Titel
Kirche
bezeichnet im Gegensatz zu den Tempeln der Alten, den Moscheen der Mohammedaner und den Synagogen der Juden das der christlichen Gottesverehrung geweihte Gebäude (s. Kirchenbaukunst), dann bald die Gemeinschaft der christlichen Gläubigen im Gegensatz zu andern Religionsgenossenschaften, bald den äußerlichen Organismus derselben, wie er sich in bestimmten Gesellschaftsformen, Kultus und Verfassung darstellt, bald ganz allgemein die ausschließlich religiöse Gemeinschaftsform selbst, in welchem Sinn auch von einer jüdischen, mohammedanischen etc. Kirche gesprochen werden kann, bald auch wieder die zum Christentum sich bekennende Bevölkerung eines einzelnen Landes oder Staats (Landeskirche) in Hinsicht auf ihre besondere Verfassung etc., bald endlich eine einzelne Partei der Christen, sofern sie als eine besondere, durch Glaubenssymbole und Rechte, auch wohl Zeremonien von andern sich unterscheidende größere Religionsgesellschaft angesehen wird, so römisch-katholische, griechisch-katholische, lutherische, reformierte Kirche im Gegensatz zu Sekte. Auch die Etymologie des Wortes ist streitig, wenngleich jetzt die meisten Gelehrten den Ursprung desselben auf das griechische Kyriakón (Herrenhaus, Haus), in welchem sich die Gemeinde des Herrn zu seinem Dienst versammelt, zurückführen. Da sonach weder Sprachgebrauch noch Etymologie zu einem irgend sichern Resultat verhelfen, so hilft nur eine teils
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begriffliche, teils historische Ableitung zur Orientierung in dem Gewirr von Ansichten und Meinungen, den das schon nach Luthers Urteil »blinde, undeutliche« Wort veranlaßt hat.
I. Lehre von der Kirche.
Wenn die Religion ein wesentliches Moment in dem geistigen Gesamtleben der Menschheit ist, wie sie sich denn in dem bisherigen Verlauf der Geschichte als umfassendstes Thema derselben erwiesen hat: so wird es auch als eine dem Menschengeist innewohnende allgemeine Notwendigkeit bezeichnet werden müssen, daß er sich behufs Lösung dieses Teils seiner Aufgabe eine eigne, also ausschließlich religiöse Gemeinschaftsform schafft, im Unterschied zu politischen, sozialen, wissenschaftlichen, künstlerischen Gemeinschaftsformen. In diesem rein idealen Sinn ist die Kirche der Organismus des religiösen Lebens der Menschheit überhaupt.
Wirklich vorhanden ist diese Ecclesia (s. d.) immer nur in einer Gemeinde, wie Staat und Volk immer nur in einer Nationalität mit bestimmter Staatsform. Während aber in der vorchristlichen Zeit das religiöse und das politische Leben der Menschheit ununterscheidbar zusammenfallen und ineinander aufgehen, hat das Christentum eine über die nationalen Gegensätze übergreifende, auf geistigen Zusammenschluß der Menschheit abzweckende, rein religiöse Gemeinschaft eingeführt, und es ist daher kein Zufall, daß dem Wort Kirche trotz seiner allgemeinen Bedeutung doch eine spezifische Beziehung auf die christliche Religion anhaftet (s. Christentum).
Der leitende Gedanke bei der theoretischen Durchbildung des Begriffs der Kirche ist der eines gesellschaftlichen Wunders, welches dem Wunder der Person Christi als des menschgewordenen Gottessohns entspricht und seine Fortsetzung darstellt. In diesem Sinn führen die Briefe an die Epheser und Kolosser das sonst von Paulus gebrauchte Bild vom Leib, darin Christus der Geist ist, dahin weiter, daß die als eine die irdische und überirdische Welt umfassende Gemeinschaft der Geister erscheint, wovon der im Himmel erhöhte Christus das Haupt ist.
Damit war die Vorstellung eines sinnlich-übersinnlichen Organismus gegeben, welcher sein eigentliches Wesen in der überirdischen Welt, seine irdische Erscheinung aber in den einzelnen Gemeinden und in der Gesamtheit aller dieser einzelnen Gemeinden hat. Dies das wesentliche und stehende Schema, in welches dann alle christlichen Religionsgenossenschaften und Lehrbegriffe ihre eigentümlichen Auffassungen vom Wesen der Kirche hineingezeichnet haben, indem sie bald mehr das eine, bald mehr das andre Moment hervorheben oder ihre Sonderstellung durch die Eigentümlichkeit der Verbindung beider Momente bezeichnen.
Dieselbe als ein Verhältnis fast durchgängiger Einerleiheit aufzufassen, ist von jeher der hervorstechende Charakterzug des Katholizismus (s. d.) gewesen. Dieser versteht unter Kirche unmittelbar die irdische Erscheinung selbst, die mit wunderbaren Kräften aus der übersinnlichen Welt ausgestattete, angeblich von Christus selbst gestiftete Heilsanstalt, deren wesentliche Organe die Bischöfe als Nachfolger der Apostel sind. Die Kirche ist ihm die christliche Gesellschaft schlechthin.
Daß außer ihr, die am liebsten unter dem Bild einer Mutter oder einer Arche Noah, eines Schiffleins Christi gedacht wurde, keine Rettung zu finden, in ihr aber die Fülle des Heils sei, wurde sowohl den Heiden als den Häretikern gegenüber einstimmig behauptet. Cyprian und Augustin sind die Hauptschöpfer dieses Kirchenbegriffs, auf dessen Ausbildung namentlich das Aufblühen der Kirche unter dem Schutz des Staats sowie der Sieg des Augustinismus über die Lehre der Pelagianer, Manichäer und Donatisten einwirkten. Im Streit mit den letztern erkannte Augustin in der Kirche die Gesamtheit aller Getauften und beförderte durch kecke Vereinerleiung des in der Wirklichkeit gegebenen Organismus mit dem Reiche Gottes die katholische Weltanschauung, welche, von der Theologie der römischen Bischöfe auf den dortigen Primat ausgedehnt, die Hierarchie des Mittelalters vorbereiten und vollenden half.
Das geschichtliche Gewächs des den Weltstaat sich dienstbar machenden und die Nationen erziehenden Katholizismus wurde hier gleichsam mit Haut und Haaren zum Glaubensgegenstand erhoben. Dem Katholizismus ist die Kirche die unmittelbar gegenwärtige Erscheinung der überirdischen Ordnung Gottes, begabt mit sichtbarem Oberhaupt, unfehlbarer Lehre, wunderbaren Gnadenmitteln, über alle sonstigen Ordnungen des Menschenlebens so erhaben wie der Geist über das Fleisch, aus himmlischen Regionen herabgesenkt auf die Erde, um möglichst viele Menschen auf Erden kraft der Sakramente zu retten und in die übersinnliche Welt emporzuheben. In diesem vom römischen Katechismus aufgenommenen Unterschied von streitender und triumphierender Kirche begegnet uns die letzte schwache Spur einer Unterscheidung von Wirklichkeit und Ideal.
Aus der notwendigen Unterscheidung im Gegenteil eine Trennung zu machen, die ideale Gemeinschaft loszureißen von der empirischen Kirche, war der gemeinsame Gedanke aller reformatorischen, aber auch aller schwärmerisch aufgeregten Sekten des Mittelalters. Der Gegensatz zwischen äußerlicher und innerlicher Auffassung des Begriffs der Kirche trat in dem Kampf zwischen Katholizismus und Protestantismus in der Weise hervor, daß nach römisch-katholischer Ansicht die in der sichtbaren, unter dem Papst als ihrem Oberhaupt vereinigten Gemeinschaft der auf ein äußerliches Bekenntnis und auf einen und denselben Gebrauch der Sakramente hin Getauften, also in der empirischen rechtlichen Abgrenzung der Glaubensgemeinschaft, nach protestantischer Ansicht aber vornehmlich in der »Gemeinschaft der Heiligen« (s. d.) besteht, an die, als an die der Erlösung durch Christus entsprechende Gesamtwirkung, man glaubt, die man aber nicht sieht.
Nach der einen Ansicht gelangt der einzelne durch die Kirche zu Christus, nach der andern durch Christus zur Kirche. Doch lenkt auch die protestantische Dogmatik vom absoluten Idealismus ein, indem sie unsichtbare und sichtbare Kirche unterscheidet und beide im Zusammenhang miteinander hält durch die Lehre von den Merkmalen der wahren Kirche. Als solche gelten, zumal dem Luthertum, reine Lehre und stiftungsgemäße Sakramentsverwaltung. Da immer wird »Gemeinschaft der Heiligen« stetig erzeugt und die unsichtbare Kirche am meisten gefördert, wo in einer sichtbaren das Wort Gottes unverfälscht gelehrt, die Sakramente einsetzungsgemäß verwaltet werden, d. h. die lutherische Kirche erschien als der verhältnismäßig adäquateste Ausdruck der Idee der Kirche. Die reformierte Lehre unterscheidet sich davon nur durch Ausnahme ethischer Merkmale und disziplinarer Bestimmungen. Gegen die Anknüpfungspunkte, welche dieser protestantische Kirchenbegriff im katholischen fand, bildeten zunächst wieder die Mystiker und Enthusiasten in ähnlicher Weise wie die mittelalterlichen Sekten eine fortwährende Opposition. Anderseits offenbarte allmählich der Protestantismus eine grundsatzmäßig auf Umsetzung des Christentums aus der
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kirchlichen in die weltlichen Form gerichtete Tendenz; die Religion selbst fing an, sich von der Theologie zu emanzipieren, und es fiel der Kirche immer schwerer, ein sicheres und klares Bewußtsein von ihrer Existenz in sich zu tragen. Die Periode der Aufklärung sah geradezu in jeder Selbständigkeit des kirchlichen Lebens dem Staat gegenüber etwas Hierarchisches. Dieser Mangel an allgemein kirchlichem Leben aber bewirkte, daß in den einzelnen der Gemeinschaftstrieb sich um so stärker regte, und so entstanden Kirchlein in der Kirche, z. B. die Brüdergemeinde, während andre, z. B. Swedenborg, an der Gegenwart verzweifelnd, die Kirche eines neuen Jerusalem in ihre idealvisionäre Welt hineinbauten.
Die Reaktion des 19. Jahrh. aber belebte sofort auch wieder den Kirchenbegriff in allen christlichen Denominationen, und so hat namentlich auch die neuere protestantische Theologie seit Schleiermacher das Dogma von der Kirche zu bearbeiten und es selbst über die noch unvollkommenen Anfänge im Reformationszeitalter hinauszuführen versucht. Mit der Ausbildung des Dogmas hält auch die Ausbildung des Kirchenrechts und der Kirchenverfassung gleichen Schritt.
II. Geschichtliche Entwickelung der christlichen Kirche.
(Vgl. hierzu die Beilage »Zeittafel der Kirchengeschichte«)
Erste Periode: bis auf Konstantin den Großen.
Eine richtige Würdigung des kirchengeschichtlichen Prozesses setzt vor allem Einsicht in die religionsgeschichtlichen Thatsachen voraus, daß die Wirkungen der schöpferischen Persönlichkeiten, nach welchen die großen Epochen der religiösen Entwickelung benannt zu werden pflegen, nur sehr teilweise zusammenfallen mit dem, was auf ihren Namen hin gethan und gewirkt, gesprochen und gedacht wird. Auch die christliche Kirchengeschichte stellt nichts weniger als geradlinige Entwickelung von Jesus oder von Paulus aus dar, sondern einen der kompliziertesten Prozesse, welche wir kennen.
Die christliche Kirche ist im eminenten Sinn des Wortes »das Ding mit den vielen Ursachen«, davon die Philosophie weiß, und es bedarf einer nicht eben alltäglichen Vorurteilslosigkeit und Unbefangenheit, um jedem der hier mitwirkenden Faktoren das Seine zu geben. Das Evangelium Jesu und die gemeinsame apostolische Verkündigung kommt hier allerdings in erster Linie, darum aber nichts weniger als in einziger Weise in Betracht. Denn mit dieser Predigt vom Reiche Gottes (s. d.) ist noch lange nicht dasjenige gemeint gewesen oder gar ins Leben gerufen worden, was man Kirche nennt. Im Gegenteil war es der Grundirrtum einer dogmatisch bedingten Geschichtsdarstellung und zwar ebenso auf protestantischer wie auf katholischer Seite, daß die Entstehung der Kirche mit der Entstehung des Christentums (s. d.) gegeben gewesen sei.
Die christlichen Gemeinden waren vielmehr ursprünglich lediglich Verbände zu einem heiligen Leben auf Grund einer gemeinsamen Hoffnung und Sehnsucht nach demnächstiger Weltvollendung durch den wiederkehrenden Messias. Von seinen Sprüchen, die zu kühnem Gottvertrauen und alles aufopfernder Bruderliebe mahnten, von seinen Gleichnissen, die das leise Nahen einer göttlichen Lebensordnung, eines »Himmelreichs«, abbildeten, von seinen Weissagungen, welche demselben Reich ein »Kommen mit Macht« noch innerhalb der Lebzeiten der Zuhörer in Aussicht stellten, zehrten diese Gemeinschaften.
Die eigne Produktionskraft aber that sich Genüge und wirkte sich aus in einem kräftig pulsierenden Leben des Enthusiasmus, der Inspiration, der Prophetie, welches sich auch durch die grundsatzmäßige Gebundenheit an die Autorität des Alten Testaments nicht sehr beengt fühlte. Die ersten Christengemeinden waren Gemeinschaften von Inspirierten mit beweglichen, mannigfaltig nüancierten Verfassungsformen, die bald mehr an die jüdischen Synagogenverbände, bald mehr an die griechischen Kultvereine und römischen Kollegien erinnerten. Das Gemeindeleben selbst trug ein hervorstechend sozialistisches, aber durch und durch religiös bedingtes Gepräge; der heidnischen Kulturwelt stand es in Erwartung eines baldigen Weltendes durchaus ablehnend gegenüber.
Erst etwa seit Mitte des 2. Jahrh. sehen wir die zielbewußtern, von praktischen Trieben beseelten und allmählich vom Bewußtsein einer Weltmission durchdrungenen unter diesen Gemeinden im römischen Weltreich allmählich sich zusammenfinden in jener nach außen immer weiter reichenden, nach innen immer fester gefügten Konföderation, welche sich die »Großkirche«, die »allgemeine«, die »katholische Kirche« (s. d.) nannte. In der Mitte des 3. Jahrh. steht dieselbe wesentlich ausgewachsen und fertig vor uns.
Aber wie ganz andre Züge weist das Christentum nunmehr in dieser neuen Gestalt auf, in welcher die ursprüngliche Abgeschlossenheit gegen die Welt, wenn nicht in der Theorie, so doch faktisch bereits aufgegeben war! Was uns hier entgegentritt, das ist ein mit festen, hierarchisch gegliederten Verfassungsformen ausgestattetes Gemeinwesen, eine Kultusanstalt mit Opfer und Priestertum, neben der alttestamentlichen jetzt auch eine neutestamentliche Offenbarungsurkunde, ein nicht bloß von Propheten, sondern auch von Aposteln geschriebener Kanon (s. d.), ein bereits in Taufbekenntnis und Glaubensregel formulierter Glaube, eine eigentliche Theologie (s. d.), und in dem allen ist zumeist griechisch-römischer Geist spürbar, nicht etwa jüdischer.
Der hellenische Geist ist in der Abwandlung, die er damals erfahren hatte, zu allen Poren des neuen Gemeinwesens eingeströmt, der ursprüngliche Enthusiasmus, die aus eigner Fülle schöpfende apokalyptische Begeisterung ist verduftet. Eine Kirche ist geworden, welche nicht mehr lediglich eine Gemeinschaft der Hoffnung und der Zucht, des Glaubens und Liebens, sondern vor allem einen Staat im Staate darstellt, nominell gegründet auf das Evangelium Jesu, thatsächlich eine ganz eigentümliche Organisation religiös empfindender, von gemeinsamen Idealen zehrender Massen, die sich berufen wußten, in der großen Konkurrenz der verschiedensten Religionsweisen, Kulte, Mysterien und Schulen, welche sich um den geistigen Besitz des römisch-griechischen Weltreichs stritten, die Palme davonzutragen.
Demnach repräsentierte die »Großkirche« eine hierarchische Heilvermittelungsanstalt für die Massen, und die sittlichen Anforderungen an ihre einzelnen Mitglieder erlitten notwendigerweise eine immer größere Einbuße an Idealität. Aus den Gemeinden des Urchristentums schloß eine Todsünde aus; nur Aspiranten des Himmelreichs kamen in Betracht, nicht Weltbürger, Staatsdiener, Gelehrte, Industrielle, Künstler, Soldaten etc. In der Gemeinschaft der katholischen Kirche dagegen konnte jeder seine Stelle finden, sofern er nur sich gewissen Ordnungen und Regeln unterwarf, gewisse Bekenntnisse anerkannte, gewisse Übungen praktizierte. Individuelle Inspiration, Prophetie auf eigne Hand war nunmehr verboten, wie auch Kundgebungen einer allzu unbedingten Hingebung dem Mißtrauen verfielen, ohne daß darum die höchsten Güter des Christentums geradezu unzugänglich geblieben wären. Die Kirche ist das für eine Rolle in
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der Weltgeschichte eingerichtete und insofern das säkularisierte, das mit dem Instinkt der Weltherrschaft versehene, allerorts praktisch zurechtgelegte Christentum. Nichts ist begreiflicher, als daß das Römerreich nicht freiwillig abdankte zu gunsten der sich anmeldenden geistigen Großmacht; es waren bekanntlich gerade die echtesten Erben und Fortleiter der alten Traditionen römischer Politik, welche in der christlichen Kirche eine Todfeindin erkennen und sie bis aufs Blut bekämpfen zu müssen glaubten.
Aber eigenste Kraft und eine Verkettung günstiger Umstände verhalfen letzterer zum Sieg. Ein genialer Eroberer that den kühnen Wurf; erstellte sich anfänglich über die Parteien, um je länger, desto mehr in der christlichen Kirche die eigentliche Trägerin aller zukunftsvollen Mächte zu erkennen und in ihrer bereits bestehenden Einheit die Unterlage einer erst herzustellenden Einheit des Reichs zu suchen. Die Bischöfe der Kirche sollten den wankenden Kaiserthron stützen, ihm im Glauben der Völker den eingebüßten Kredit wieder verschaffen. Was Konstantin (306-337) wollte, das war eine handliche Staatskirche. Aber nur in der östlichen Hälfte des Reichs konnte seine Idee Durchführung finden, und zwar war es wesentlich das Dogma, bei dessen Ausbildung die byzantinischen Kaiser und fast mehr noch ihre Frauen sich beteiligten.
Zweite Periode: bis auf Karl den Großen.
Wir schreiten damit von der ersten Epoche der alten Kirche hinüber zu der zweiten. Die Ansätze des dogmenbildenden Prozesses hatte schon jene gesehen (s. Dogma, Dogmatik, Dogmengeschichte). Die Verweltlichung des Christentums auf dem Gebiet der Lehre und Vorstellung war eingeleitet worden von der Gnosis (s. d.). Ihr ist die kirchliche Theologie nur nachgewachsen. Sie hat in mildern, populärern Formen, in gemäßigtem Tempo wiederholt, was die Gnosis in kühnen Sprüngen gewagt hatte: eine Darstellung der neuen Weltanschauung mittels der Formen griechischer Religionsphilosophie und Mysterienweisheit.
Während aber von der kirchlich werdenden Christenheit vor allem das ganze Judentum als Religion mit Beschlag belegt, die ganze alttestamentliche Geschichte als Vorgeschichte der in Anspruch genommen wurde, rechnete der Gnostizismus dieses Alte Testament vielmehr in das von ihm noch viel heftiger als von der Kirche verworfene Judentum ein und ging deshalb der Kirche mit Bildung eines eignen, eines neutestamentlichen Kanons sogar voran. In den Wirren des mit der Gnosis geführten Kampfes erfuhr die Kirche erstmalig das Bedürfnis, ihr einfaches Taufbekenntnis durch Erweiterungen zu erläutern und in eine die kirchlich korrekte Überlieferung fixierende Glaubensregel umzuwandeln. An diese Glaubensregel setzt sich sofort die noch ganz embryonale und fragmentarische Theologie der antignostischen Kirchenväter, eines Justinus, Irenäos, Tertullian, an. Erst durch das Medium der als »Neues Testament« kanonisierten Schriften der apostolischen und nachapostolischen Epoche im Verein mit der Glaubensregel werden jetzt auch die treibenden Ideen des Urchristentums selbst in dieser Kirche eine wirksame Macht.
Aber den gut christlichen Elementen, mit welchen auf diesem Weg das Dogma ausgestattet wurde, halten die sich mehrenden griechischen die Wagschale. Hand in Hand mit der im Verlauf des 3. Jahrh. sich vollziehenden Umbildung der in einen heiligen Staat erfolgt eine Umsetzung der Glaubensregel in die hellenisch fundamentierte, aus der Stoa und aus dem Platonismus abzuleitende Religionsphilosophie eines Clemens und Origenes. Den Kristallisationspunkt für diesen Prozeß bildet die von Tertullian, Hippolyt u. a. in die Glaubensregel eingeführte Lehre vom Logos (s. d.), mit welcher der Kern der kirchlichen Weltanschauung ins Dasein getreten ist.
Denn damit war die Anweisung gegeben, das Göttliche in Christus als die im Weltbau und in der Geschichte der Menschheit verwirklichte Vernunft Gottes zu denken; s. Christologie. Der Menschwerdung des Logos entspricht aber als ihr Erfolg schon bei Irenäos die Vergöttlichung des Menschen. Je länger, desto mehr rückt dieser Gedanke in den Mittelpunkt der Theologie der Kirchenväter (s. d.), und in gleichem Maß wird der einfach religiöse und sittliche Inhalt des Evangeliums durch einen dicken Überwurf von Metaphysik und Theosophie verdeckt.
Mysteriöse, aber reale Umbildung des Menschen in unvergängliches Wesen, abgebildet in den geheimnisvollen Naturvorgängen der Sakramente (s. d.) und bewerkstelligt durch ihren Genuß, sollte die Gabe Gottes in Christus sein. Dieser symbolischen Magie eines zum guten Teil den heidnischen Mysterien nachgebildeten Kultus entsprach ein Erlöser, welcher in seiner Person die menschliche Natur mit der göttlichen vereinigt, genauer jene vergottet hat. Dies führt auf Wesenseinheit des Sohns mit dem Vater, auf Doppelnatur Christi, kurz auf alle jene Formeln, welche seit dem Konzil von Nicäa dem eigentlich dogmenbildenden Zeitalter einleuchtend und annehmbar erschienen, um die höchste Anschauung vom Werte der christlichen Religion und der durch sie vermittelten Heilsgüter auszudrücken. S. Nicäisches, Nicäisch-Konstantinopolitanisches, Chalcedonisches Glaubensbekenntnis.
Einer irrtümlichen Geschichtsphilosophie entsprungen ist die oft gehörte Meinung, diese und ähnliche Formeln hätten unter den Bedingungen, welche bei der dogmatischen Entfaltung des christlichen Bewußtseins maßgebend und wirksam gewesen sind, gerade so ausfallen müssen, wie sie thatsächlich ausgefallen sind. In Wahrheit hätte sich die Andacht der Kirche aber z. B. mit dem gottähnlichen Christus des Arianismus ebensogut befriedigen können wie bei dem gottgleichen des Athanasius, und wie die Dinge zu Nicäa lagen, hat sogar alles zu der erstern Formel gedrängt.
Daß die letztere siegreich wurde, ist dem persönlichen Eingreifen des Konstantin wie später des Theodosius zu verdanken. Ebenso hatte im Nestorianisch-Eutychianischen Streit bereits der Monophysitismus den Sieg in den Händen, als er ihm nachträglich auf der vierten ökumenischen Synode durch das im Bund mit dem römischen Bischof erfolgende Einschreiten der Kaiserin Pulcheria wieder entwunden wurde. Gegenteils ist der monophysitische Rückschlag, welcher dann auf der fünften ökumenischen Synode eintrat, das persönliche Werk Justinians und Theodoras gewesen.
Der monotheletische Streit ist durch die Politik des Kaisers Heraklios hervorgerufen und in seinem Verlauf ganz durch die Kaiser Constans und Constantinus Pogonatus bestimmt worden. Den Bilderstreit haben erstmalig und endgültig die beiden Kaiserinnen Irene und Theodora abgeschlossen. Das Abendland ist dieser Entwickelung des Dogmas, wie es der zweiten Hälfte der Geschichte der alten Kirche ihr bezeichnendes Gepräge verleiht, nur einfach zustimmend gefolgt, und was es Selbständiges auf diesem Gebiet leistete, die Sünden- und Gnadenlehre des Augustinus, das hat im kirchlichen Leben und in der theologischen Praxis keineswegs zu einer so großen Entfernung von der griechischen Theologie geführt, als es gemäß dem
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harten Wortlaut der Augustinischen Sätze, die ja nur sehr bedingt und abgeschwächt zur Annahme gelangt sind, scheinen mochte.
Während so der unendliche Streit um die Glaubensbegriffe Kirche und Staat zugleich in beständiger fieberhafter Erregung erhielt, wurde das klassische Heidentum systematisch vernichtet, vielfach unter Anwendung derselben brutalen Mittel, welche in den vorkonstantinischen Zeiten gegenüber der jungen Pflanzung in Anwendung gekommen waren, welche den großen Bau des Weltreichs zu durchwuchern und zu zersprengen drohte. Statt dessen hat sie dieses Weltreich in den letzten Jahrhunderten seines Bestandes, wenigstens von außen, mit einem neuen Blätter- und Blütenschmuck umgeben; sie hat es mit ihrem Duft erfüllt, aber seinen Zerfall schließlich nicht aufzuhalten vermocht, eine Thatsache, die seit der Eroberung Roms durch Alarich schon den Kirchenvätern zu denken gab.
Außerdem war das Christentum so sehr identisch mit der römischen Staatsreligion, es war so sehr Reichsreligion geworden, daß es in dem mächtigsten Staat, welcher noch neben dem Imperium bestand, in Persien, wo es weit um sich gegriffen hatte, gerade aus nationalen und politischen Gründen unterdrückt und so seiner Ausdehnung im Osten schon vor den Zeiten des Islam ein Ziel gesetzt wurde. Dieser hat dann über die ganze Christenheit des Morgenlandes, soweit er sie nicht einfach vernichtete, ein Leichentuch gebreitet, unter welchem sie einen langen, vielleicht ewigen Winterschlaf angetreten hat. S. Griechische Kirche.
Die Schicksale des Christentums sollten sich im Abendland entscheiden. Alles hing davon ab, ob das Schiff der Kirche den Zusammenprall der alten römischen und der neuen germanischen Strömung der Weltgeschichte, wie solcher in der Völkerwanderung erfolgte, aushalten, oder ob es, wie das staatliche Fahrzeug, darin zerschellen würde. In der That vollzog sich der Übergang in das neue Fahrwasser aufs glücklichste. Ja, es schien, als ob die Kirche erst in den germanischen, bez. romanischen, in zweiter Linie auch in den slawischen Völkerschaften, die sich jetzt vor dem Kreuz beugten, den richtigen und entsprechenden Naturboden gefunden habe, auf welchem ihre Saaten ein unverkümmertes und dabei zugleich auch wieder verhältnismäßig originelles Gedeihen finden sollten. An die Stelle der Hellenisierung des Christentums trat jetzt seine Germanisierung.
Nicht bloß wuchsen aus dem altgemanischen Heidentum zahlreiche Anschauungen und Sitten hinüber in den christlichen Glaubens- und Kultuskreis (darunter namentlich mancherlei Teufels- und Hexenspuk), sondern auch germanische Rechtsbräuche erwiesen sich wirksam wie in der Dogmatik (z. B. Versöhnungslehre des Anselmus), so auch in der Ausbildung des Kirchenrechts (z. B. Ehewesen); auch was dem Christentum in Bezug auf Hebung und Wertung des weiblichen Geschlechts nachgerühmt wird, ist wenigstens teilweise zur germanischen Erbschaft zu schlagen.
Dritte Periode: bis auf Innocenz III.
Damit sind wir aus den Zeiten der alten in diejenigen des Mittelalters hinübergetreten. Was sich in jenen als ein fortschreitender Prozeß darstellt, das ist jetzt zur vollendeten, innerhalb des katholischen Rahmens nicht mehr rückgängig zu machenden Thatsache geworden: die gänzliche Entmündigung der Gemeinde zu gunsten der Priesterschaft. Diese allein stellt die Kirche im aktiven Sinn dar; die Laien sind bloß Objekt des priesterlichen Handelns. Nur Priester können der Lehre und Sakramente warten; alles Heil für die Welt ist daher an das Priestertum geknüpft und außer der Kirche überhaupt kein Heil.
Das ursprüngliche Wahlrecht der Gemeinden war schon vor Konstantin vielfach erschüttert; selbst nachher wurden jedoch noch Stimmen gehört, die von einem allgemeinen Priestertum aller Christen vor Gott wußten. Je länger, je mehr beschränkte sich jedoch die Laienthätigkeit in den obern Schichten auf Beteiligung an byzantinischen Hofkabalen und Palastrevolutionen, in den untern auf gelegentliches Tumultuieren und Losschlagen im Interesse irgend eines geistlichen Zugführers.
Aber es gab auch ernstere Geister in dieser Laienwelt, und die urchristliche Idee der Weltentsagung und Weltfeindschaft schuf sich, als ihr von seiten eines von den Lasten des Staates befreiten, in Glanz und Machtfülle gekleideten Klerus immer weniger entsprochen wurde, bald eine neue Form christlicher Lebensführung im Kloster (s. d.). Von Haus aus galten die Mönche durchaus als Laien; sie vertraten jene der Welt abgewandte Seite des Christentums, jene urchristliche »Vollkommenheit«, welche nicht bloß das in seiner Masse stets unvollkommene Kirchenvolk, sondern auch der in die Geschäfte dieser Welt immer tiefer verwickelte Klerus nicht mehr darstellen und verwirklichen konnte.
Bald aber empfingen die Klosteräbte die Priesterweihe und fingen die Klöster an, Pflanzschulen des Klerus zu werden, wie das wenigstens in Bezug auf die höhere Geistlichkeit in der griechischen Kirche bis auf den heutigen Tag so geblieben ist. Thatsächlich hat der Klerus die anfänglich bedenklich erscheinende Konkurrenz des Mönchtums rasch, wenn auch nie vollständig besiegt. In den dogmatischen Kämpfen der Reichskirche sehen wir stets ganze Heere von Mönchen für das Ansehen dieses oder jenes Patriarchen ins Feld rücken, und z. B. auf der Räubersynode haben ihre Knüttel und Fäuste einen blutigen Sieg erfochten.
Die Kehrseite zu einer solchen akuten Bethätigung des Mönchtums bildete im Orient die chronische Beschäftigung der Kontemplation, der klösterliche Quietismus, welcher sich bemühte, sich auf dem Weg ekstatischer Halluzinationen in wenigstens momentanen Vorgenuß eines rein jenseitigen Heils zu versetzen. Das edlere, kulturfreundliche Mönchtum dagegen, welchem insonderheit Britannien und Deutschland ihre Christianisierung, ganze Schichten der Bevölkerung Belehrung und Unterweisung, Werke des klassischen Altertums Erhaltung, Wüsteneien Urbarmachung verdanken, ist eine Schöpfung des Abendlandes.
Ganz besonders in den Anfangszeiten des Mittelalters erwiesen sich die Benediktiner (s. d.) als die praktisch wirksamsten Vertreter des christlichen Gedankens in den Formen, wie die Zeit ihn zu verstehen vermochte. Überall bilden damals die Klöster die Mittelpunkte des kirchlichen Lebens, die Ausgangspunkte der Mission (s. d.), die Pflegestätten der Wissenschaft, die Herde auch aller weltlichen Kultur, bevor auf diesem letztern Gebiet einzelne gewaltige Herrscher, wie Karl und Alfred, mit selbständigem Programm vorangingen.
Aber auch in solchem Fall war nachhaltige Wirksamkeit nur im engen Verein mit der Kirche möglich, deren Würdenträger im Rate der Großen saßen, deren Diener die ausübenden Organe lieferten auch für die Kulturmission des Staats, soweit eine solche zu den bewußt ergriffenen Aufgaben der Zeit gehörte. In dieser ersten Hälfte des Mittelalters bietet die abendländische Kirche überhaupt vielleicht den befriedigendsten Anblick dar, welchen sie im ganzen Verlauf ihrer Existenz erreicht hat. Ihre Aufgabe und Stellung in der Welt war ihr ein für allemal gestellt und
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in Augustins Büchern »vom Staate Gottes« zum klassischen Ausdruck gekommen: als dem bereits gegenwärtigen Reiche Gottes, der Verwirklichung der obersten sittlichen Idee, dem höchsten Gut haben ihr sich alle andern Lebenssphären einfach unterzuordnen, und namentlich kann auch der Staat nur durch solche Unterordnung unter ein höheres Ziel Absolution für seine sündigen Ursprünge und niedrig menschlichen Zwecke finden. So kam die Kirche dazu, die Bewähr für ihre göttliche Mission bald genug im Sieg über den Staat zu suchen.
Zwar in den Jahrhunderten nach Karl d. Gr. erscheint auch sie vielfach in den allgemeinen Verfall hineingezogen, durch welchen die karolingischen Kulturansätze so rasch wieder verschüttet und begraben worden sind. Das dunkle Jahrhundert ist auch für die ein solches gewesen. Der Papst (s. d.), dessen Machtstellung bald den hervorragendsten Gradmesser für die Tiefe und Kraft der von der auf das Völkerleben ausgehenden Wirkungen darstellen sollte, erscheint zu Anfang dieses Zeitraums noch als Lehnsmann des Kaisers und wird auch im weitern Verlauf mehr als einmal nach dessen Willen gewählt, ja geradezu von ihm ein- oder auch abgesetzt. Zugleich sah sich der Nachfolger St. Peters in alle die Parteihändel und blutigen Raufereien hineingerissen, welche damals die Geschicke Italiens entschieden, und das halbe Jahrhundert der Pornokratie steht in der Geschichte da wie eine bittere Satire auf alle Heiligkeits- und Unfehlbarkeitsansprüche, welche der römische Stuhl, ja die christliche Kirche überhaupt erheben mochte.
Aber die Not der Zeit, welche das Übel geschaffen hatte, brachte auch die Heilung; sie stärkte den Einheitsdrang der Kirche, und bald war diese Glaubens- und Verfassungseinheit dasjenige Ideal der Völker des christlichen Abendlandes, welches der Verwirklichung am nächsten gebracht schien. Aber doch nicht das einzige unter den realisierten Idealen. Ein andres war ihm sogar zuvorgekommen; es war wieder das Mönchtum, aus dessen Schoß erst jenes stahlharte Papsttum hervorgegangen ist, welchem in der zweiten Hälfte des 11. Jahrh. der Sieg beschieden war.
Das karolingische Zeitalter kennt die Klöster zumeist als Lehen und Erben weltlicher Herren; die hohe Geburt und Stellung vieler Äbte, die Gelehrsamkeit, die in nicht wenigen Klöstern ihren Sitz aufgeschlagen hatte, die Reichtümer, die sich hier ansammelten, boten keine Entschädigung für die zunehmende Einbuße an innerm Gehalt. Aber jener Geist der Weltverachtung und Entsagung, daraus das klösterliche Leben ursprünglich hervorgegangen war, entsprach so manchen Neigungen auch der germanischen und romanischen Völker, welche sich jetzt an der Spitze der Christenheit bewegten.
Nimmermehr vermochte ein herabgekommenes, verwildertes Mönchtum auf die Dauer seinen Kredit zu behaupten. Daher eine lange Reihe von mehr oder weniger erfolgreichen Versuchen, dem Kloster seine Stellung und Bedeutung durch Erneuerung und Schärfung der Regel des heil. Benedikt zu sichern, endlich die energische Konzentration innerhalb des Ordens selbst durch die Kongregation von Cluny, daraus jener Hildebrand hervorgegangen ist, in dessen Persönlichkeit und Schöpfungen das mönchische Ideal der Weltverleugnung mit dem kirchlichen Ideal der Weltbeherrschung sich verbinden sollte. So hat von Cluny aus das Mönchtum sich des kirchlichen Regiments bemächtigt; es hat zuerst die Weltkirche dem eignen Vollkommenheitsideal angenähert, um sich dann selbst in der Gestalt der Bettelorden diesem erneuerten Papsttum unter Innocenz III. als wirksamstes Organ der Mission, Volksbelehrung und Ketzerbekämpfung zur Verfügung zu stellen.
Diese unter dem monarchischen Haupt zusammengefaßte Kirche war jetzt fragelos die erste Macht der Zeit. Sie allein spendete den Völkern des Abendlandes jahrhundertelang sämtliche geistige Nahrung und sittliche Bereicherung. Während auf staatlichem und bürgerlichem Gebiet die Christenheit sich möglichst differenzierte und nicht bloß jede Nation, sondern auch jeder Stand, jede Stadt, jede Genossenschaft danach strebte, möglichst für sich da zu sein, hielt die allenthalben in wesentlich gleichen Kultusformen zur Erscheinung kommende Kirche kraft derselben immer strenger hierarchisch zugespitzten Verfassung die auseinander strebenden Massen zusammen. In alle Verhältnisse des mittelalterlichen Staats ragte sie hinein, in alle Völkerkämpfe und Bürgerkriege mischte sie sich, oft genug nur, um ihr eignes Interesse zu wahren, aber nur selten, ohne in diesen zerrissenen Menschenhaufen die Ahnung erweckt und aufgefrischt zu haben, daß sie alle im Grund eine christliche Völkerfamilie zu bilden und gewisse Heiligtümer hoch zu halten und zu wahren haben, welche der damaligen Menschheit ohne die einseitig religiöse Fassung, darein die Kirche sie gebracht hatte, nur allzu leicht verloren gegangen wären.
Vierte Periode: bis zur Reformation.
In der zweiten Hälfte des Mittelalters, von den Zeiten der kulminierenden Papstmacht an, treten Licht und Schatten sich schon viel schärfer entgegen. Der Glanz des abendländischen Priesterstaats wirkt blendender, zumal seit dem Sieg über die Hohenstaufen; aber auch die Opposition nimmt weitere Dimensionen an, zeigt ein immer ernsteres und entschlosseneres Gesicht. Im Beginn der Periode tritt uns die auf dem großen Laterankonzil von 1215 unter dem Präsidium des Papstes Innocenz III. (1198-1216) auf der höchsten Staffel der Machtvollkommenheit entgegen, die sie je erstiegen hat.
Die von den Päpsten ins Leben gerufenen Kreuzzüge hatten das Ansehen des Statthalters Christi an ihrem Teil gesteigert und teilweise selbst im Orient befestigt. War auch Jerusalem wieder verloren gegangen, so war dafür in Konstantinopel das lateinische Kaisertum aufgerichtet, und der byzantinische Patriarch ward in Rom ernannt. Die gleichfalls von hier aus geleiteten Könige Europas verglich Innocenz mit dem Monde, der sein Licht von der Sonne, die in Rom strahlt, zu Lehen trägt.
Der Kirche und ihrer Herrlichkeit dienten die Waffen der Völker; sogar das Rittertum nahm religiöse Farbe und Weihe an in den geistlichen Ritterorden. Der Kirche diente aber auch die Wissenschaft in der Scholastik. Hat die letztere sich auch nicht mehr produktiv auf dem Gebiet der Glaubenslehre erwiesen (es sei denn im Artikel von den Sakramenten, der erst im Verlauf des Mittelalters allseitige Durchbildung empfing), so bestand doch der höchste Triumph dieser spezifisch mittelalterlichen Schulgelehrsamkeit wie in einer vollendeten Technik des Denkens, so weiterhin in der Dienstbarmachung und Ausbeutung dieser formalen Fertigkeit im Interesse der Kirchenlehre. Als Albert d. Gr. und Thomas von Aquino (1224-74) den großen Denker des Altertums, Aristoteles, der für das spätere Mittelalter die Summe alles erreichbaren menschlichen Wissens repräsentierte, glücklich vor den Triumphwagen der Kirche gespannt hatten, schien in der Geschichte des menschlichen Forschens, Wissens und Könnens ein Höchstes und Letztes erreicht, und es blieb nur der Wunsch übrig, die Sonne der
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katholischen Herrlichkeit möge dauernd im Zenith verharren.
Bereits aber konnte man die Eitelkeit eines solchen Begehrens ahnen. Dasselbe Konzil von 1215, welches einen allgemeinen Gottesfrieden heiligte, um die Kräfte der Christenheit ganz wider den Islam zu sammeln, mußte doch schon einen guten Teil dieser Kräfte hergeben, um in nächster Nähe Italiens die Waldenser und Albigenser zu bekämpfen. Mit Entsetzen erregender Wut und Grausamkeit wurde diese erste allgemeinere, von einem großen und gebildeten Volksstamm getragene Opposition niedergetreten. Um sie auf die Dauer niederzuhalten, haben Päpste und Konzile sofort die Inquisition ins Leben gerufen mit der furchtbaren und unentrinnbaren Härte ihres Gerichtsverfahrens, mit ihren dunkeln, engen Mauerzellen, darin die einen lebendig begraben, mit ihren Holzstößen, darauf die andern lebendig verbrannt wurden.
Immer furchtbarer traten seit jenen Tagen die menschenfeindlichen, dämonischen Züge im Angesicht derselben Kirche hervor, in welcher die christlichen Völker ihre gemeinsame geistige Mutter zu verehren gewohnt und verpflichtet waren. Es ist keineswegs eine leere Phrase der Aufklärung gewesen, wenn der christlichen Kirche nachgesagt wurde, daß sie es zeitweilig vermocht habe, in der Menschenbrust eine jeglicher Menschlichkeit Hohn sprechende Glaubenswut, einen Fanatismus und Mordgeist zu entzünden, welcher jeder Vergleichung mit dem, was andre Kulturreligionen hierin geleistet haben, spottet.
Was der alte Römerstaat in den drei ersten Jahrhunderten an der Christenheit gesündigt hat, das kommt kaum noch in Betracht gegenüber dem, was beispielsweise unter Innocenz III. und seinen Nachfolgern in Südfrankreich oder was unter Karl V. und Philipp II. in den Niederlanden geschah. Dieser zunehmende Blutgeruch war es nicht zum wenigsten, was edlere Geister der Kirche entfremdete, vorher noch der bei gesteigertem äußern Glanz immer greller in die Augen stechende Kontrast zwischen der Hoffart und Machtstellung des Klerus und dem nie ganz erloschenen Gedächtnis an den ursprünglichen Sinn der Stiftung Jesu.
Das »arme Leben Jesu«, die »Nachfolge Jesu«, das waren untötbare Vorstellungen und Forderungen, welche den nachhaltigsten Impuls lieferten zum Verdruß über diese Völker und Fürsten bald mit List, bald mit Gewalt bändigende, alles im Himmel wie auf Erden dem eignen Vorteil opfernde Hierarchie. Schon jetzt hätten die Kaiser und Könige in ihrem Kampf gegen die Übergriffe des Papsttums viel ausrichten können, wenn sie die gärende Empörung in den Volksgeistern entfesselt oder wenigstens hätten gewähren lassen.
Aber ihnen waren diese Mächte, in deren Auftreten eine neue Zeit von fern sich ankündigte, fast noch unheimlicher als den Päpsten selbst. Die Besten machen davon keine Ausnahme. Friedrich I. Barbarossa inaugurierte seine Kirchenpolitik damit, daß er den gefährlichsten und geistesmächtigsten Feind, welchen das Papsttum während des ganzen Mittelalters in Italien zu bekämpfen hatte, dem Blutgericht des Papstes auslieferte: Arnold von Brescias (1155) Schicksal war typisch.
Mitten in seinem Krieg mit Gregor IX. (1227-41) gab Friedrich II. das furchtbare Gesetz »über die Verbrennung der Ketzer«, in dessen Folge die Scheiterhaufen noch in der Reformationszeit rauchten. Bei einem so widerspruchsvollen Vorgehen verstand sich eigentlich die Niederlage der Staatsmacht von selbst; hinwiederum ist auch der Kurie ihr Sieg tödlich geworden. Wie die unbeschränkte Macht in Menschenhänden einst den Cäsarenwahnsinn erzeugt hatte, so ließ sie jetzt die Päpste vielfach jene Rücksichten vergessen, welche auch die auf schwindelnder Höhe stehenden Sterblichen, vor allem aber diejenigen, welche ihre Stellung religiösen Motiven verdanken, den sittlichen Mächten schulden.
Hatte früher die in nicht seltenen Fällen ihren Schild über das vergewaltigte Recht gehalten, war sie ein Hort der Schutzlosen und Geringen gegen den rohen Despotismus der Machthaber gewesen, hatte sie im Namen des göttlichen und menschlichen Rechts die Großen dieser Erde vor ihren Richterstuhl citiert, so lag die Sache schon im 13. und 14. Jahrh. vielfach umgekehrt. Kaiser und Könige fanden gegenüber den Anmaßungen des römischen Stuhls ihren wirksamsten, nur leider in wenigen Fällen ganz ausgenutzten Beistand in dem bürgerlichen Selbstgefühl, in dem Sinn für nationale Ehre und Selbständigkeit, in dem unbestochenen Rechtsbewußtsein ihrer Unterthanen.
Seitdem vollends zuerst das Papsttum in Avignon zum Werkzeug der französischen Politik herabgesunken war, dann während des Schismas das ganze Heilsbedürfnis und Seligkeitsinteresse der Christenheit nur deshalb dazusein schien, um unter den raffiniertesten Vorwänden und erlogensten Aushängeschildern zweien Gegenpäpsten die Kassen zu füllen und die Mittel zu liefern, sich gegenseitig zu bekriegen, seitdem Reservationen, Präventionen, Devolutionen, Kommenden, Annalen und anderweitige Rechtstitel erfunden waren, um die Vergebung von Kirchenämtern zu einer unerschöpflichen Quelle von Reichtümern für den Stuhl Petri werden zu lassen, war der Glaube der Völker an diesen heiligen Stuhl nicht bloß, sondern auch an die vielen heiligen Stühle, welche von dort aus an zahlungsfähige Bewerber vergabt wurden, erschüttert.
Mächtiger erhob sich von Jahr zu Jahr der Ruf nach Reformation der an Haupt und Gliedern. Das Papsttum selbst mußte das aufgedrungene Programm vollziehen helfen, und so kam es zu den großen Reformkonzilen von Pisa, Konstanz, Basel, um deren Frucht freilich die Völker hinterher durch die schlaue Diplomatie der Kurie, zumal des vom Episkopalismus zum Kurialismus übergelaufenen Äneas Sylvias, schmählich betrogen worden sind. Zwar ging es nicht überall so rasch wie in Deutschland, wo Kaiser Friedrich III. den Rückzug eröffnete, aber schließlich haben die reformierenden Konzile des 15. Jahrh. für alle christlichen Nationen ihre Bedeutung eingebüßt neben dem restaurierenden Konzil des 16. Jahrh., dem Trienter, dessen Beschlüsse trotz des oft längere Zeit fortgesetzten Widerstrebens einzelner Staaten zuletzt für die gesamte katholische Christenheit maßgebend geworden sind.
Fünfte Periode: bis zum Westfälischen Frieden.
Damit sind wir in die Epoche der Reformation (s. d.) übergetreten. Die Vorbedingungen zu der großen Wendung der Dinge, in deren Folge die abendländische Christenheit bis auf den heutigen Tag in zwei feindliche Heerlager geteilt erscheint, lagen nicht bloß auf dem negativen Gebiet der bittern Enttäuschung ob des Scheiterns der mit so großer Kraft und Zuversicht unternommenen Reformbestrebungen, der flammenden Empörung ob der ungescheut und offen zu Tage tretenden Entwürdigung aller Heiligtümer, die zuletzt in der Verkäuflichkeit der Gnaden gipfelte, des unabwendbaren Bankrotts der Scholastik, welche sich längst schon, statt an der Beweisbarkeit der Glaubenswahrheiten, an deren schlechthinniger Unbeweisbarkeit ergötzte, um daraus den rein supernaturalen und unbegreiflichen
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Charakter des kirchlichen Wissensschatzes herzuleiten und mit Aufstellung der Lehre von einer doppelten Wahrheit, einer philosophischen und einer theologischen, zu enden. Zu den unverjährbaren Rechten des menschlichen Denkens, welchem die scholastische Scheinwissenschaft zur Last und zum Ekel geworden war, kam das aus dem Grab jahrtausendelanger Vergessenheit wieder erwachende Altertum, der klassische Studiendrang, die Kunstblüte der Renaissance, eine geistige Bildung, die unabhängig von der Kirche dastand und bei ihrem ersten Auftreten sich dessen auch mit jugendlichem Übermut bewußt war und rühmte.
Aber auch die Völker traten jetzt aus der gleichmäßigen Weise des Denkens und Strebens, zu welcher die mittelalterliche Kirche sie erzogen hatte, wieder hervor, grenzten sich gegeneinander ab und erzeugten nationale Sondergüter. Insonderheit war Deutschland in den Tagen des ersten Auftretens Luthers in einer mächtigen nationalen Bewegung begriffen, die, von den besten Geistern geleitet u. befürwortet, von einem gewaltigen Zug im Herzen des ganzen Volkes getragen, fähig gewesen wäre, die deutsche Frage zu lösen, wenn im entscheidenden Augenblick nicht in Kaiser Karl V. ein Mann ohne jegliches Verständnis für nationale und religiöse Freiheit an die Spitze des Reichs getreten wäre.
Er, dem Deutschland nur eine Domäne war, und dem das Ziel der Weltgeschichte in der Errichtung einer allmächtigen habsburgischen Hausmacht zu liegen schien, ist hauptsächlich verantwortlich zu machen für das Unglück Deutschlands, welchem dieselben glorreichen Tage der Erhebung, daraus die Reiche des Nordens ein politisch wie religiös geeintes Staats- und Volkswesen als bleibenden Gewinn davontrugen, nichts eingebracht haben als fortgesetzte Zerstückelung, heillose Zerklüftung und das ganze Elend, welches sich an das Gedächtnis des Dreißigjährigen Kriegs und seiner Folgen knüpft.
Wie wenig die Reformation eine Schöpfung einzelner neuerungssüchtiger oder eitler Geister gewesen ist, wie sehr sie einer unaufhaltsamen Geburt aus dem Schoß einer erfüllten Zeit glich, sieht man schon daran, daß sie gleichzeitig von zwei verschiedenen Ausgangspunkten aus unternommen, von zwei Männern ins Leben gerufen worden ist, die sich gegenseitig nicht kannten und verstanden. S. Lutherische Kirche, Reformierte Kirche. In Deutschland war es noch einmal das Mönchtum, welches seiner niemals ganz verleugneten oppositionellen und antiklerikalen Tendenz sich bewußt wurde.
In der Klosterzelle zu Erfurt ist der reformatorische Gedanke geboren worden; er faßte sich zunächst in denjenigen Bestandteilen der Lehre teils des Apostels Paulus, teils des heiligen Augustinus zusammen, welche nur pro forma und gleichsam honoris causa von der kirchlichen Überlieferung mitgeführt, ihrem Geist und Wesen, nicht selten sogar auch ihrem Buchstaben nach verleugnet und unwirksam gemacht worden waren. Gleichwohl ist der Sinn, in welchem Luther (1483-1546) diese Sätze (von der Alleinwirksamkeit Gottes, von dem allgenugsamen Heilswert des Leidens Christi, von der Rechtfertigung aus Gnaden durch den Glauben allein etc.) geltend machte, ein durchaus neuer, weltbewegender. Er bedeutete die in der Gewißheit der göttlichen Gnade gegebene religiöse Selbständigkeit und sittliche Selbstverantwortlichkeit des Individuums, die Beseitigung der klerikalen Bevormundung und des Garantiensystems der Kirche, die Anerkennung des Staats, der Wissenschaft, der Ehe, überhaupt des weltlichen Berufs als göttlicher Ordnungen, die Beseitigung des religiösen Wertes alles sittlich leeren Thuns, des Klosterlebens, der Wallfahrten etc. An die Stelle des doppelten Lebensideals, dafür die Existenz des Mönchtums Zeugnis ablegt, tritt ein einheitliches, welches im Rahmen des geordneten Lebensberufs durch Gottvertrauen und Menschenliebe verwirklicht werden soll.
Sofern damit eine gewisse Verweltlichung des Christentums im besten Sinn des Wortes gegeben, die einseitig religiöse Beurteilung und Erfassung der Lebensaufgabe zu gunsten des sittlichen Moments aufgehoben und der Mensch zwar ganz direkt nur auf Gott verwiesen, aber ebendamit zugleich auch wieder auf seine eignen Füße gestellt erschien, kam dieser neuen Theologie ein verwandter Zug im Humanismus entgegen. Vorwiegend humanistisch gebildet waren die andern Reformatoren, Zwingli voran, Melanchthon am gründlichsten, zugleich juristisch auch Calvin.
Hatte die Reformation daher auch von Haus aus nichts gemein mit aufklärerischen Tendenzen, wie es an solchen selbst im Mittelalter nie ganz gefehlt hatte, so erschien sie doch im Bund mit allen neuaufstrebenden geistigen Mächten, und insofern langt der Protestantismus (s. d.) selbst weit hinaus über die zunächst nur der Zurechtstellung und Sicherung religiöser Erfahrungen geltenden Reformation. Luther selbst war sich der Tragweite der von ihm hervorgerufenen Bewegung der Geister von Haus aus gar nicht und wohl niemals vollständig bewußt. Er glaubte ein treuer Sohn der Kirche zu sein, als er ihre Mißbräuche angriff, und bei wenig mehr Verständnis für das innere Recht seiner Sache, bei wenig mehr Achtung für das auf Luther hörende deutsche Volk, bei wenig mehr Geschmeidigkeit und Loyalität in der praktischen Behandlung der Sache wäre es der Kurie ein Leichtes gewesen, wenigstens die sächsische Reformation in Bahnen zu erhalten, welche eine schließliche Wiedervereinigung so gut hätten erhoffen lassen, als solches zuvor gegenüber der hussitischen Reformation in Böhmen möglich gewesen war.
Selbst noch zu Lebzeiten des später immer unversöhnlicher werdenden Reformators war man sich auf dem Religionsgespräch zu Regensburg ganz nahe gekommen. Aber jetzt erfolgte in Rom selbst der plötzliche Umschwung. An die Stelle der humanistisch angehauchten, ihre Stellung im europäischen Staatensystem lediglich nach den politischen Interessen des Kirchenstaats nehmenden Päpste traten andre, welche ihre Aufgabe wieder im rein kirchlichen Sinn verstanden.
Der abgefallene Teil der Christenheit sollte mit Gewalt zur Mutterkirche zurückgeführt, der treu gebliebene durch unübersteigliche Schranken von der protestantisch gewordenen Hälfte geschieden werden. In diesem Sinn sind die Beschlüsse des Konzils von Trient (1545-63) ausgefallen; in diesem Sinn haben sich neue Orden, die Jesuiten voran, den tridentinischen Katholizismus zur Verfügung gestellt; in diesem Sinn ist allenthalben in Europa die Gegenreformation (s. d.) eingeleitet worden.
Daß letztere so überraschend gute Geschäfte machte und namentlich halb Deutschland wieder zur Rückkehr in die alten Verhältnisse brachte, daran war außer der unglaublichen Rührigkeit und Rücksichtslosigkeit, welche die nunmehr alle ihre Aufgaben nur noch im Gegensatz zum Protestantismus erfassende an den Tag legte, die Unfähigkeit des Gegners schuld, mit welchem diese Kirche es zu thun hatte. Einer kraftvollen und entschlossenen Zusammenfassung aller protestantischen Mächte in seinem Herrschaftsgebiet wäre schon Karl V. bei der großen Zersplitterung seiner Interessen und Kräfte nicht gewachsen gewesen. Daß es
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dazu nicht gekommen ist u. nicht kommen konnte, dafür sorgte Luther: als er um seines »Est« willen in Marburg die dargereichte Bruderhand Zwinglis zurückstieß, als er alle politischen Pläne des Landgrafen von Hessen mit seiner Theorie von der Christenpflicht des leidenden Gehorsams durchkreuzte, als er nach allen Richtungen jene unheilvolle sächsische Politik einleitete, die selbst noch im Dreißigjährigen Krieg ihre Freundschaft sogar einem mit Feuer und Schwert wütenden Fanatiker auf dem Kaiserthron fast aufgedrungen hat.
Dafür sorgten ferner die lutherischen Theologen, als sie, während die reformierten Christen in Italien, Frankreich und England Verfolgungen erlitten und eine glorreiche Heldenzeit feierten, diese selben Bekenner und Blutzeugen verketzerten, die Flüchtlinge verjagten, alle an Calvin sich annähernden Richtungen und Bestrebungen innerhalb der sächsischen Kirche mit barbarischer Roheit niedertraten, alle Gläubigen, die sich nicht an das 1000 Jahre zuvor entstandene dogmatische System des Byzantinismus gebunden erachteten, der bürgerlichen Obrigkeit zur Ausrottung mit Feuer und Schwert empfahlen.
Die ganze Betriebsamkeit dieser Theologie ging während der zweiten Hälfte der Reformationszeit und auch durch das ganze 17. Jahrh. auf in widerwärtigen und unfruchtbaren dogmatischen Kämpfen, in innern und äußern Kriegen um die Herrlichkeit der »reinen Lehre«, wobei sich nicht selten zeigte, wie noch im Beginn des Dreißigjährigen Kriegs der Hofprediger des Kurfürsten von Sachsen bezeugte, daß die Kirche des lautern Wortes sich viel eher mit den Katholiken vertragen könne als mit den »Calvinisten, welche auf 99 Punkten mit den Arianern und Türken übereinstimmten«. Es gibt viele dürre Partien der Kirchengeschichte, aber wenige, wo das Treiben der offiziellen Vertreter des Christentums kläglicher, ja verächtlicher erschiene.
Man würde es insofern ein verdientes Schicksal nennen können, wenn der deutsche Protestantismus im Dreißigjährigen Krieg, in den er sich ebenso kopflos hineintreiben ließ, wie er ihn dann planlos und stets mit zersplitterten Kräften geführt hat, unterlegen wäre. In der That hat er seine Rettung auch allein dem Eingreifen der Kronen Schwedens und Frankreichs zu verdanken gehabt. Der Westfälische Friede (1648), welcher als die letzte unter den großen Epochen der Kirchengeschichte gilt, brachte dem Deutschen Reich eine zweifache Staatsreligion nach dem Grundsatz voller gegenseitiger Rechtsgleichheit, wobei die Reformierten den Katholiken gegenüber als Protestanten angesehen wurden.
Aber nur notgedrungen, weil die Völker in Verzweiflung nach Frieden schrieen und alle Kriegsmittel erschöpft waren, erkannten beide Kirchen ihren Besitzstand gegenseitig an. Im Lauf des Kriegs selbst waren allerdings fast nur noch politische Gesichtspunkte an die Stelle der ursprünglich wirksamen religiösen getreten, und die großen Kriege, welche seit 1648 Europa erschüttert haben, finden ihre Erklärung im Widerstreit nicht mehr der konfessionellen, sondern der staatlichen, gesellschaftlichen, wirtschaftlichen Interessen.
Aber im Bewußtsein des Volkes sind doch die schlesischen Kriege Friedrichs d. Gr. und der deutsche Krieg von 1866 vorwiegend unter dem Gesichtspunkt des katholisch-protestantischen Antagonismus aufgefaßt worden. Der Papst hat seinen Protest gegen den Westfälischen Frieden im Protest gegen den Wiener Frieden fortgesetzt, und die Rede, daß der Dreißigjährige Krieg nur unterbrochen, nicht beendet sei, taucht im neuen Deutschen Reich mit größerer Keckheit auf, als sie jemals im alten vernommen worden war.
Sechste Periode: bis zur Gegenwart.
Die das 17. Jahrh. füllende Periode der Orthodoxie läßt die treibenden Gedanken der Reformation, ihre Welt- und Lebensauffassung nur noch in äußerst verkümmerter Gestalt erkennen. Es war die Folge der aufgenötigten Streitlage wider die römische Kirche einerseits, wider den Anabaptismus und die radikale Reformation anderseits, es war aber nicht minder auch die Folge selbstgeschaffener Wirrsale und endloser, selbstmörderischer Lehrstreitigkeiten im Innern, wenn wenigstens die lutherische Kirche Deutschlands nur als Staats- und Landeskirche, richtiger als eine staatlich eingeführte und aufrecht erhaltene, die Laienwelt beherrschende theologische Schule Bestand gewonnen hatte. Nur in der andächtigen Litteratur, zumal im Kirchenlied, offenbarte sich noch etwas von der Ursprünglichkeit evangelischer Religiosität. Im übrigen schien sich die Kraft der reformatorischen Bewegung im Dogmatismus erschöpft zu haben; Erstarrung und Veräußerlichung bedrohten die neue Kirchenbildung, welche dem Feind Widerstand geleistet hatte, mit Verödung in sich selbst.
Nunmehr sind es zwei aufeinander folgende, sich gegenseitig aufhebende Schwingungen, welche auf der Linie der kirchlichen Entwickelung von der Mitte des 17. bis zum Ausgang des 19. Jahrh. unterschieden werden können. Zunächst eine solche, welche die konfessionelle Spannung ermäßigt, teilweise aufhebt in der Richtung auf Wahrung der gemeinsamen Kulturgüter, dann eine solche, welche unter mehr oder weniger grundsätzlicher Mißachtung der letztern auf Wiederherstellung des kirchlichen Bewußtseins bis in seine extremsten, unverträglichsten Spitzen hinaus losarbeitet.
Die erstere Strömung erzeugte sich zuerst in England aus dem Widerwillen an den religiös motivierten Exzessen der Revolution und Reaktion; sie trug sich über nach Frankreich, wo im schroffen Kontrast zu der erbarmungslosen Protestantenverfolgung Ludwigs XIV. und Ludwigs XV. die bis zum Atheismus und Materialismus fortschreitende Aufklärung der Encyklopädisten zu einer Großmacht heranwächst, die sich in der Revolution zeitweilig als nicht bloß im Grundsatz kirchenfeindlich, sondern auch thatsächlich kirchenzerstörend bewähren sollte. In Deutschland brachte der Rückschlag auf die Glaubenswut, der man den mörderischen Krieg verdankt hatte, zuerst die mildere Form des Pietismus (s. d.), nachher die Popularphilosophie und den Rationalismus (s. d.). Auf Einschläferung der konfessionellen Gegensätze wies aber auch die Thatsache hin, daß infolge schon der schlesischen, mehr noch der französischen Kriege, besonders seit 1803 Territorien geschaffen wurden, welche Katholiken und Protestanten in großer Zahl umfaßten, so daß an die Stelle des althergebrachten Staatskirchensystems mehr und mehr die Forderungen traten, welche sich aus dem Wesen eines paritätisch gewordenen Staats ergaben.
Zur vollen und reinlichen Durchführung ist dieses moderne System schon deshalb nicht gekommen, weil der Kampf gegen das je länger, desto unverhohlener wieder mit allen mittelalterlichen Ansprüchen auftretende Rom in beständigen Schwankungen verlief. Gewöhnlich mit viel Ungeschick und selten mit Glück geführt, hat dieser Kampf die besten Kräfte verzehrt, ohne daß Aussichten auf einen andern Frieden vorhanden wären als einen solchen, der mit gründlicher Unschädlichmachung der einen oder andern Partei verbunden wäre.
Aber nur als großes Kulturprinzip betrachtet, steht der Protestantismus in unbedingtem
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Gegensatz zu dem je länger, desto ausschließlicher römisch gewordenen, von dem Geiste des Jesuitismus und vielfach auch von seinen Händen geleiteten Katholizismus, bez. Ultramontanismus. In theologischer Beziehung dagegen hat sich protestantischerseits wenigstens in der offiziellen Kirchlichkeit als Gegenschlag auf Aufklärung und Rationalismus, Revolution und Radikalismus zunächst unter den Auspizien der romantischen Geistesströmung und der auf die Napoleonische Ära folgenden Restaurationspolitik eine so weit gehende Rückbewegung vollzogen, daß die Lebensbedingungen beider Richtungen, der ultramontan-katholischen und der orthodox-protestantischen, vielfach dieselben geworden sind.
Die nämliche Staatsräson begünstigte beide zugleich; dieselben einflußreichen Persönlichkeiten halfen beiden immer wieder auf, so oft auch Geschichte und Naturwissenschaften das Todesurteil über sie gesprochen haben mochten; dieselbe Trägheit und Stumpfheit der großen Massen ist es, worauf beide ihr Machtgefühl, ihre Siegesgewißheit, ihre Verachtung aller der mannigfachen Mächte gründen, die ihnen im geschulten und gebildeten Bewußtsein der Zeit unversöhnlich gegenüberstehen.
Aber unter letztern Mächten ist eine, welche schon jetzt der Kirche den Rang im Herzen der Völker streitig macht und ihr vielleicht auch auf die Dauer gewachsen bleiben dürfte: es ist der Drang nach nationaler Selbständigkeit, wie er seit der Losreißung Nordamerikas, seit der französischen Revolution, seit der italienischen und deutschen Staatenbildung zum Mittelpunkt aller Weltereignisse, zur Signatur der neuern Zeit geworden ist. Als eine der mächtigsten Wirkungen dieses Zuges der Zeit berührt die Auflösung des Kirchenstaats (1870) unsre unmittelbare Gegenwart. Aber auch der französische Klerus wird auf die Dauer seines Gallikanismus (s. d.) nicht vergessen bleiben können, und in Deutschland wird sich trotz alles guten Willens, sie zurückzudrängen, immer wieder aufs neue die Frage stellen, wer Herr ist - Kaiser oder Papst.
Eine Gefahr von ganz andrer Art wieder hat die in jener unsichtbaren Macht vor sich, welche die verselbständigte, dem religiösen Gängelband angeblich oder wirklich entwachsene Sittlichkeit der modernen Menschheit, das mehr künstlerisch und wissenschaftlich als religiös gesättigte Kulturleben der Gegenwart, die alle Dogmatik im Grundsatz verwerfende neuere Philosophie und moderne Weltanschauung, der historische Sinn unsrer Zeit, der das Christentum im Zusammenhang mit der allgemeinen Geistesentwickelung des Geschlechts und nach Analogie andrer Weltreligionen zu verstehen sucht, konstituieren.
Thatsächlich wird die von Strauß aufgeworfene Frage: »Sind wir noch Christen?« von vielen Tausenden, welche sich äußerlich zur Kirche halten, mit nein beantwortet, und ebenso sind ihrer Tausende, welche die Frage zwar aufrichtig bejahen, aber doch der Meinung sind, das Christentum werde die Kirche überleben, die Kirche des 18. und 19. Jahrh. sei nur noch der Mond, nicht mehr die Sonne, und zwar der Mond im abnehmenden Licht; sie müsse allmählich einige ihrer Funktionen an die staatliche, andre an die künstlerische Gemeinschaft übergeben etc. Wenn solche Stimmen recht behalten sollten, so ständen wir jetzt so ziemlich vor dem Ende der lebendigen Kirchengeschichte; künftige Jahrhunderte würden nur noch Verwesungsgeruch empfinden, wo frühere erquickenden Lebensduft atmeten.
Zieht man jedoch diejenigen Triebe und Instinkte in Betracht, welche die ungeheure Mehrheit auch der zivilisierten Menschheit als zugkräftig empfindet, von welchen sie sich thatsächlich bestimmen läßt, so erscheinen derartige Fragen wenigstens für jedwede für uns absehbare Zukunft doch nur fast als rein akademische Erörterungen. Die Zeiten des »Kulturkampfes«, zumal des beendeten, sind jedenfalls solche, die noch ganz und voll in die Kirchengeschichte hineingehören und ebenso reichlichen wie ernsthaften Anlaß bieten, diese Kirchengeschichte, welche das Verständnis der Gegenwart eröffnet, sich recht genau anzusehen und ihre Weisungen verstehen zu lernen.