Altlutheraner
7 Wörter, 68 Zeichen
Im Meyers Konversations-Lexikon, 1888
Altlutheraner,
Im Brockhaus` Konversationslexikon, 1902-1910
Altlutheraner,
s. Lutheraner. ^[= # wurden zuerst von Eck und Papst Hadrian VI. die Anhänger der Lutherischen Kirchen396 wiegend ...]
Kirche, im Gegensatz zur reformierten diejenige Kirchengemeinschaft, welche sich nach der von Luther begonnenen deutschen Reformation zunächst durch die Augsburgische Konfession (1530) begründet und besonders von Sachsen [* 3] aus weiter verbreitet hat, so daß sie, außer daselbst, namentlich in dem größten Teil von Hannover, [* 4] in Braunschweig, [* 5] Oldenburg [* 6] und Mecklenburg, [* 7] in dem größten Teil von Preußen, [* 8] Württemberg [* 9] und Baden, [* 10] in einem Teil von Kurhessen und dem Großherzogtum Hessen, [* 11] in Dänemark, [* 12] Schweden [* 13] und Norwegen, auch in den russischen Ostseeprovinzen herrschend geworden ist.
In den Vereinigten Staaten [* 14] von Nordamerika [* 15] zählte die l. K. 1881 gegen 3200 Geistliche und über 5600 Gemeinden. Ihre Bekenner berechnen sich auf wenigstens 30 Millionen. Die Bekenntnisschriften der lutherischen Kirche sind im sogen. Konkordienbuch (s. d.) zusammengestellt. Luther selbst war nicht damit einverstanden, daß sich seine Anhänger und Bekenner nach seinem Namen nannten; doch konnte er es nicht hindern.
Vgl. Heppe, Ursprung und Geschichte der Bezeichnungen reformierte und lutherische Kirche (Gotha [* 16] 1859);
Ritschl in der »Zeitschrift für Kirchengeschichte« 1877. Zumal nachdem die Kryptocalvinisten (s. d.) ausgeschieden waren, wurde die Konkordienformel (s. d.) die Grundlage, auf welcher die Dogmatiker des 17. Jahrh. das Gebäude einer spezifisch lutherischen Dogmatik aufführten (Leonh. Hutter, Joh. Gerhard, Abr. Calov, Andr. Quenstedt u. a.).
Das Wesentliche dieser neuen Scholastik bestand in peinlich genauer Nachbildung und Wiederholung aller Eigentümlichkeiten, unvermittelten Schroffheiten und sogar Widersprüche, welche das religiöse Bewußtsein Luthers selbst in sich vereinigte. Was aber bei diesem Leben und Wahrheit war, das wurde in der lutherischen Rechtgläubigkeit Karikatur und Maske. Erst seit dem Auftreten des Pietismus erfolgte eine wohlthätige Annäherung der lutherischen an die reformierte Theologie, und über beide Formen des protestantischen Scholastizismus gingen seit Lessing die Aufklärung (s. d.) und seit J. S. (Anmerkung des Editors: Johann Salomo) Semler der Rationalismus (s. d.) mit raschen und großen Schritten hinweg. Erst im Zeitalter der Restauration suchten Twesten vom Schleiermacherschen, Daub und Marheineke vom Hegelschen Standpunkt aus das lutherische Bekenntnis in modernen Formen zu rekonstruieren. Zur eigentlichen Repristination aber gab ¶
erst der Widerstand gegen die Union (s. d.) in Preußen, insonderheit gegen die durch königliche Kabinettsorder eingeführte Agende (1817-34), Anlaß, welcher zur Bildung der Partei der Altlutheraner führte. Zunächst verhielt sich die Staatsgewalt, als der Professor der Theologie, Scheibel (s. d.), in Breslau [* 18] 1830 eine altlutherische Gemeinde stiftete und damit die Separation einleitete, keineswegs günstig dazu, und seit 1834 erging eine eigentliche Verfolgung gegen die Altlutheraner wie gegen Rebellen.
Daher hielten sich damals selbst sonst am Symbol streng festhaltende Theologen, wie Hengstenberg, Hahn [* 19] u. a., in erkennbarer Entfernung von den Altlutheranern, wiewohl sie übrigens die gleichen Bestrebungen innerhalb der Landeskirche selbst fortsetzten. König Friedrich Wilhelm IV. bewilligte den Altlutheranern, um das begangene Unrecht zu sühnen, das Recht zu eigner Kirchenbildung, und demgemäß konstituierte sich auf einer Generalsynode zu Breslau (1841) die wahre lutherische Kirche unter der Leitung eines Oberkirchenkollegiums, und nachdem die königliche Generalkonzession vom diesen Gemeinden, die bis 1847 auf 27 gestiegen waren, Korporationsrechte erteilt hatte, bildete sich ein lutherisches Oberkirchenkollegium unter der Leitung des Professors Huschte, eines Juristen, als oberste Kirchenbehörde.
Unterdessen waren auch anderwärts Bewegungen zu gunsten des Altluthertums hervorgerufen worden, und besonders die lutherischen Konferenzen in Leipzig [* 20] (seit 1843), erst unter Rudelbach, dann unter Harleß, dienten dazu, die Partei fester zu verknüpfen. Das Jahr 1848 erschien solchen Bestrebungen besonders günstig. Man gedachte alle Rechte, die für eine freie Entwickelung der Kirche in Aussicht standen, alsbald auszuüben und aggressiv gegen die Union vorzugehen.
Die verschiedenen Vereine konsolidierten sich auf den Kirchentagen zu Wittenberg [* 21] und 1851) zu einem Zentralverein, in welchem Göschel als Vorstand fungierte. In der That ist infolge der Reaktionsjahre dieses Neuluthertum, wie man es im Gegensatz zu dem bloß defensiv sich verhaltenden Altluthertum der frühern Jahre nannte, in den meisten Landeskirchen Deutschlands [* 22] zur Herrschaft gelangt: in Sachsen durch Harleß und Luthardt, in Bayern [* 23] durch Thomasius und Lohe, in Mecklenburg durch Kliefoth und Krabbe, [* 24] in Hannover durch Petri, Münchmeyer und Uhlhorn. In Kurhessen endlich haben Hassenpflug und Vilmar mit der strengen Verpflichtung auf die Symbole in Kirche und Schule das Luthertum sogar einer ursprünglich reformierten Kirche aufgedrängt. In Preußen wurden der Oberkirchenrat und die Konsistorien durch die königliche Kabinettsorder vom in Mitglieder des lutherischen und des reformierten Bekenntnisses zerteilt.
Gleichzeitig bildete sich aber auch innerhalb der Partei eine immer größere Differenz heraus. Nicht bloß zeigte es sich, daß die theologischen Häupter der ganzen Richtung selbst von der »Ketzerei« infiziert waren: Hengstenberg im Punkte der Rechtfertigung, Hofmann in dem der Versöhnung, Thomasius in dem der Christologie, Kahnis in dem der Trinität etc., sondern es trat seit 1860 auch in der Generalsynode zu Breslau ein Bruch ein: es gab doppelt separierte Lutheraner, die sich 19.-21. Juli 1861 in der sogen. Immanuel-Synode zu Magdeburg [* 25] zusammenscharten.
Vgl. Wangemann, Der Kirchenstreit unter den Lutheranern in Preußen (Berl. 1862).
Auch in mancher gut lutherischen Landeskirche ist es neuerdings zur Bildung von Separatkirchen gekommen.