Agrārpolitik,
die Politik (das Verhalten staatlicher Gesetzgebung und Verwaltung) in Bezug auf den landwirtschaftlichen Boden und ländlichen Grundbesitz, umfaßt die gesetzliche Regelung des ländlichen Grundeigentums (Agrargesetzgebung), aber zugleich die Maßregeln der Verwaltung, welche im Interesse der landwirtschaftlichen Bevölkerung [* 2] und zur Förderung des Gemeinwohls bezüglich des landwirtschaftlichen Bodens und Besitzes ergriffen werden (Agrarverwaltung).
Manche fassen sprachwidrig den
Begriff weiter, identifizieren Agrarpolitik
mit
Landwirtschaftspolitik (s. d.) und verstehen darunter das
Verhalten des
Staats zur
Regelung und
Förderung der
Landwirtschaft überhaupt, also außer der in jenem
Sinn auch die
Politik bezüglich des landwirtschaftlichen
Kredit-,
Unterrichts-,
Versicherungs-,
Genossenschafts-,
Vereins-, Ausstellungswesens,
der landwirtschaftlichen
Arbeitendes landwirtschaftlichen
Absatzes
(Zollpolitik) etc. Die in jenem
Sinn war und ist nach
Zeiten
und Völkern außerordentlich verschieden.
Aber die der europäischen Kulturvölker im letzten Jahrhundert seit Beginn der heutigen Wirtschaftsperiode zeigt trotz mancher Unterschiede im einzelnen doch im großen und ganzen eine Übereinstimmung in den Aufgaben, die man sich stellte, und in der Durchführung derselben. In allen Staaten hatte sich ein Zustand der Gebundenheit und Unfreiheit des ländlichen Grundeigentums entwickelt, der im Widerspruch mit der Idee des modernen Rechts- und Kulturstaats stand, ein Hemmnis für den Fortschritt der Landwirtschaft war und die berechtigten Ansprüche und Interessen der ländlichen Bevölkerung auf das empfindlichste schädigte.
Überall lag den Staaten auf diesem Gebiet eine große Reformaufgabe ob, die zu den umfangreichsten und schwierigsten gehörte, welche je Völker und Staaten zu lösen hatten. Die Aufgabe bestand kurz darin, die frühere Gebundenheit zu beseitigen und einen neuen Rechtszustand zu schaffen, der, beruhend auf dem Prinzip der Freiheit des Grundeigentums, die Erfüllung der privatwirtschaftlichen Aufgabe der Landwirte (Erzielung des möglichst hohen Reinertrags durch rationellen Betrieb) und der volkswirtschaftlichen Aufgaben der Landwirtschaft (höchstmögliche nachhaltige Verwertung der landwirtschaftlichen Produktionskräfte, gute Verteilung des landwirtschaftlichen Grundeigentums: Mischung von großen, mittlern und kleinen Gütern mit Sicherung des Besitzstands, und befriedigende wirtschaftliche und soziale Existenz der ländlichen Bevölkerung) ermöglichte. Die Staaten haben teils diese Aufgabe schon gelöst, teils sind sie noch in der Lösung derselben begriffen.
Die Reform betraf vorzugsweise die Befreiung des kleinen ländlichen, bäuerlichen Grundbesitzes von den Fesseln, in welchen die geschichtlich entwickelten Verhältnisse zur Grundherrschaft ihn gebunden hielten. Die erste Aufgabe, die Voraussetzung jeder weitern Reform, war die Aufhebung der persönlichen Abhängigkeitsverhältnisse, welche in verschiedenen Formen (Leibeigenschaft, Hörigkeit, Erb- oder Gutsunterthänigkeit) auf dem größten Teil der Landbevölkerung lasteten, die Herstellung der individuellen persönlichen und staatsbürgerlichen Freiheit (geschah in Frankreich 1789, Preußen [* 3] durch Edikt vom mit dem Endtermin Martinitag 1810, Bayern [* 4] 1808, Nassau 1812, Waldeck [* 5] 1814, Württemberg [* 6] 1817, Baden [* 7] 1818, Hessen-Darmstadt 1820 etc., Österreich [* 8] 1848, Rußland 1861. In England dagegen war die persönliche Unfreiheit der ländlichen Bevölkerung seit dem 14. Jahrh. allmählich ohne gesetzliche Einwirkung verschwunden, während die Ablösung der Zehnten und der auf den Copyholds ruhenden Lasten erst seit 1836 und 1845 erfolgte). Die Durchführung derselben erheischte auch die Beseitigung der aus der frühern Abhängigkeit herrührenden Abgaben und Leistungen. Die Aufhebung der Lasten, welche aus der Guts-, Gerichts-, Vogtei-, Grund- oder Dienstherrlichkeit herstammten, erfolgte in der Regel ohne Entschädigung (Ausnahmen in Kurhessen, Württemberg und teilweise auch in Baden, Sachsen, [* 9] Hannover, [* 10] Braunschweig, [* 11] Österreich).
Die eigentliche Agrarreform bestand vornehmlich ¶
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in der Schaffung einer neuen Grundeigentumsordnung. Man stellte sich hier ein dreifaches Ziel: die Schaffung vollen, freien und individuellen Eigentums. Die unvollkommenen Besitzrechte und Untereigentumsrechte früherer Zeiten in ihren mannigfachen Formen wurden beseitigt und in volle Eigentumsrechte verwandelt, die Wiederherstellung, Ersetzung oder Neubegründung der aufgehobenen Rechtsverhältnisse ward, mit ganz vereinzelten Ausnahmen, für welche dann aber gesetzlich die Ablösbarkeit statuiert wurde, verboten.
Auch die Beschränkungen der Eigentümer bezüglich der Veräußerung, Verpfändung, Vererbung und Teilung, welche für gewisse Klassen von Gütern bestanden, wurden aufgehoben oder doch so geregelt, daß sie nicht mehr die rationelle Bewirtschaftung der Güter verhinderten. Bei dieser Reform fiel in Deutschland [* 13] und Österreich das guts- oder grundherrliche Obereigentum oder Eigentum als solches mit den darin enthaltenen Heimfallsrechten und sonstigen Befugnissen meist ohne Entschädigung fort (z. B. Preußen, Österreich, Württemberg), die aus privatrechtlichem Titel stammenden wurden entweder nur gegen Entschädigung aufgehoben (z. B. Österreich, Bayern, Württemberg), oder überhaupt lediglich für ablösbar erklärt (z. B. Preußen, Baden, Hessen-Darmstadt).
Die Staaten beförderten die Ablösung, indem sie dieselbe obrigkeitlich regulierten und durch eine Organisation von staatlichen Rentenbanken (s. d.), resp. Ablösungskassen die Ablösungskapitalien den Verpflichteten darlehnsweise (in hypothekarischen, allmählich zu amortisierenden Darlehen) zur Verfügung stellten. Die Freiheit des Eigentums wurde in der Weise durchgeführt, daß der Boden von allen privatrechtlichen Reallasten (insbesondere den Fronen, Zehnten, Grundzinsen und Laudemien) sowie von allen kulturschädlichen, die freie Benutzung der Grundstücke hindernden Grunddienstbarkeiten (Weideservituten, Feld- und Wegeservituten) entlastet wurde. In Deutschland haben die vor 1848 nur in beschränktem Maß durchgeführten, seitdem aber im weitesten Umfang erlassenen Ablösungsgesetze (s. d. bei G. Meyer unter Litteratur, § 102) zum Teil derartige Lasten unmittelbar aufgehoben, zum Teil sie in feste ablösbare Bodenzinsen verwandelt, zum größten Teil aber sie für ablösbar auf einseitigen Antrag der Verpflichteten und in der Regel auch auf einseitigen Antrag der Berechtigten erklärt.
Die Ablösung wurde auch hier dadurch befördert, daß die Staatsverwaltung die Regulierung in die Hand [* 14] nahm und die staatlichen Rentenbanken, resp. Ablösungskassen das für die Ablösung nötige Kapital den Verpflichteten darlehnsweise gaben. Um kulturschädliche, durch die Lage der Grundstücke und Wege aber gebotene Wege- und Feldservituten (Überfahrts-, Pflugwenderechte etc.) zu beseitigen und dem Einzelnen den freien Zugang zu seinem Grundstück von einem Weg und die freie Benutzung desselben zu verschaffen, wurde die zwangsweise Regelung der Feldflur zu diesem Zweck (Wegeregulierung, Wegebereinigung) gesetzlich gestattet (s. Flurregelung). Man begünstigte endlich noch den Übergang der in gemeinschaftlichem Eigentum stehenden, irrationell bewirtschafteten Ländereien in das Sondereigentum der einzelnen Miteigentümer (s. Gemeinheitsteilung).
Während so im Interesse der bäuerlichen Bevölkerung und im Interesse der Landeskultur die Freiheit des Grundeigentums und der Grundeigentümer, die Beseitigung der alten Feldgemeinschaft und des Flurzwangs herbeigeführt wurde, erforderten aber dieselben Interessen zugleich neue Einschränkungen des Rechts der Grundeigentümer in zweifacher Richtung: zur Beseitigung der Gemenglage und zur Förderung von Bodenmeliorationen. Die Gemenglage, d. h. die zerstreute Lage der Äcker der Einzelnen in den verschiedenen Feldungen, welche sich im Lauf der Jahrhunderte herausgebildet hatte, war in vielen Gemeinden ein schwerer Übelstand, ihre Beseitigung, resp. Verringerung durch Zusammenlegung ein dringendes, unabweisbares Bedürfnis.
Sollte hier geholfen werden, so mußte die Gesetzgebung die zwangsweise Regulierung der Feldflur zu diesem
Zweck (Arrondierung, Zusammenlegung, Verkoppelung) gestatten und einer nach dem Umfang des Areals und nach der Kopfzahl der Besitzer
zu bemessenden Majorität das Recht geben, unter Mitwirkung der Obrigkeit die Zusammenlegung von Parzellen auch gegen den Willen
einer Minderheit durchsetzen zu können, und die Staatsverwaltung mußte die allgemeine und planmäßige
Durchführung dieser Flurregelungen noch durch anderweitige Maßregeln unterstützen (s. Flurregelung). Die meisten Staaten,
wenigstens in Deutschland, gingen in dieser Weise vor. Ein ähnlicher gesetzlicher Zwang war geboten zum Zweck der Förderung
von Bodenmeliorationen, die nur gleichzeitig auf einer Mehrzahl von Gütern genossenschaftlich vorgenommen werden können, und
wurde in den meisten Staaten eingeführt. Aber derselbe Zweck erheischte auch noch weitere Maßregeln der
(s. Bodenmeliorationen). - Über die Grundsätze der richtigen Agrarpolitik
herrscht heute im allgemeinen wenig Streit. Zu den wenigen
bedeutsamen, allgemeinern agrarpolit
ischen Fragen, welche heute noch in der Wissenschaft und Praxis diskutiert werden, gehören:
ob und wie weit im Interesse der Konservierung der bäuerlichen Besitzungen subsidiär ein besonderes,
die Nichtteilung derselben begünstigendes Intestaterbrecht (sogen. Anerbenrecht, Höferecht) zweckmäßig ist (s. Höferecht);
ferner ob die in einer Reihe von Staaten nach dem Vorgang Preußens [* 15] gesetzlich nicht mehr zulässige Erbpacht in einer gegen früher reformierten Gestalt zu gestatten ist (s. Erbpacht), eine Frage, die im Bejahungsfall auf eine teilweise Sanktionierung des Rodbertusschen Rentenprinzips hinauskommen würde;
endlich ob eine Dismembrationsgesetzgebung gerechtfertigt ist (s. Dismembration).
Litteratur: Agrarpolitik
Meitzen, Abhandlung: Landwirtschaft, Teil 2, in Schönbergs »Handbuch der politischen Ökonomie«, Bd. 1 (Tübing.
1882; s. dort weitere Litteratur);
Roscher, Nationalökonomik des Ackerbaus (10. Aufl., Stuttg. 1882);
v. Stein, Verwaltungslehre, Bd. 7 (das. 1868);
Sugenheim, Geschichte der Aufhebung der Leibeigenschaft und Hörigkeit in Europa [* 16] (Petersb. 1861);
Judeich, Die Grundentlastung in Deutschland (Leipz. 1863);
Peyrer, Die Regelung der Grundeigentumsverhältnisse (Wien [* 17] 1877);
G. Meyer, Lehrbuch des deutschen Verwaltungsrechts, § 100 ff. (Leipz. 1833).