Agrikultur
chemie
oder
Ackerbauchemie, der
Teil der angewandten
Chemie, der die chem.
Bedingungen des Lebens der Nutzpflanzen
und der Haustiere behandelt. Da diese
Bedingungen im ganzen die nämlichen sind wie die der Organismen überhaupt, so ist
die von der
Tier- und
Pflanzenchemie keineswegs streng zu scheiden. Die Agrikultur
chemie ist eine verhältnismäßig
noch junge Wissenschaft. Den Weg bahnten ihr die experimental-physiol. Forschungen über
den Lebensprozeß der
Pflanzen von
Hales, «Statical essays. I. Vegetable statics» (Lond.
1727; 3. Aufl. 1738),
Senebier, «Mémoires phys.-chimiques sur l'influence de la lumière solaire etc.» (3 Bde., Genf [* 2] 1782; deutsch, 4 Bde., Lpz. 1785),
Jugenhouß, «Experiments upon vegetables, discovering their great power of purifying
the common air in the sunshine etc.» (Lond. 1779; deutsch Lpz.
1780;
Wien
[* 3] 1786-88) und endlich Saussure, dessen Hauptwerk:
«Recherches chimiques sur la végétation» (Par. 1804; deutsch
Lpz. 1805), die Grundlage der gesamten Agrikultur
chemie bildet. Er führte den
nicht mehr anzuzweifelnden Nachweis, daß die
Pflanze ihren Koblenstoffgehalt wenigstens größtenteils aus der
Kohlensäure
der Luft entnimmt, ohne indes die Meinung aufzugeben, daß auch der
Humus des
Bodens durch die
Wurzeln aufgenommen werde.
Dann veröffentlichte
Sir Humphry
Davy seine «Elements of agricultural chemistry» (Lond.
1813; neue Aufl. 1839), und dieser gilt noch gegenwärtig den Engländern,
mit Nichtbeachtung Saussures, als
Vater der Agrikultur
chemie. Bis gegen das Ende des ersten Viertels des 19. Jahrh.
nahmen indes die Naturforscher im
Verein mit den rationellen Landwirten
Thaer, Schwerz,
Burger, Schönleitner,
Fellenberg u. a.
noch immer als Nahrung des Pflanzenorganismus nur Reste von Organismen, die sich durch chem.
Prozesse in eine Reihe von Säuren verwandeln, also ausschließlich organische
Stoffe an, denen man den Gesamtnamen
«Humus»
gab. So lagen die Dinge bis zum Auftreten
Liebigs, dessen epochemachendes Werk: «Die organische
Chemie in ihrer Anwendung auf
Agrikultur und
Physiologie» (Braunschw. 1840; 9. Aufl., 3
Tle., 1875-76), eine neue
Periode der
Landwirtschaft
und der Agrikultur
chemie begründete.
Allerdings fand Liebig, der neben der Assimilation der Kohlensäure durch die Blätter die Aufnahme von Ammoniak und Mineralsalzen in wässeriger Lösung durch die Wurzeln als Faktoren der Pflanzenernährung ansah und besondern Nachdruck ¶
mehr
auf die Mineralsalze als Nährstoffe der Pflanzen legte, zunächst großen Widerspruch, sowohl seitens der Praktiker als auch der Vertreter der alten Schule der Chemie. Vor allem erfuhr die Bedeutung der Nährsalze und die Notwendigkeit, dieselben dem durch mehrere Ernten erschöpften Boden durch Düngung wieder zuzuführen, heftige Gegnerschaft. Gegenüber den «Mineralstofflern», den Anhängern Liebigs, stand das Lager [* 5] der «Stickstoffler», die den Boden an Mineralstoffen für unerschöpflich hielten und den Ertrag der Felder vorzugsweise durch Zufuhr stickstoffreicher Stoffe zu heben suchten.
Die Wage
[* 6] des Kampfes schwankte längere Zeit, zumal als Lawes und Gilbert zu Rothamstead in England mit den Resultaten ihrer
Versuche auf die letztere Seite traten. Allein mit überzeugender Schärfe wies Liebig die Nichtigkeit
dieser Ergebnisse nach, und von diesem Augenblicke an fiel ihm der jetzt nicht mehr bestrittene Sieg zu. Auf seiner Seite
standen als Kampfgenossen: Wiegmann und Polstorff mit ihren Untersuchungen über die Pflanzenaschen, Salm-Horstmar über
das Leben der Haferpflanze, Knop und Stohmann mit ihren Untersuchungen über die Kulturen von Pflanzen
in wässerigen Lösungen der Nährstoffe u. a. Gleichzeitig mit Liebig hatte auch der franz. Naturforscher Boussingault (s. d.)
sich auf das Gebiet der Agrikultur
chemie begeben und darauf um so Ausgezeichneteres geleistet, als er nicht bloß
Gelehrter, sondern auch praktischer Landwirt war, der sein Gut Bechelbronn im Elsaß als Musterwirtschaft
selbst leitete. Ihm verdankt die Wissenschaft der Agrikultur
chemie gleichfalls einen Teil ihrer Begründung. Liebig wies auch zuerst der
Berücksichtigung des Stoffwechsels im Körper der Haustiere seine Berechtigung innerhalb der Lehren
[* 7] der Agrikulturchemie
an. Seine «Tierchemie»
(Braunschw. 1842: 3. Aufl. 1847) war der Ausgangspunkt
einer Reibe höchst wertvoller Arbeiten von Haubner, Henneberg, Stohmann, Regnault, Reiset, namentlich aber von Bischoff, Voit
und Pettenkofer, die durch die Konstruktion des großen Respirationsapparats genaue Beobachtungen über den physiol. Chemismus
im Tierkörper ermöglichten.
Ihre Forschungen waren überhaupt die Ursache, daß sich die der neuesten Zeit mit Vorliebe der Tierchemie
zugewendet und die Einwirkung der Futterstoffe
[* 8] auf das produktive Leben der Haustiere zu einer ihrer Hauptaufgaben gemacht
hat. Die vielen Einwände, die der Liebigschen Schule von seiten der Praktiker entgegengehalten wurden, trieben Meister und
Jünger der neuen Schule zu selbstthätigen Forschungen auf dem landwirtschaftlichen Gebiete an, die
auf der sog. Liebigshöhe bei Gießen
[* 9] begonnen wurden und deren Resultat das Grundwerk Liebigs ist: «Die Naturgesetze des
Feldbaues» (Braunschw. 1862, den 2. Tl. seiner «Chemie in ihrer Anwendung auf Agrikultur u. s. w.» bildend). In demselben faßte
er die fundamentale Lehre
[* 10] der Agrikulturchemie
im Bereiche der von ihm aufgestellten 50 Thesen zusammen, welche die bisherige
Art der Bodenproduktion als eine Raubwirtschaft darstellen, deren Ergebnisse in vielen Ländern klar zu Tage liegen, während
er gleichzeitig in einer besondern «Einleitung» die Geschichte seiner Lehre giebt und deren Gegner auf das überzeugendste
zurückweist. Die auch auf dem Wege systematischer experimenteller Untersuchungen vorgebende landwirtschaftliche Praxis
hat seine Theorie durchaus bestätigt, so daß dieselbe gegenwärtig allgemein anerkannt ist.
Die wichtigsten Organe der Agrikulturchemie
sind heute
die Landwirtschaftlichen Versuchsstationen (s.d.). Lehrstühle der Agrikulturchemie
finden sich
an allen landwirtschaftlichen Akademien und einer Reihe von deutschen Universitäten (Bonn,
[* 11] Breslau,
[* 12] Halle,
[* 13] Göttingen,
[* 14] Greifswald,
[* 15] Leipzig,
[* 16] München),
[* 17] an einzelnen Technischen Hochschulen, die landwirtschaftliche Abteilungen haben (z. B.
München und Zürich)
[* 18] und an den landwirtschaftlichen Hochschulen in Berlin
[* 19] und Wien.
Die Litteratur der Agrikulturchemie
ist eine außerordentlich umfangreiche, sowohl an das gesamte Gebiet umfassenden
wie an nur einzelne Teile behandelnden Werken. Hervorzuheben sind außer Liebigs oben erwähnter Schrift: Stöckhardt, Chemische
[* 20] Feldpredigten (4. Aufl. 1856);
Boussingault, Die Landwirtschaft in ihren Beziehungen zur Chemie, Physik und Meteorologie;
Henneberg und Stohmann, Beiträge zur Begründung einer rationellen Fütterung der Wiederkäuer [* 21] (1860-64);
Agrikulturchemie
Mayer,
Lehrbuch der Agrikulturchemie
(2 Tle. und Anhang, 3. Aufl. 1886; Tl. 1 in 4. Aufl., 1895): E. Heyden, Lehrbuch der Düngerlehre;
E. Wolff, Aschenanalysen aller land- und forstwirtschaftlich wichtigen Produkte (2 Bde., 1871 u. 1880);
ders., Praktische Düngerlehre (11. Aufl. 1889);
B. Sachße, Lehrbuch der Agrikulturchemie
(1888);
C. Weber, Leitfaden für den Unterricht in der landwirtschaftlichen Chemie (1895).
Neue Untersuchungen bringt namentlich die Zeitschrift «Die landwirtschaftlichen
Versuchsstationen, redigiert von Nobbe. Organ für naturwissenschaftliche Forschungen auf dem Gebiete
der Landwirtschaft» (Bd. 1-45, Berl.
1859-95) und im «Centralblatt für von M. Fleischer. Eine zusammenfassende Übersicht über sämtliche einschlagende Forschungen
giebt alljährlich der «Jahresbericht über die Fortschritte der Agrikulturchemie».