Alpenpflanzen
(hierzu Tafel »Alpenpflanzen«
[* 2] in
Farbendruck), die oberhalb der Baumgrenze in dem zentraleuropäischen
Hochgebirge verbreiteten
Gewächse, deren
Physiognomie wesentlich durch ihre Lebensbedingungen bestimmt wird.
Ihre Vegetationszeit
wird durch die lange Frostperiode auf 3-4
Monate beschränkt und beginnt in günstigen
Lagen Ende Mai, in den ungünstigsten
erst Ende Juli; die
Entwickelung der
Pflanzen schreitet sehr rasch vorwärts, da der Einfluß der
Insolation
[* 3] sich im Hochgebirge
viel stärker geltend macht als in der
Ebene.
Vor der Pflanzenwelt des hohen
Nordens zeichnet sich die der
Alpen
[* 4] durch reichlichere
Entwickelung zusammenhängender und ausgedehnter
Grasmatten, durch üppigern
Reichtum bunter
Blumenteppiche und durch größere Mannigfaltigkeit der floristischen
Bestandteile aus. Der
Gefahr des
Erfrierens, der die Alpenpflanzen
auch im
Sommer durch die nicht seltenen
Nachtfröste und Schneefälle
ausgesetzt sind, begegnen sie durch
Verkürzung der Stengelglieder und durch polsterförmig gedrängten Wuchs, der sie zugleich
gegen die Belastung mit
Schnee
[* 5] schützt.
Letzterer hält viele zartlaubige
Gewächse vom Hochgebirge fern; nur einzelne steifblätterige
Stauden,
wie
Eisenhut,
Germer
(Veratrum) und hochwüchsige
Enziane
(Gentiana lutea u. a.), wagen sich aus dem Bergwald auf die Alpentrift
hinaus. Vor den Polargegenden hat der
Boden des Hochgebirges Erwärmung bis zu größerer Tiefe voraus, und die unterirdischen
Teile der Alpenpflanzen
können daher beträchtlichere
Dimensionen annehmen. Die
Mehrzahl der Hochgebirgspflanzen
besteht aus perennierenden
Gewächsen, nur etwa 4 Proz. sind einjährige
Kräuter; dies ist auch insofern von Bedeutung, als
bei der kurzen Vegetationszelt die Samenreife nicht immer erreicht wird.
Allerdings beginnt das Aufblühen vieler Alpenpflanzen
sehr zeitig, indem sie ihre Blütentriebe, schon im Vorjahr
anlegen und dieselben
vor der
Entwickelung neuer
Laubblätter sofort nach dem Abschmelzen des
Schnees emporschicken. Die
Blüten
pflegen auch dem
Laien durch ihre unverhältnismäßige
Größe aufzufallen und erreichen bisweilen (z. B. bei
Gentiana acaulis.
s. Tafel) eine
Länge, die mehr als die Hälfte der Einzelpflanze beträgt; jedoch wird in andern
Fällen
jener
Eindruck mehr durch die
Verkürzung und Zwergbildung der Stengelteile als durch Vergrößerung der
Blumenkronen hervorgerufen;
auch hat eine ganze
Reihe alpenbewohnender
Pflanzen, wie Nigritella angustifolia (s. Tafel),
Orchis ustulata, Chamaeorchis alpina,
Oxytropis lapponica u. a., entschieden kleinere
Blüten als ihre Verwandten in der
Ebene.
Die
Farbe der Alpenblumen erscheint dunkler und intensiver als die der Flachlandgewächse; das Dunkelblau
der
Enziane (s. Tafel), die Purpurfarbe der Blütenteppiche von
Saxifraga
[* 6] oppositifolia, (s. Tafel), die goldgelben
Sterne von
Draba aizoides, das tiefe
Violett von
Viola calcarata (s. Tafel) u. a. pflegen auf jeden Alpenbesucher
den
Eindruck unvergleichlicher Pracht zu machen, doch wird letzterer mehr durch dichten Wuchs der
Blumen
als durch ihre Buntfärbung bedingt. Am meisten übertreffen die Alpenpflanzen
die
Gewächse des Tieflandes durch
Geruch und Honigreichtum
der
Blumen, den beiden wichtigsten
Mitteln zur Anlockung blumenbesuchender
Insekten,
[* 7] unter denen die
Schmetterlinge
[* 8] in der Hochalpenwelt
zu ausfallender Geltung kommen. Als Charakterpflanzen der alpinen Strauchregion erscheinen zunächst
die
Legföhren oder Krummholzfichten (verschiedene
Formen von
Pinus montana), die mit ihren dicht dem
Boden sich
¶
mehr
anschmiegenden Stämmen und ihren bogenförmig gekrümmten Zweigen oft undurchdringliche Dickichte herstellen; ihre elastischen Äste leisten im Winter dem Schneedruck erfolgreichen Widerstand; hier und da mischen sich ihnen vereinzelte Büsche der Zwergmispel bei, oder sie werden strichweise von dem Strauchwerk des Zwergwacholders ersetzt. An den Bächen und Runsen, in welchen die Lawinen herabgehen, siedeln sich regelmäßig niedrige Weidengebüsche (Salix hastata u. a.) an. Den schönsten Schmuck der Thalgehänge bilden die roten Blütenbüschel der immergrünen Alpenrosen, die vorzugsweise die Höhenzone zwischen 1600 und 2400 m bewohnen, aber unter Umständen auch bis zum Spiegel [* 10] der Alpenseen, wie des Achensees u. a., hinabsteigen; die gewimperte Art (Rhododendron hirsutum, s. Tafel) gilt als kalkstet, die rostfarbene (R. ferrugineum) als Pflanze des Schiefergebirges; jedoch wachsen beide Arten, z. B. am Sachselngrat, bei Engelberg u. a. O., nebeneinander auf gleicher Bodenunterlage.
Das Buschwerk der Grünerle (Alnus viridis) herrscht besonders in den Zentralalpen bis zu 2000 m aufwärts, kommt aber auch in den Thälern vor und fehlt nur auf Kalkgerölle, das die Legföhre dagegen bevorzugt; in dem Schutz der Grünerle steigt auch manche Bergpflanze, wie z. B. Astrantia minor (s. Tafel), aus dem Waldgürtel bis in die Alpenregion auf. Auch Bestände von Heidekraut sowie der zierlichen Erica carnea und von Vaccinium-Arten gewinnen in den Alpen bisweilen eine Ausdehnung, [* 11] die an die der norddeutschen Heiden erinnert. Bis zur Schneegrenze hinauf gehen von den Sträuchern die Kriechweiden (Salix reticulata, s. Tafel) u. a., deren federkieldicke Stämmchen sich dem Boden andrücken und außer wenigen Blättern meist nur ein einziges Blütenkätzchen entwickeln.
Die Pflanzenwelt der alpinen Mattenregion zeigt je nach der überwiegenden Trockenheit oder Feuchtigkeit der Bodenunterlage einen verschiedenen Charakter. Auf dürren Bergrücken, die keinen Wasserzufluß genießen, herrschen starrblätterige Gräser [* 12] und dichtwollige Habichtskräuter vor; hier und da erscheinen an solchen Stellen auch die weißwolligen Blütenköpfe des Edelweiß (Gnaphalium Leontopodium, s. Tafel), dieser Lieblingsblume der Touristen, die sich in vielbesuchten Thälern auf schwer zugängliche Stellen geflüchtet hat; wo sie ungestört wächst, steigt sie bis in die Voralpenregion hinab. Wo in vertieften Mulden Bäche herabrieseln, breiten sich Quellfluren mit vielblütigen Stauden aus.
Hochmoore mit Empetrum, Azalea und Vaccinium uliginosum, mit Wollgräsern und einer Reihe arktischer Seggenarten erfüllen die sumpfigen Senkungen. Den schattig-feuchten Grund der Karrenfelder nehmen hochwüchsige Arten von Eisenhut, Kratzdisteln (Cirsium spinosissimum u. a.), Drüsengriffel (Adenostyles u. a.) ein. Die Geröllfelder in subnivaler Höhe erscheinen übersäet mit zahlreichen, ganz zerstreut auftretenden, rundlich ausgebreiteten Pflanzenrasen, deren Wurzeln die durchfeuchteten Schuttmassen festhalten; hier wachsen gern Linaria alpina und zahlreiche andre niedliche Pflanzengestalten.
Das aus dicht zusammenschließenden Gräsern gebildete Grundgewebe der Matten wird von Enzianen mit riesigen tiefblauen Blumen (Gentiana acaulis. s. Tafel), von Primelarten, von dem purpurschwärzlichen Brändel (Nigritella angustifolia. s. Tafel) und einer Menge andrer, vorwiegend rot- oder blau-, seltener gelb- oder weißblütiger Gewächse durchsetzt, unter denen das Auge [* 13] des Botanikers manche für einzelne Gebiete der Alpen charakteristische Seltenheiten herausfindet.
Auf Felsblöcken und an Steinwänden siedeln sich Polster der hochnordischen Dryas octopetala (s. Tafel), rosenrote Teppiche von Silene [* 14] acaulis (s. Tafel), dickblätterige Fettpflanzen, wie Sempervivum- (s. Tafel) und Sedum-Arten, Steinbreche mit kalkabsondernden Zungenblättern (Saxifraga Aizoon, s. Tafel), Glockenblumen, Phyteuma- und Androsace-Arten an. Felsige Wände sind mit Edelraute (Artemisia mutellina), Edelweiß, gelben Draba-Arten, blauen Globularien u. a. geschmückt.
Selbst bis an den Rand der Schneefelder drängt sich ein Kranz zierlich gestalteter und anmutig gefärbter Blumen, wie die Soldanellen (Soldanella alpina. s. Tafel), deren hellviolett gefärbte Glocken zierlich gefranst sind, und die mit ihren durch die Sonnenwärme hervorgelockten Blütenschäften nicht selten die dünne Schneedecke über ihrem Winterlager durchbrechen. An ähnlichen Orten wachsen auch die Alpen- und Eisranunkeln (Ranunculus alpestris, s. Tafel, und R. glacialis), mehrere Primelarten, wie der Speik (Primula glutinosa, s. Tafel) in Tirol, [* 15] die Mehlprimel (Primula farinosa), der Frühlingscrocus u. a. Auf hochgelegenen Felsgraten finden das himmelblaue Eritrichium nanum (s. Tafel), Androsace glacialis, Potentilla frigida, Draba frigida, Hutschinsia alpina, Petrocallis pyrenaica und eine Reihe von hochalpinen Gräsern, Seggen und Binsen ihren Sitz.
Höhen über 2760 m, also Regionen, die zum Teil von bleibendem Schnee bedeckt sind, werden von den sogen. Nivalpflanzen bewohnt, zu denen außer einigen eben genannten Arten besonders Soldanella pusilla, Ranunculus glacialis, Silene acaulis, Saxifraga oppositifolia (s. Tafel), Cerastium latifolium, Gentiana bavarica u. a. gehören. In der Region des ewigen Schnees erstarrt auch das pflanzliche Leben fast ganz;
nur die dünne Schlammschicht auf der Oberfläche der Gletscher beherbergt einige Diatomeenarten;
bisweilen treten auch blutstropfenähnliche Flecke im Schnee auf, die von der Schneealge (Haematococcus oder Sphaerella nivalis) herrühren;
in den eiskalten Quellen der Hochregion leben mehrere andre Algen [* 16] (Oscillaria, Prasiola u. dgl.).
Endlich zeigen die aus den Firnschneefeldern hervorragenden nackten Felsklippen noch in Höhe bis 3800 in graue oder schwärzliche, aus Flechten [* 17] gebildete Überzüge.
Der geographischen Verbreitung nach kehrt ein verhältnismäßig nur geringer Teil der Alpenpflanzen
außerhalb
der Alpen in der arktischen Zone wieder, nach Christ von 294 hochalpinen Arten nur 64 Spezies. Dieselben scheinen ihren Ursprung
vorwiegend in Nordasien gehabt zu haben, und ein Drittel von ihnen fehlt in dem nächstnordischen Gebiet, in Skandinavien,
ganz; eine noch geringere Zahl dehnt ihre Verbreitung von den nördlichen Teilen Amerikas über Grönland, Island
[* 18] und Skandinavien
bis zu den Alpen aus.
Als ausschließliche Produkte der Alpenkette betrachtet Christ nur 182 Arten, die überwiegend Bewohner trockenen Bodens sind, während die nordisch-alpinen Pflanzen nasse Standorte bevorzugen. Innerhalb der Alpen selbst ist die Verbreitung der Arten eine ziemlich verwickelte; doch tritt eine Scheidelinie zwischen nördlicher und südlicher sowie ost- und westalpiner Flora deutlich hervor. Im Vergleich zu der Pflanzenwelt andrer europäischer Hochgebirge zeichnet sich die der Alpen durch reichlichere Entfaltung der grünen Grasmatten und durch größere floristische Mannigfaltigkeit aus. In den Gebirgen Südeuropas verdorrt die im Frühling ¶
mehr
erblühende Alpenvegetation rasch unter dem Einfluß der sengenden Sonnenstrahlen, so daß nur längs der Bachrinnsale sich
einiges Grün erhält. Auch in den Zentralkarpathen breiten sich oberhalb des Krummholzgürtels meist nur spärliche Matten
aus; von Hochalpenpflanzen
besitzen die Karpathen nach Sagorski und Schneider 128 Arten, von denen die Mehrzahl auch in
die Knieholzregion hinabsteigt; die Gipfelflora der Krzeszanica und die der Thalkessel zwischen Novy und Havran gibt der
Hochflora der Schweiz
[* 20] an Mannigfaltigkeit und Blumenpracht nichts nach.
Jedoch fehlen den Karpathen unter anderm die Alpenrosengebüsche, das Strauchwerk graubehaarter Gebirgsweiden und die Azaleenteppiche.
Im ganzen stellen die Karpathen ein floristisches Bindeglied zwischen Ostalpen, dem siebenbürgischen
Hochgebirge und den Sudeten her. Einen den Hochfloren der Schweiz und der Österreichischen Alpen ähnlichen Reichtum von Arten
besitzen die Pyrenäen, in denen außer vielen von allgemeiner Verbreitung, wie z. B. Edelweiß u. a., auch eine große Reihe
rein endemischer Hochgebirgsarten vorkommt. Auch die Alpenflora Siebenbürgens wird als mannigfaltig und
der schweizerischen ebenbürtig geschildert. S. auch Anpassung. - Zur Litteratur: Kolb, Die europäischen und überseeischen
Alpenpflanzen
(Stuttg. 1889-90);
Keller, Die Blüten alpiner Pflanzen (Basel [* 21] 1887);
Schröter, Taschenflora des Alpenwanderers (115 kolorierte Abbildungen, 2. Aufl., Zür. 1890).