Alkoholismus
oder Alkoholvergiftung bezeichnet den Inbegriff aller derjenigen körperlichen, geistigen und sittlichen Schäden und Nachteile, die aus dem übermäßigen Genuß von Alkohol (s. d.) und alkoholhaltigen Getränken entspringen. Infolge der enormen Verbreitung, welche der Alkohol als Genußmittel fast allenthalben gefunden, erstrecken sich seine unheilvollen Wirkungen nicht nur auf das einzelne Individuum, sie sind vielmehr fühlbar für die ganze Gesellschaft und nehmen deshalb neuerdings das Interesse der Ärzte, Nationalökonomen und Gesetzgeber in hervorragendem Maße in Anspruch.
Die Wirkungen des Alkohols auf den menschlichen Organismus sind verschiedene, je nachdem er verdünnt oder konzentriert, in kleinern oder größern Mengen, gelegentlich oder gewohnheitsmäßig genossen wird. Kleine Mengen rufen wie andere gleichfalls giftige Genußmittel (Tabak, [* 2] Thee, Kaffee) eine angenehme Aufregung hervor, welcher später ein Zustand der Erschlaffung folgt; sie bewirken zunächst das Gefühl von Wärme [* 3] im Magen [* 4] und in der Haut, [* 5] machen den Puls kräftiger und schneller, veranlassen einen stärkern Blutzufluß zu den Baucheingeweiden (Leber) und dem Kopfe und regen die geistige Thätigkeit an. Nach dem Genusse größerer Mengen Weingeist sind diese Wirkungen stärker, und die schädlichen Einflüsse derselben treten hervor.
Die Verminderung der Leistungsfähigkeit macht sich früher und in stärkerm
Grade geltend. Das Denkvermögen verliert an
Schärfe, das
Gedächtnis wird unsicher, die
Sinne versagen den Dienst, das
Gehirn
[* 6] verliert seine Herrschaft
über den Körper, so daß die
Bewegungen unsicher werden und endlich
Schlafsucht und völliger
Verlust des
Bewußtseins sich
anschließen (akuter Alkoholismus
, Rausch,
Trunkenheit). Bei dem Hinzutreten anderer Einflüsse kann durch
Herzlähmung oder
Schlagfluß
der
Tod erfolgen.
Der Körper bedarf einiger Zeit, um sich von solchen
Angriffen auf seinen Normalzustand zu erholen, und
es hinterbleibt daher nach dem Rausche eine
Störung der Gesundheit, bei welcher die Zeichen eines
Magen- und
Darmkatarrhs (der
sog.
Katzenjammer) hervortreten. Bei häufiger Wiederholung der Intoxikation mit
Alkohol bilden sich allmählich in allen Geweben
und Organen des Körpers gewisse krankhafte
Veränderungen und
Störungen aus, die schließlich eine völlige
Zerrüttung des ganzen Organismus zur Folge haben und unter dem
Namen des chronischen Alkoholismus
(Trunksucht,
Trunkfälligkeit, Säuferkrankheit)
zusammengefaßt werden. Am frühzeitigsten pflegt beim Gewohnheitstrinker der Verdauungsapparat zu erkranken; chronischer
Rachen- und
Magenkatarrh, Appetitlosigkeit, morgendliches
Erbrechen, Säurebildung und Verstopfung sind die ersten
Symptome des
Alkoholmißbrauchs und haben schließlich schwere Ernährungsstörungen und fehlerhafte Blutmischung
zur Folge. Vermöge der abnormen
Verdauung und des veränderten
Stoffwechsels kommt es leicht zu einer übermäßigen Fettablagerung
in der äußern
Haut und den innern Organen, welche mannigfache
Beschwerden und
Störungen bewirkt. Namentlich die
Leber ist
vergrößert, schwerer, mit Fett infiltriert; nicht selten bildet sich unter dem irritierenden Einfluß
des
Alkohols eine chronische
Entzündung dieses Organs aus mit nachfolgender Schrumpfung,
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Gelbsucht, Bauchwassersucht und Erschöpfung (sog. Lebercirrhose, granulierte Leber oder Säuferleber).
Fast immer findet sich bei Trinkern eine Vergrößerung (Hypertrophie) des Herzens, zu der sich späterhin fettige Entartung des Herzmuskels und der größern Gefäße gesellt. (S. Herzverfettung.) Von seiten der Atmungsorgane stellen sich schon bald chronische Kehlkopf- und Lungenkatarrhe ein und bedingen die bläulichrote Gesichtsfarbe, die anhaltende Heiserkeit und Kurzatmigkeit der Gewohnheitstrinker. Die Nieren erkranken nicht selten infolge ihrer gesteigerten Thätigkeit unter der Form der Brightschen Krankheit (s. d.). Sehr zahlreich und bedeutungsvoll endlich sind bei Trunksüchtigen die Erkrankungen des Nervensystems.
Blutüberfüllung des Gehirns und seiner Häute, Verdickungen der Hirnhäute, Blutergüsse in das Gehirn (Schlagflüsse), Entzündungen der Hirnsubstanz mit nachfolgender Atrophie derselben (Hirnschwund) sowie analoge Erkrankungen des Rückenmarks und der Sinnesorgane kommen bei Trinkern oft vor und werden die Ursache mannigfacher psychischer Störungen (Hallucinationen, Delirien, Blödsinn, allgemeine Paralyse u. a.). Selbst geringfügige Erkrankungen, operative Eingriffe und Verlegungen sind bei Gewohnheitstrinkern oft von schweren Hirnsymptomen, dem sog. Säuferwahnsinn oder Delirium (s. d.), begleitet.
Eine natürliche Folge dieser Umstände ist es, daß die Sterblichkeitsziffer der Trunksüchtigen eine ganz abnorme Höhe
erreicht. Nicht nur, daß eine große Anzahl von Trinkern während oder unmittelbar nach einem Alkoholexzeß plötzlich stirbt,
eine noch weit größere erliegt den mittelbaren Folgezuständen des Alkoholismus
, namentlich
dem Delirium tremens. Nach amtlichen Erhebungen gingen in England in den J. 1847-74: 22 723 Personen an den unmittelbaren Folgen
der Trunksucht zu Grunde;
in Neuyork
[* 8] ist ein Drittel aller Todesfälle direkt oder indirekt durch den Alkoholismus
bedingt, und in den 38 Jahren
1840-78 sind 190000 Menschen daselbst durch den Einfluß des Alkohols gestorben, so daß sich William Parker
zu dem Ausspruch berechtigt glaubt, daß das Gelbe Fieber gegenüber der Trunksucht ein sehr mildes Leiden
[* 9] für die Menschheit
sei.
Hierzu kommt, daß unter den tödlichen Verunglückungen ein nicht unerheblicher Teil lediglich durch den Alkoholismus
veranlaßt
und herbeigeführt wird; in Frankreich beispielsweise verunglückten im Rausche in der neuesten Zeit durchschnittlich
jährlich 404 Personen, im Königreich Sachsen
[* 10] waren 1847-76 unter 17 939 tödlichen Verletzungen 1111 oder 6,2 Proz., im Königreich
Preußen
[* 11] 1809-73 unter 33 371 tödlichen Verletzungen 1554 oder 4,6 Proz. notorisch durch
Trunkenheit und Trunksucht verursacht.
Einen ebenso wichtigen Anteil nimmt der am Selbstmord. So ließen sich 1875 in Frankreich 17 Proz., in Dänemark [* 12] 17,5 Proz., in Preußen 8 Proz., in Sachsen 10,3 Proz., in Rußland sogar 38 Proz. aller Selbstentleibungen auf übermäßigen Alkoholgenuß zurückführen. Nicht minder auffallend ist das Verhältnis der Trunksucht zum Irrsinn; Stark giebt für das Elsaß bei 34 Proz. der Männer und 15 Proz. der Frauen Trunksucht als Ursache des Irrsinns an, und Nasse fand in der Rheinprovinz [* 13] 27,7 Proz. der männlichen Geisteskranken infolge von Alkoholmißbrauch erkrankt.
Hierzu kommt als weiteres wichtiges Moment, daß Trunksüchtige auf ihre Nachkommenschaft gewisse Krankheitsanlagen im Bereiche des physischen, psychischen und moralischen Lebens vererben, welche schließlich eine wesentliche Degeneration der Bevölkerung [* 14] zur Folge haben, wie dies für einzelne Teile von Schweden, [* 15] Galizien, Preußen und dem Kanton Bern [* 16] durch die Verminderung der Militärbrauchbarkeit der heranwachsenden Jugend bereits erwiesen ist; die Kinder von Gewohnheitstrinkern sind meist schwächlich und besitzen häufig eine große Prädisposition zu schweren Nervenkrankheiten (Epilepsie, Veitstanz, Idiotie u.s.w.) und zu Geistesstörungen.
Der Alkoholismus
führt zu den schwersten Nachteilen für die Wohlfahrt der Familie, der Gemeinde und des Staates, insofern er die ergiebigste
Quelle
[* 17] der Einzel- wie der Massenarmut darstellt, das Familienglück dauernd vernichtet, die Prostitution fördert und den
Sinn für öffentliche Ordnung und Rechtssitte völlig untergräbt. In welch einschneidender Weise der
Nationalwohlstand durch den Alkoholmißbrauch in Mitleidenschaft gezogen wird, geht aus der Thatsache hervor, daß die Ausgaben
für Schnaps nach Brüning jährlich in Preußen 261, in England 1200, in der kleinen Schweiz
[* 18] jährlich 120 Mill. M. betragen,
und doch bilden diese direkten Ausgaben nur einen geringen Teil derjenigen Schäden, welche dem Nationalvermögen
durch die Trunksucht und ihre Folgezustände zugefügt werden.
Wie groß der Einfluß ist, den der Alkoholismus
auf die Häufigkeit und die Art der Verbrechen ausübt, haben erst neuerdings wieder
die verdienstlichen Untersuchungen von Baer gezeigt, nach denen sich in Deutschland
[* 19] 1874 unter 32 837 Gefangenen 13 706 (41,7
Proz.) Trinker und zwar 7269 (22,1 Proz.) Gelegenheitstrinker und 6437 (19,6
Proz.) Gewohnheitstrinker befanden. Hinsichtlich der verschiedenen Arten der Verbrechen ließ sich nachweisen, daß der Mord in
46,1 Proz., der Totschlag in 63,2 Proz., Körperverletzungen schwerer Art in 74,4 Proz.,
solche leichterer Art in 63 Proz., Widerstand gegen die Staatsgewalt in 76,5. Proz., Vergehen gegen die Sittlichkeit in 77 Proz.
der Fälle im Zustande der Trunkenheit verübt worden waren.
Ebenso wurden in England nach amtlichen Erhebungen drei Viertel bis vier Fünftel sämtlicher Verbrechen unter dem Einfluß des Alkohols begangen. Mit der Zunahme der Trunksucht steigt naturgemäß die Zahl der Verbrechen, während umgekehrt überall da, wo sich eine Abnahme des Alkoholverbrauchs konstatieren läßt (z. B. in Irland infolge der Bestrebungen des Pater Mathew, in Schweden nach energischen Repressivmaßregeln der Staatsgewalt), sich eine starke Verminderung zeigt.
Hinsichtlich der Bekämpfung der Trunksucht muß vor allem betont werden, daß nur dann ein sicherer Erfolg
erwartet werden kann, wenn Staat und Gesellschaft gemeinsam gegen den Alkoholismus
energisch Stellung nehmen. Was sich von seiten einzelner
privater Vereine durch Opferwilligkeit, Humanität und zähe Beharrlichkeit im Kampfe gegen die Trunkfälligkeit erreichen läßt,
haben die seit 1808 in Nordamerika
[* 20] wirkenden Mäßigkeits- und Abstinenzgesellschaften, die über England
seit 1829 verbreiteten Temperanzgesellschaften (s. d.), ferner die wunderbaren Erfolge des irischen
Enthaltsamkeitsapostels Pater Mathew, der in den J. 1838-56 über einer Million Menschen das Gelöbnis der Abstinenz abnahm,
sowie die ersprießliche Thätigkeit der schwed. Mäßigkeitsvereine zur Genüge bewiesen. Auch die in Deutschland begründeten
Mäßigkeitsvereine nahmen einen vielversprechenden Anlauf,
[* 21] fanden aber unter den polit. Wirren des J. 1848 ein plötzliches
Ende. Die Errichtung und Unterstützung derartiger
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Vereine, die fern von jedem polit. und konfessionellen Parteistandpunkt das Volk über die Gefahren des Alkoholismus
zu belehren und
sein sittliches Gefühl durch Verbreitung von Aufklärung, Wissen und Bildung zu fördern suchen, ist als eine wesentliche Grundbedingung
für die wirksame Bekämpfung der Trunksucht zu bezeichnen. In dieser Beziehung sind die Bestrebungen des
«Deutschen Vereins gegen den Mißbrauch geistiger Getränke» sowie des «österreichischen Vereins gegen Trunksucht» mit Freuden
zu begrüßen. Darüber ist jedoch nicht zu vergessen, daß überall dort, wo Proletariat und Massenarmut herrschen, die
Fürsorge für Beschaffung gesunder Wohnungen, guter und billiger Nahrungsmittel,
[* 23] insbesondere solcher Getränke, die als
Ersatz für den Branntwein dienen (gutes billiges Bier, Kaffee, Thee), die Errichtung gut geleiteter Volksküchen
u. dgl. die wirksamsten Waffen
[* 24] gegen die Trnnksucht darstellen.
Von den seitens des Staates gegen den Alkoholismus
zu ergreifenden Maßregeln haben weder das Verbot des Branntweinhandeis, wie dies
von einzelnen Staaten von Nordamerika versucht wurde, noch die hohe Besteuerung des Branntweins die Trunksucht
zu vermindern vermocht. Dagegen dürften sich die neuerdings angeregte strenge Überwachung des Kleinhandels mit Spirituosen,
die Verminderung der Schankkonzessionen und der Schankstätten, die gesetzliche Verantwortlichkeit des Schankwirts für alle
Folgen der Trunkenheit, zu der er verholfen, und die unnachsichtliche Bestrafung aller öffentlichen Trunkexcesse als
entschieden wirksame Mittel bewähren. Mit der Verminderung der Schankstätten hat man recht gute Erfahrungen in Göteborg
[* 25] gemacht, wo eine Aktiengesellschaft die Schankstätten ankauft und sie ganz uneigennützig, ausschließlich im Sinne der Mäßigkeit
verwaltet (s. Gotenburger Ausschanksystem). Nicht minder wünschenswert erscheint die Errichtung
staatlicher Besserungsanstalten für Gewohnheitstrinker, sog. Trinkerasyle (s. d.).
Im J. 1891 wurde dem Deutschen Reichstage der Entwurf eines Gesetzes, betreffend den Mißbrauch geistiger Getränke, vorgelegt, wonach für Trunksüchtige eine Entmündigung sowie auch die Unterbringung in eine Trinkerheilanstalt in Aussicht genommen wurde. Doch gelangte der Entwurf, der viel Widerspruch fand, nicht zur Beratung im Plenum.
Litteratur. Huß, Chronische Alkoholskrankheit (aus dem Schwedischen von Gerh. van dem Busch, Stockh. 1852);
Baer, Der Alkoholismus
, seine Verbreitung und seine Wirkung auf den individuellen und socialen Organismus (Berl. 1878);
Stursberg, Die Bekämpfung der Völlerei, insbesondere auf dem Wege der Gesetzgebung (Düsseld. 1877);
Rosenthal, Bier und Branntwein und ihre Bedeutung für die Volksgesundheit (Berl. 1881);
Tilkowsky, Der Einfluß des Alkoholmißbrauchs auf psychische Störungen (Wien [* 26] 1883);
Stark, Der Kampf wider die Trunksucht (Frankf. 1885);
Mitteilungen zur Bekämpfung der Trunksucht (später: Volksgesundheit, hg. von Böhmert u. a., 11. Jahrg., Dresd. 1894);
Baer, Die Trunksucht und ihre Abwehr (Wien 1890);
Martius, Handbuch der deutschen Trinker- und Trunksuchtsfrage (Gotha [* 27] 1891);
Schmitz, Mäßigkeit oder Enthaltsamkeit? (Bonn [* 28] 1894);
Larsen und Trier, [* 29] Über den und seine Wirkungen (aus dem Dänischen von Fransen, Wien 1895).