Titel
Anatomīe
die
Lehre
[* 2] von Form und
Bau der organisierten
Körper und ihrer einzelnen Teile (theoretische Anatomie
oder Zergliederungskunde), dann
die Untersuchung des organischen
Körpers selbst in Bezug auf Form und
Bau (praktische Anatomie
oder Zergliederungskunst)
und endlich der
Ort, wo dergleichen Untersuchungen vorgenommen
werden und
Unterricht darin erteilt wird
(anatomisches Theater).
Gewöhnlich braucht man Anatomie
nur für Zergliederung des menschlichen
Körpers
(Anthropotomie), während man die Zergliederung
der
Tiere
Zootomie, die der
Pflanzen
Phytotomie nennt. Die theoretische Anatomie
zerfällt in die allgemeine und
spezielle Anatomie.
Die spezielle oder deskriptive Anatomie hat die
Darstellung der einzelnen Teile und
Organe zum Gegenstand. Mit Bezug
hierauf zerlegt man die menschliche in sechs
Abschnitte, nämlich in
1) Osteologie oder Lehre von den Knochen [* 3] und Knorpeln;
2) Syndesmologie oder Bänderlehre, die Darstellung der bandartigen Organe, durch welche die Knochen namentlich in den Gelenken verbunden werden;
3) Myologie oder Muskellehre;
4) Angiologie oder Gefäßlehre, welche Lage und Verlauf der Blut- und Lymphgefäße darstellt;
5) Neurologie oder Nervenlehre, die Beschreibung des Nervensystems (Gehirns, Rückenmarks, der Sinnesorgane etc.);
6) Splanchnologie oder Lehre von den Eingeweiden, d. h. den Atmungs-, Verdauungs-, Harn- und Geschlechtsorganen.
Die allgemeine Anatomie
beschäftigt sich nicht mit der Form der einzelnen
Organe des
Körpers, sondern mit den
Eigenschaften des
Materials, aus welchem sich jene aufbauen. Die oberflächlichste Betrachtung lehrt, daß in verschiedenen Teilen des
tierischen
Organismus
Stoffe von gleichen
Eigenschaften, wie
Knochen,
Muskeln,
[* 4]
Sehnen,
Nerven
[* 5] etc., wiederkehren.
Über die
Struktur dieser Elementarteile gibt nun die allgemeine Anatomie
Aufschluß und man ist daher sehr oft genötigt,
zur Ermittelung des feinern
Baues der
Gewebe
[* 6] das
Mikroskop
[* 7] zu
Hilfe zu nehmen.
Ein besonderer
Zweig ist daher die mikroskopische Anatomie
oder
Gewebelehre
(Histologie). Eine andre Behandlungsweise der Anatomie
unterscheidet
am
Körper größere oder kleinere Abteilungen
(Regionen) und beschreibt die in jeder derselben vorkommenden
Abschnitte der
oben genannten
Systeme, wobei sie zugleich auf zuweilen vorhandene
Abweichungen der gewöhnlichen Lagenverhältnisse,
die sogen. anatomischen
Varietäten, Rücksicht nimmt. Sie wird topographische Anatomie
oder, da ihre Kenntnis besonders für den
operierenden Chirurgen wichtig ist, chirurgische Anatomie
genannt.
Zum Teil mit dieser zusammen fällt die Anatomie
für bildende
Künstler, die neben der äußern Form des
Körpers auch die Veränderungen,
welche sich bei den
Bewegungen desselben ergeben und durch das
Spiel der
Knochen und
Muskeln bedingt sind, beschreibt und daher
die Betrachtung des lebenden
Körpers zu
Hilfe nehmen muß (s. Litteratur). Die bisher genannten
Disziplinen
befassen sich sämtlich mit dem gesunden menschlichen
Körper und werden daher zusammen auch als normale Anatomie
bezeichnet im
Gegensatz zur pathologischen Anatomie
oder der
Lehre vom
Bau des kranken
Körpers.
Letztere wird stets getrennt abgehandelt und hat nicht nur die Unterschiede der kranken Teile von
den gesunden zu verfolgen und die gegenseitigen Beziehungen derselben zu ermitteln, sondern auch die
Symptome der
Krankheiten,
welche sich am lebenden
Körper zeigen, aus den ihnen zu
Grunde liegenden anatomischen Veränderungen zu erklären. Die Grundlage
der pathologischen Anatomie
ist selbstverständlich die normale in ihrem ganzen
Umfang (vgl.
Pathologie); daher
zerfällt auch sie in einen speziellen und allgemeinen Teil, hat ihre gesonderte
Gewebelehre etc.
Eine ganz besondere
Stellung nimmt die vergleichende Anatomie
ein, die es mit der Vergleichung der gesamten Tierwelt mit Einschluß
des
Menschen zu
¶
mehr
thun hat. Ursprünglich aus dem Bestreben hervorgegangen, für die Kenntnis des menschlichen Körpers Vergleichspunkte bei den ihm nahestehenden übrigen Säugetieren zu finden, hat sie sich namentlich in der Neuzeit über das ganze Tierreich erstreckt und ist so zu einem Teil der Zoologie (s. d.) im weitern Sinn geworden. Sie beschäftigt sich jedoch nur mit den ausgebildeten Formen, über Entstehung und Wachstum derselben verbreitet sich die Entwickelungsgeschichte; [* 9] beide zusammen aber behandeln den Bau des tierischen Körpers zu jeder Zeit seiner Existenz und werden daher als Morphologie bezeichnet.
In der anatomischen Technik, die sich aus der praktischen Anatomie
entwickelte, unterscheidet man gewöhnlich, namentlich
mit Bezug auf den Menschen, die Sektionen und das Präparieren. Unter Sektion (s. d.) versteht man die kunstgerechte Öffnung
der drei großen Höhlen des menschlichen Körpers, verbunden mit der Untersuchung der in ihnen befindlichen Eingeweide
[* 10] und
Organe. Das Präparieren besteht in der kunstgerechten Trennung der einzelnen Teile voneinander, so daß sie
ihrer Gestalt und Lage nach deutlich unterschieden werden können; man erhält so anatomische Präparate (s. d.) und stellt
sie in den anatomischen Sammlungen oder Museen auf, bildet sie auch wohl in Wachs, Gips
[* 11] etc. nach sowie auf den anatomischen
Tafeln ab.
Die geschichtliche Entwickelung der Anatomie weist die leichtverständliche Thatsache auf, daß zuerst fast nur die Priester und Ärzte sich mit anatomischen Arbeiten befaßten. Bei den alten Griechen wurden nur Tierzergliederungen zu wissenschaftlichen Zwecken in größerer Ausdehnung [* 12] vorgenommen, und so hat auch Aristoteles in seiner »Naturgeschichte des Tierreichs« zahlreiche genaue Angaben über Tieranatomie niedergelegt. In der menschlichen Anatomie dagegen waren die alten Griechen und Römer [* 13] schlecht bewandert.
Hippokrates kannte nur Knochen und Gelenke näher, verwechselte aber noch Sehnen und Nerven, Arterien und Venen miteinander. In der von Ptolemäos I. zu Alexandria gestifteten medizinischen Schule (320 v. Chr.) scheint die menschliche Anatomie ihre erste Pflegstätte gefunden zu haben. Von dem in Rom [* 14] lebenden Arzt Galenus (geb. 131 n. Chr.), welcher ebenfalls in Alexandria studierte, weiß man nicht genau, ob er je eine menschliche Leiche sezierte; seine anatomischen Beschreibungen beziehen sich wohl alle auf Hunde [* 15] und Affen. [* 16]
Nichtsdestoweniger standen seine anatomischen Schriften das ganze Mittelalter hindurch im höchsten Ansehen. Erst mit Mondini, Professor zu Bologna, begann ein Aufschwung der Anatomie. Er zergliederte (1306) zuerst wieder zwei menschliche Leichen, und sein anatomisches Werk blieb gegen 200 Jahre lang fast ausschließlich im Gebrauch, zumal Papst Bonifacius VIII. diejenigen mit dem Kirchenbann belegte, die es wagten, einen Menschen zu zergliedern oder seine Gebeine auszukochen.
Eine neue Epoche der Anatomie beginnt im 16. Jahrh. mit dem berühmten Andreas Vesalius (geb. 1514; sein Werk »De corporis humani fabrica« erschien 1543),
dem sich Fallopia (mit seinen »Observatione anatomicae«) und Eustachio würdig anreihten. Von größter Wichtigkeit war die Entdeckung des Kreislaufs des Bluts durch den Engländer William Harvey (1578-1657); allmählich wurden auch die einzelnen Organe des menschlichen Körpers genauer bekannt und erhielten nicht selten Beinamen von den Forschern, welche sie auffanden (z. B. pancreas Aselli capsula Glissonii, ductus Stenonianus, nervus accessorius Willisii). Der erste, welcher das Vergrößerungsglas zum Zweck anatomischer Untersuchungen anwendete und so zum Schöpfer der mikroskopischen Anatomie wurde, ist Marcello Malpighi (1628-94). Die beiden Niederländer Leeuwenhoek (gest. 1723) und Swammerdam (gest. 1680) machten auf dem nämlichen Gebiet mannigfache Entdeckungen.
Auch die vergleichende Anatomie, die man in frühern Zeiten nur aus Mangel an menschlichen Leichen einiger Aufmerksamkeit gewürdigt hatte, fing nun an, als eigne Wissenschaft kultiviert und zur Aufklärung und Erweiterung der menschlichen benutzt zu werden. Insbesondere leisteten ihr die damals ins Leben tretenden gelehrten Körperschaften, die Royal Society in London [* 17] und die Académie des sciences in Paris, [* 18] großen Vorschub. In Italien [* 19] lebte um 1700 die seit Malpighis Tod schlummernde in Lancisi, Valsalva und seinen berühmten Schülern Santorini und Morgagni wieder auf. Besonders die Werke des letztern enthalten viele Bemerkungen aus dem ganzen Gebiet der Anatomie, und sein Buch über die pathologische Anatomie steht noch heute in Ansehen. Am meisten ragt jedoch in der damaligen Zeit Albrecht v. Haller (gest. 1777) hervor. Sein großes Werk »Elementa physiologiae« ist für die Anatomie vielleicht ebenso bedeutungsvoll wie für die Physiologie. Nach ihm sind zu nennen: J. F. ^[Johann Friedrich] Meckel (gest. 1774), Camper (gest. 1789), John Hunter (gest. 1793) und sein Bruder William, K. F. Wolff (gest. 1764), Wrisberg (gest. 1808), Mascagni (gest. 1815), Reil (gest. 1813), Bichat (gest. 1802). Letzterer gilt mit Recht als Begründer der Histologie (Gewebelehre), die allerdings erst seit dem Auftreten der Zellentheorie (Schleiden und Schwann) sich zu ihrer jetzigen Höhe aufgeschwungen hat. In unserm Jahrhundert sind als bedeutende Anatomen zu nennen: Sömmerring, Scarpa, Hildebrandt, Rosenmüller, Langenbeck, Tiedemann, E. H. Weber, Meckel, Henle, Arnold, Reichert, Hyrtl, Luschka.
Die beiden letztern haben auch auf dem Gebiet der chirurgischen Anatomie viel geleistet, während diese Richtung bis dahin vorzugsweise von den Franzosen Portal, Velpeau, Malgaigne, Pétrequin, Richet mit Erfolg bearbeitet worden war. Vorzugsweise als Histologen waren oder sind noch thätig: Joh. Müller, Purkinje, Rud. Wagner, Kölliker, Gerlach, Max Schultze, Waldeyer, His, Frey, Robin, Ranvier, Beale, Harting. Die pathologische Anatomie fand Berücksichtigung in den ersten Dezennien dieses Jahrhunderts vorzugsweise in Frankreich (Cruveilhier, Gendrin, Andral, Lobstein), seit 1840 jedoch in hervorragenderer Weise in Deutschland, [* 20] wo namentlich Rokitansky in Wien [* 21] und Virchow in Berlin [* 22] sie gepflegt haben.
Letzterer wandte zuerst die Zellenlehre auf sie an und wurde so der Schöpfer der sogen. Cellularpathologie. Von den Männern, welche sich um vergleichende Anatomie verdient gemacht haben, sind zu nennen: Cuvier, Et. Geoffroy Saint-Hilaire, J. F. ^[Johann Friedrich] Meckel, Bojanus, K. G. Carus, Rathke, R. Wagner, Bronn und vor allen Joh. Müller;
H. Milne Edwards, Leydig, Hyrtl, v. Siebold, R. Leuckart, O. Schmidt, Herting, E. Häckel, Th. Huxley, R. Owen und vor allen K. Gegenbaur.
Litteratur. Meckel, Handbuch der menschlichen Anatomie (Halle [* 23] u. Berl. 1815-20, 4 Bde.);
Cruveilhier, Traité d'anatomie descriptive (5. Aufl., Par. 1871-1878, 3 Bde.);
Krause, Handbuch der menschlichen Anatomie (3. Aufl., Hannov. 1876-80, 3 Bde.);
Arnold, Handbuch der Anatomie des Menschen (Freiburg [* 24] 1843-51);
Meyer, Lehrbuch der Anatomie des Menschen (3. Aufl., Leipz. 1873);
Sappey, Traité d'anatomie descriptive (3. Aufl., Par. 1876-78, 4 Bde.);
Quain, Handbuch der Anatomie (deutsch von Hoffmann, Erlang. 1869-71);
Henle, Handbuch der systematischen Anatomie des Menschen (Braunschw. 1871, 4 Bde.);
Hyrtl, Lehrbuch der Anatomie ¶
mehr
des Menschen (16. Aufl., Wien 1882);
Langenbeck, Icones anatomicae (Götting. 1826-38);
Arnold, Tabulae anatomicae (Zür. 1838-43);
Froriep, Atlas [* 26] anatomicus (5. Aufl., Weim. 1865);
Bock, [* 27] Handatlas der Anatomie des Menschen (6. Aufl., Berl. 1871);
Cooper, Lectures on anatomy (Lond. 1835, 4 Bde.);
Malgaigne, Traité d'anatomie chirurgicale (2. Aufl., Par. 1859, 2 Bde.);
Richet, Traité d'anatomie medico-chirurgicale (5. Aufl., das. 1877);
Cuvier, Leçons d'anatomie comparée (2. Aufl., das. 1836-46, 9 Bde.);
Carus, Icones zootomicae (Leipz. 1857, Teil 1);
Owen, Comparative anatomy and physiology of the vertebrates (Lond. 1866-68, 3 Bde.);
Siebold und Stannius, Lehrbuch der vergleichenden Anatomie (Berl. 1845-48, 2 Bde.);
Gegenbaur, Grundriß der vergleichenden Anatomie (2. Aufl., Leipz. 1878);
Derselbe, Lehrbuch der Anatomie des Menschen (das. 1883);
O. Schmidt, Handbuch der vergleichenden Anatomie (8. Aufl., Jena [* 28] 1882);
Bergmann und Leuckart, Anatomisch-physiologische Übersicht des Tierreichs (Stuttg. 1851-53);
Milne Edwards, Leçons sur la physiologie et l'anatomie comparée de l'homme et des animaux (Par. 1857-81, 14 Bde.);
Huxley, Anatomie der Wirbeltiere (deutsch, Berl. 1873);
Derselbe, Grundzüge der der wirbellosen Tiere (deutsch, Leipz. 1878);
Franck, Handbuch der der Haussäugetiere (2. Aufl., Stuttg. 1884);
Wilckens, Form und Leben der landwirtschaftlichen Haustiere (Wien 1878);
Müller, Lehrbuch der der Haussäugetiere (3. Aufl., das. 1884);
Bendz, Körperbau und Leben der landwirtschaftlichen Haustiere (deutsch von Fock, Berl. 1876).
Auch für Künstler ist neben den praktischen Übungen in den Seziersälen und in den Vorlesungen (s. oben) das Studium der Anatomie durch eine Reihe von Werken mit theoretischen Anweisungen ermöglicht. Als dasjenige, welches die Bedürfnisse der Künstler am meisten und in klarster Darstellung berücksichtigt, ist Karl Langers der äußern Formen des menschlichen Körpers« (Wien 1884) zu empfehlen. Das ausführlichste und gründlichste ist E. Harleß' »Lehrbuch der plastischen Anatomie für akademische Anstalten und zum Selbstunterricht« (2. Aufl. von Rob. Hartmann, Stuttg. 1876),
unter besonderer Berücksichtigung der Anthropologie; es erfordert indessen ein sehr eindringliches Studium. Als Ergänzung zu beiden Werken dient Chr. Roths »Plastisch-anatomischer Atlas zum Studium des Modells und der Antike« (Stuttg. 1872). Speziell an die Künstler wenden sich auch Anatomie Frorieps »Anatomie für Künstler« (Leipz. 1880),
M. Duvals »Anatomie artistique« (Par. 1881). In Akademien und Kunstschulen sind zum Zweck des Anschauungsunterrichts auch große Wandtafeln mit anatomischen Normalfiguren (z. B. dem Borghesischen Fechter) eingeführt.