiner »Naturgeschichte des Tierreichs« zahlreiche
genaue Angaben über Tieranatomie niedergelegt. In der menschlichen Anatomie dagegen waren die
alten Griechen und Römer schlecht bewandert.
Hippokrates kannte nur Knochen und Gelenke näher, verwechselte aber noch Sehnen und Nerven, Arterien und Venen miteinander. In der
von Ptolemäos I. zu Alexandria gestifteten medizinischen Schule (320 v. Chr.) scheint die menschliche Anatomie ihre erste Pflegstätte
gefunden zu haben. Von dem in Rom lebenden Arzt Galenus (geb. 131 n. Chr.), welcher ebenfalls in Alexandria
studierte, weiß man nicht genau, ob er je eine menschliche Leiche sezierte; seine anatomischen Beschreibungen beziehen sich
wohl alle auf Hunde und Affen.
Nichtsdestoweniger standen seine anatomischen Schriften das ganze Mittelalter hindurch im höchsten Ansehen. Erst mit Mondini,
Professor zu Bologna, begann ein Aufschwung der Anatomie. Er zergliederte (1306) zuerst wieder zwei menschliche
Leichen, und sein anatomisches Werk blieb gegen 200 Jahre lang fast ausschließlich im Gebrauch, zumal Papst Bonifacius VIII.
diejenigen mit dem Kirchenbann belegte, die es wagten, einen Menschen zu zergliedern oder seine Gebeine auszukochen.
Eine neue Epoche der Anatomie beginnt im 16. Jahrh. mit dem berühmten
Andreas Vesalius (geb. 1514; sein Werk »De corporis humani fabrica« erschien 1543),
dem sich Fallopia (mit seinen »Observatione
anatomicae«) und Eustachio würdig anreihten. Von größter Wichtigkeit war die Entdeckung des Kreislaufs des Bluts durch den
Engländer William Harvey (1578-1657); allmählich wurden auch die einzelnen Organe des menschlichen Körpers
genauer bekannt und erhielten nicht selten Beinamen von den Forschern, welche sie auffanden (z. B.
pancreas Aselli capsula Glissonii, ductus Stenonianus, nervus accessorius Willisii). Der erste, welcher das Vergrößerungsglas
zum Zweck anatomischer Untersuchungen anwendete und
so zum Schöpfer der mikroskopischen Anatomie wurde, ist Marcello Malpighi
(1628-94). Die beiden Niederländer Leeuwenhoek (gest. 1723) und Swammerdam (gest. 1680) machten auf dem nämlichen Gebiet
mannigfache Entdeckungen.
Auch die vergleichende Anatomie, die man in frühern Zeiten nur aus Mangel an menschlichen Leichen einiger Aufmerksamkeit gewürdigt
hatte, fing nun an, als eigne Wissenschaft kultiviert und zur Aufklärung und Erweiterung der menschlichen
benutzt zu werden. Insbesondere leisteten ihr die damals ins Leben tretenden gelehrten Körperschaften, die Royal Society in
London und die Académie des sciences in Paris, großen Vorschub. In Italien lebte um 1700 die seit Malpighis Tod schlummernde
in Lancisi, Valsalva und seinen berühmten Schülern Santorini und Morgagni wieder auf. Besonders die Werke
des letztern enthalten viele Bemerkungen aus dem ganzen Gebiet der Anatomie, und sein Buch über die pathologische Anatomie steht noch
heute in Ansehen. Am meisten ragt jedoch in der damaligen Zeit Albrecht v. Haller (gest. 1777) hervor. Sein großes Werk »Elementa
physiologiae« ist für die Anatomie vielleicht ebenso bedeutungsvoll wie für die Physiologie. Nach ihm sind
zu nennen: J. F. ^[Johann Friedrich] Meckel (gest. 1774), Camper (gest. 1789), John Hunter (gest. 1793) und sein Bruder William,
K. F. Wolff (gest. 1764), Wrisberg (gest. 1808), Mascagni (gest.
1815), Reil (gest. 1813), Bichat (gest. 1802). Letzterer gilt mit Recht als Begründer der Histologie (Gewebelehre),
die allerdings erst seit dem Auftreten der Zellentheorie (Schleiden und Schwann) sich zu ihrer jetzigen Höhe aufgeschwungen
hat. In unserm Jahrhundert sind als bedeutende Anatomen zu nennen: Sömmerring, Scarpa, Hildebrandt, Rosenmüller, Langenbeck,
Tiedemann, E. H. Weber, Meckel, Henle, Arnold, Reichert, Hyrtl, Luschka.
Die beiden letztern haben auch auf dem Gebiet der chirurgischen Anatomie viel geleistet, während
diese Richtung bis dahin vorzugsweise von den Franzosen Portal, Velpeau, Malgaigne, Pétrequin, Richet mit Erfolg bearbeitet
worden war. Vorzugsweise als Histologen waren oder sind noch thätig: Joh. Müller, Purkinje, Rud. Wagner, Kölliker, Gerlach, Max
Schultze, Waldeyer, His, Frey, Robin, Ranvier, Beale, Harting. Die pathologische Anatomie fand Berücksichtigung
in den ersten Dezennien dieses Jahrhunderts vorzugsweise in Frankreich (Cruveilhier, Gendrin, Andral, Lobstein), seit 1840 jedoch
in hervorragenderer Weise in Deutschland, wo namentlich Rokitansky in Wien und Virchow in Berlin sie gepflegt haben.
Letzterer wandte zuerst die Zellenlehre auf sie an und wurde so der Schöpfer der sogen.
Cellularpathologie. Von den Männern, welche sich um vergleichende Anatomie verdient gemacht haben, sind zu nennen:
Cuvier, Et. Geoffroy Saint-Hilaire, J. F. ^[Johann Friedrich] Meckel, Bojanus, K. G. Carus, Rathke, R. Wagner, Bronn und vor allen
Joh. Müller;
H. Milne Edwards, Leydig, Hyrtl, v. Siebold, R. Leuckart, O. Schmidt, Herting, E. Häckel, Th. Huxley,
R. Owen und vor allen K. Gegenbaur.
Litteratur. Meckel, Handbuch der menschlichen Anatomie (Halle u. Berl. 1815-20, 4 Bde.);
Cruveilhier, Traité d'anatomie descriptive (5. Aufl., Par. 1871-1878, 3 Bde.);
Krause, Handbuch der menschlichen Anatomie (3. Aufl., Hannov.
1876-80, 3 Bde.);
Arnold, Handbuch der Anatomie des Menschen (Freiburg
1843-51);
Meyer, Lehrbuch der Anatomie des Menschen (3.
Aufl., Leipz. 1873);
Sappey, Traité d'anatomie descriptive (3. Aufl., Par. 1876-78, 4 Bde.);
Quain, Handbuch der Anatomie (deutsch von Hoffmann, Erlang. 1869-71);
Henle, Handbuch der systematischen Anatomie des Menschen (Braunschw.
1871, 4 Bde.);
Hyrtl, Lehrbuch der Anatomie
mehr
des Menschen (16. Aufl., Wien 1882);
Langenbeck, Icones anatomicae (Götting. 1826-38);
Arnold, Tabulae anatomicae (Zür. 1838-43);
Froriep, Atlas anatomicus (5. Aufl., Weim. 1865);
Bock, Handatlas der Anatomie des Menschen (6. Aufl., Berl. 1871);
Cooper, Lectures
on anatomy (Lond. 1835, 4 Bde.);
Malgaigne, Traité d'anatomie chirurgicale (2. Aufl., Par. 1859, 2 Bde.);
Richet, Traité d'anatomie medico-chirurgicale (5. Aufl., das. 1877);
Cuvier, Leçons d'anatomie comparée (2. Aufl., das. 1836-46, 9 Bde.);
Carus, Icones zootomicae (Leipz. 1857, Teil 1);
Owen, Comparative anatomy and physiology of the vertebrates (Lond. 1866-68, 3 Bde.);
Siebold und Stannius, Lehrbuch der vergleichenden Anatomie (Berl. 1845-48, 2 Bde.);
Gegenbaur, Grundriß der vergleichenden Anatomie (2. Aufl., Leipz.
1878);
Derselbe, Lehrbuch der Anatomie des Menschen (das. 1883);
O. Schmidt, Handbuch der vergleichenden Anatomie (8. Aufl., Jena 1882);
Bergmann und Leuckart, Anatomisch-physiologische Übersicht des Tierreichs (Stuttg. 1851-53);
Milne Edwards, Leçons sur la physiologie
et l'anatomie comparée de l'homme et des animaux (Par. 1857-81, 14 Bde.);
Huxley, Anatomie der Wirbeltiere (deutsch, Berl. 1873);
Derselbe, Grundzüge der der wirbellosen Tiere (deutsch, Leipz. 1878);
Franck, Handbuch der der Haussäugetiere (2. Aufl., Stuttg. 1884);
Wilckens, Form und Leben der landwirtschaftlichen Haustiere (Wien 1878);
Müller, Lehrbuch der der Haussäugetiere (3. Aufl.,
das. 1884);
Bendz, Körperbau und Leben der landwirtschaftlichen Haustiere (deutsch von Fock, Berl. 1876).
Auch für Künstler ist neben den praktischen Übungen in den Seziersälen und in den Vorlesungen (s.
oben) das Studium der Anatomie durch eine Reihe von Werken mit theoretischen Anweisungen ermöglicht. Als dasjenige, welches die Bedürfnisse
der Künstler am meisten und in klarster Darstellung berücksichtigt, ist Karl Langers der äußern Formen
des menschlichen Körpers« (Wien 1884) zu empfehlen. Das ausführlichste und gründlichste ist E. Harleß' »Lehrbuch der plastischen
Anatomie für akademische Anstalten und zum Selbstunterricht« (2. Aufl. von Rob. Hartmann, Stuttg. 1876),
unter besonderer Berücksichtigung
der Anthropologie; es erfordert indessen ein sehr eindringliches Studium. Als Ergänzung zu beiden Werken
dient Chr. Roths »Plastisch-anatomischer Atlas zum Studium des Modells und der Antike« (Stuttg. 1872). Speziell an die Künstler
wenden sich auch Anatomie Frorieps »Anatomie für Künstler« (Leipz. 1880),
M. Duvals »Anatomie artistique« (Par. 1881).
In Akademien und Kunstschulen sind zum Zweck des Anschauungsunterrichts auch große Wandtafeln mit anatomischen
Normalfiguren (z. B. dem Borghesischen Fechter) eingeführt.
(grch.), Zergliederungskunde, die Lehre vom Bau der organischen Wesen. Sofern dieselbe
Anweisung giebt zur Untersuchung dieses Baues, die Methoden, Handgriffe und technischen Mittel der Untersuchung lehrt, nennt
man sie praktische Anatomie; sofern sie sich nur mit den Ergebnissen der Untersuchung befaßt, d. h.
den bereits erforschten Bau schildert, beurteilt, unter verschiedenen Gesichtspunkten erörtert oder vergleicht,
heißt sie theoretische Anatomie. Letztere kann man daher als «Zergliederungskunde»
der erstern als «Zergliederungskunst» gegenüberstellen. Endlich nennt man auch den Ort selbst, wo Anatomie getrieben wird, anatom.
Präparate gemacht oder vorgezeigt werden, «Anatomie»; passender ist dafür
die Bezeichnung Präpariersaal und Anatomisches Theater.
Früher richteten sich die anatom. Untersuchungen fast ausschließlich
auf den Menschen, und nur sofern menschliche Leichen nicht zur Verfügung standen, auf Säugetiere als Notbehelf. Man verstand
daher und versteht auch noch unter Anatomie vorzugsweise die Anatomie des Menschen (Anthropotomie). Später beschäftigte sich die Wissenschaft
auch mit dem Bau der Tiere, nicht bloß aus Notbehelf, sondern um ihrer selbst willen. So entstand die
tierische Anatomie oder Zootomie. Endlich untersuchte man auch den innern Bau der Pflanzen, und es entwickelte sich die Pflanzenanatomie
oder Phytotomie.
Das viele Gemeinsame, welches zunächst der Mensch und die Wirbeltiere, weiterhin alle Tiere unter sich in ihrem gröbern oder
feinern Bau haben, führte zur wissenschaftlichen Betrachtung der Ähnlichkeiten und Unterschiede dieses
Baues, und es entstand so die vergleichende Anatomie. Von ihr in Verbindung mit der Paläontologie und der Entwicklungsgeschichte sind
die wichtigsten Stützen für die unsere Zeit so lebhaft beschäftigende Abstammungslehre teils schon geliefert, teils noch
zu erwarten.
Die Entdeckung des Mikroskops brachte die Erkenntnis, daß auch das dem bloßen Auge gleichartig Erscheinende
noch einen feinern, sehr verwickelten Bau haben kann, und man unterschied nun die mit solchen feinern Strukturverhältnissen
beschäftigte Wissenschaft als mikroskopische Anatomie, Histologie oder Gewebelehre. (S. Gewebe, anatomisch.) Die
Änderungen im Bau der organischen Wesen, wie sie der Gang ihrer Entwicklung aus einfachem Keime bis zum vollendeten
Wachstum mit sich bringt, sind der Gegenstand der Entwicklungsgeschichte (s. d.). Dieselbe wird samt der Gewebelehre als allgemeine
und im Gegensatze hierzu die systematische Anatomie als specielle oder deskriptive Anatomie bezeichnet. Die
meisten
mehr
Krankheiten sind begleitet von gröbern oder feinern Veränderungen in der Lagerung oder Struktur verschiedener Organe und
ihrer Gewebe, und sofern die Anatomie dies erforscht, heißt sie pathologische Anatomie.
Die Anatomie des gesunden Menschen teilt sich weiterhin, je nach der Methode, die sie befolgt, in die systematische und die topographische.
Die systematische Anatomie untersucht und beschreibt die Teile in einer Ordnung, die auf die Ähnlichkeit in
dem Bau und den Verrichtungen derselben Rücksicht nimmt und daher diejenigen nebeneinander stellt, welche im Körper selbst
zu gewissen gemeinschaftlichen Zwecken in Verbindung stehen (d. h. ein System von Teilen bilden). Bei dieser Behandlungsweise,
welche vorzüglich zum Studium der Physiologie vorbereitet, pflegt man die in folgende sechs Lehren abzuteilen:
1) Osteologie (s. d.) oder Lehre von den Knochen mit Einschluß der Gelenkknorpel (Chondrologie).
2) Syndesmologie oder Bänderlehre (s. Bänder).
3) Myologie oder Muskellehre (s. Muskeln).
4) Angiologie oder Gefäßlehre (s. Gefäße und Gefäßsystem).
5) Neurologie oder Nervenlehre (s. Nerven).
6) Splanchnologie oder Eingeweidelehre (s. Eingeweide).
Die topographische Anatomie unterscheidet am Körper teils nach den durch Einschnitte, Gelenke, Scheidewände u. dgl. natürlich
gegebenen Grenzen, teils mit Hilfe gewisser in Gedanken gezogener Linien größere und kleinere Abteilungen oder Gegenden (Regionen)
und beschreibt die in jeder derselben neben-, unter- und ineinander liegenden Abschnitte der oben erwähnten
Systeme von außen nach innen zu. Man teilt dabei den Körper in den Stamm und die Gliedmaßen. Der Stamm besteht aus dem Kopfe
und dem Rumpfe; der Rumpf zerfällt in Hals, Brust und Bauch; die Gliedmaßen sind teils Brustglieder oder Arme, teils Bauchglieder
oder Beine. An jedem dieser Hauptteile unterscheidet man nun wieder verschiedene Abteilungen und Unterabteilungen.
Diese der Gegenden nennt man, da ihre Kenntnis vorzüglich für den operierenden Chirurgen wichtig ist, auch die chirurgische
Anatomie Topogr. Präparate nennt man diejenigen, an welchen die einzelnen Gewebssysteme (Muskeln, Arterien, Venen, Nerven und Knochen)
in ihrer Lage zueinander sämtlich dargestellt sind. Zu den topogr. Präparaten gehören auch die an gefrorenen Kadavern gewonnenen
Durchschnitte. Auch die Anatomie für bildende Künstler ist wesentlich topographisch; sie hat vorzugsweise die Oberfläche
des Körpers, die Abhängigkeit ihrer Form von den unterliegenden Teilen und insbesondere von den Muskeln in ihren
verschiedenen Spannungszuständen, endlich die allgemeinen Größenverhältnisse der einzelnen Körperteile untereinander
in Betracht zu nehmen.
Die praktische Anatomie ging in ihrer geschichtlichen Entwicklung der theoretischen stets voraus. Erst als man jene allgemeiner
zu betreiben begann, bildeten sich allmählich bestimmte Regeln über das Verfahren bei der Zergliederung, d. h. es entstand
eine Technik der Anatomie, doch versuchte man erst im 17. Jahrh. den Gegenstand in besondern
Schriften zu behandeln. Gegenwärtig haben Anatomen wie Hyrtl, Budge, Meyer, Henke, Lauth auch diesen praktischen Bedürfnissen
in besondern Lehrbüchern Rechnung getragen.
Dennoch aber wird jetzt wie früher das meiste dem mündlichen Unterricht durch den eigens dazu. angestellten
Prosektor überlassen. Gewöhnlich unterscheidet man in der anatom. Technik die Sektionen und das Präparieren. Sektion
nennt
man die kunstgerechte Öffnung der drei großen Höhlen des menschlichen Körpers, verbunden mit der Untersuchung der in ihnen
befindlichen Eingeweide und Teile. Das Präparieren besteht in der kunstgerechten Trennung der einzelnen Teile voneinander, so
daß sie ihrer Gestalt wie ihrer Lage nach deutlich unterschieden werden können; das auf diese Weise Dargestellte nennt man
anatomisches Präparat, so daß man von Knochen-, Muskel-, Gefäß- und Nervenpräparaten spricht.
Das Präparieren der Knochen geschieht durch Entfernung sämtlicher Weichteile, durch Kochen, Macerieren und Bleichen. Werden
sämtliche Knochen wieder durch Draht in die natürliche Lage zu einem Ganzen verbunden, so entsteht das
künstliche Skelett, während das natürliche Skelett durch Beibehalten der natürlichen Verbindungsmittel, der Bänder, gebildet
wird. Zur bessern Darstellung der Gefäße, namentlich in ihren feinern Verzweigungen, bedient man sich gewöhnlich der Injektionen
oder Einspritzungen von gefärbten und erhärtenden Flüssigkeiten in die Gefäße, worauf man die letztern
mit dem Messer von den umgebenden Muskeln und Weichteilen isoliert. In neuerer Zeit bedient man sich auch noch einer andern
Präparation der Gefäße; man injiziert dieselben mit einer Masse, die sich in einer ätzenden Flüssigkeit nicht löst, während
die übrigen Körperbestandteile sich darin sämtlich auflösen (Korrosionspräparate). Um diejenigen
Präparate, deren Anfertigung viel Zeit und Mühe erfordert, oder die seltene Abweichungen vom normalen Bau und interessante
krankhafte Veränderungen der Körperteile darstellen (pathol. Präparate), behufs des Vortrags der Anatomie möglichst in
ihrer natürlichen Form aufzubewahren, trocknet man sie an der Luft oder durch Bestreichen mit Holzessig
und überzieht sie dann mit einem durchsichtigen Firnis (trockne Präparate); oder man bringt sie in Flüssigkeiten, durch
die sie vor der Fäulnis geschützt werden, wie Alkohol von 50 bis 90°, Carbolsäure, Sublimatlösung u. dgl., oder behandelt
sie mit der Wickersheimerschen Flüssigkeit (s. d.). Solche Präparate, in besondern
Schränken und Zimmern aufgestellt, bilden die anatomischen (oder pathol.) Sammlungen oder Museen. Da
es unmöglich ist, alle Teile in ihrer Integrität aufzubewahren, da namentlich Farbe und feine Faserungen stets verloren gehen,
so hat man es mit Glück versucht, sie durch die plastische Kunst nachzubilden, und zwar aus Holz oder Elfenbein, wie das
Gehörorgan, oder aus Wachs (Wachspräparate) oder Papiermaché. Mit allgemeinerm Nutzen und verhältnismäßig
geringerm Kostenaufwand wandte man aber längst die Zeichenkunst zu anatom. Darstellungen an. Solche Abbildungen, die man
anatomische Tafeln nennt, hatte bereits Aristoteles gefertigt und seinen (verlorenen) anatom. Schriften beigegeben. Im 16. Jahrh.
beschäftigten sich die größten Maler, wie Leonardo da Vinci, Michelangelo, Raffael, Tizian, Dürer, mit
solchen Zeichnungen.
Geschichtliches. Die außerordentliche Wichtigkeit der Anatomie als Wissenschaft für den Arzt wie für den Physiologen und Naturforscher
hatte man schon frühzeitig erkannt, wenn es sich auch niemals mit Gewißheit ermitteln lassen wird, wer zuerst genauere
anatom. Studien, zumal an menschlichen Leichnamen, machte. Im Altertume verhinderten lange Zeit religiöse
Ansichten, die tote Hülle des Menschen, selbst zur Befriedigung einer edeln, dem Lebenden
mehr
zu gute kommenden Wißbegierde, zu zerstören, und die damalige ärztliche Wissenschaft verlangte noch keine speciellern
anatom. Kenntisse. Als das Bedürfnis dazu fühlbarer ward, suchte man sich mit der Zergliederung
von Tieren, namentlich Hunden und Affen, zu behelfen; es bildete aber auch die tierische Anatomie dann noch die Basis, als man,
wie kaum zu zweifeln, zu Alexandria wenigstens eine Zeit lang selbst menschliche Anatomie praktisch trieb, obschon sicher nicht
in der Weise, wie dies jetzt zu geschehen pflegt. Herophilos aus Chalcedon und Erasistratos aus Keos (um 300 v. Chr.) werden
als so eifrige Anatomen gerühmt, daß sie nach des Celsus Bericht selbst lebende Verbrecher seciert haben
sollen. Doch schon Galen (131 n. Chr.) läßt darüber in Ungewißheit, wie er seine
anatom. Kenntnisse gewann.
Die Araber wie ihre Nachfolger begnügten sich mit den Angaben Galens, bis endlich Mondino de Luzzi, Professor zu Bologna, 1306 und 1315 zuerst
zwei menschliche Leichname öffentlich zergliederte und, auf eigene Untersuchungen gestützt, das erste
Lehrbuch der Anatomie des Menschen schrieb, welches fast zwei Jahrhunderte hindurch als Kanon galt. Erst im 16. Jahrh. wurde Galens
Autorität nach hartem Kampfe gänzlich gestürzt durch die Bemühungen eines Vesalius (1543), Custachio, Colombo, Fallopia,
Fabricius ab Aquapendente, Varoli u. a., denen man eine Reihe glänzender
Entdeckungen verdankt.
Rüstig schritt man im 17. Jahrh. fort auf der betretenen Bahn, zumal da Harveys Entdeckung des Blutkreislaufs (1619) ein ganz
neues Leben in die Physiologie gebracht hatte und das Mikroskop auch den feinern Bau des menschlichen und tierischen Organismus
zugänglich machte. Die Lymphgefäße entdeckte Aselli (1622); die drüsigen Organe fanden in Wharton
ihren genauern Erforscher, während Malpighi, Leeuwenhoeck, Swammerdam und der noch ins folgende Jahrhundert hinüberragende
Ruysch durch Anwendung des Mikroskops und Einspritzungen in die Gefäße die feinere Anatomie weit über ihre Vorgänger hinausführten.
Wie bisher, so zeichneten sich auch im 18. Jahrh. besonders Italiener (Pacchioni, Valsalva, Morgagni,
Santorini, Mascagni, Cotunni) auf diesem Gebiete aus. Ihnen würdig zur Seite standen in Frankreich Winslow, Lieutaud, Bicq
d'Azyr und Bichat; in England Cowper, Cheselden, Hunter, Cruikshank, Monro und Bell; in den Niederlanden Boerhaave, Albin, Camper,
Sandifort. Auch Deutschland trat durch Haller sowie durch die beiden ältern Meckel auf glänzende Weise
aus dem Dunkel hervor, um im 19. Jahrh. den ersten Rang einzunehmen.
Auf der Grenzscheide der beiden Jahrhunderte finden sich die Namen eines Sömmering, Lodar, Blumenbach, Hildebrandt, Reil,
Tiedemann, Bock und Seiler, welche fast sämtlich noch in enger Verbindung mit der praktischen Medizin standen, daher auch diese
durch ihre anatom. Forschungen förderten. In dem ersten Jahrzehnt des 19. Jahrh. begann indessen wie
überall in der Wissenschaft so auch hier eine Trennung, der zufolge der Anatom und Physiolog seinen eigenen Weg ging, fast
unbekümmert um die praktische Medizin, so daß diese wenig Vorteil von den glänzenden Entdeckungen zog, welche jene machten,
und die Anatomen selbst fast nur die mikroskopische Anatomie ausbildeten.
Jedoch machte sich die Notwendigkeit der Verbindung beider Wissenschaften sehr bald wieder geltend durch das seit neuerer Zeit
mit besonderm Eifer betriebene Studium
der pathologischen Anatomie, welche durch die bahnbrechenden Forschungen von Rokitansky,
Virchow, Cohnheim, Klebs u. a. die wichtigste Grundlage der neuern Medizin geworden ist. Nachdem die mikroskopische
Anatomie längere Zeit fast ausschließlich die Thätigkeit der Anatomen in Anspruch genommen, haben sich neuerdings einzelne deutsche
Naturforscher auch der gröbern Ä. wieder zugewandt.
Litteratur. Von Lehrbüchern der Anatomie sind hauptsächlich zu nennen die von Hyrtl, Henle, Meyer, Hoffmann, Krause, Hollstein, Luschka,
Geqenbaur, Hartmann, Birch-Hirschfeld, Orth; ferner die ältern von Meckel, Hildebrandt und Arnold; von den französischen die
von Cruveilhier und Sappey.
Ein Verzeichnis der wichtigsten ältern und neuem Werke über Anatomie enthält Hyrtl's «Lehrbuch der
Anatomie des Menschen» (20. Aufl., Wien 1889).
Von anatom. Bilderwerken sind am bekanntesten die von Weber, Arnold, Froriep, Bock, Henke, Henle, Heitzmann,
Braune, Rüdinger, Obst, von Bardeleben. Unter den Zeitschriften sind hervorzuheben die von Hofmann und Schwalbe herausgegebenen
«Jahresberichte über die Fortschritte der und Physiologie»; Archiv für und Entwicklungsgeschichte (hg. von His und Braune);
Virchows Archiv für pathologische und Physiologie (Berl. 1847 fg.). Die Bedürfnisse des Künstlers berücksichtigen:
Harleß, Lehrbuch der plastischen Anatomie (2. Aufl. von Hartmann, Stuttg. 1876);
Froriep, Anatomie für Künstler (Lpz. 1880);
Duval, Anatomie
artistique (Par. 1881);
Langer, der äußern Formen des menschlichen Körpers (Wien 1884);
Roth, Plastisch-anatom. Atlas zum
Studium des Modells und der Antike (2. Aufl., Stuttg. 1886);
Brücke, Schönheit und Fehler der menschlichen
Gestalt (Wien 1891);
C. Schmidt, Wegweiser für das Verständnis der Anatomie beim Zeichnen nach der Natur und der Antike (3. Aufl.,
Tüb. 1894).