Affekte
(lat.), plötzlich entstehende und ebenso rasch vorübergehende Abweichungen vom natürlichen Gleichgewicht [* 2] des Seelenlebens, die mit gewissen teils allgemeinen, teils spezifischen Erscheinungen am leiblichen Organismus verbunden sind. Durch erstern Umstand sind dieselben von bloßen Gefühlen, die »oft sehr stark, dauerhaft und in die Grundlage eines menschlichen Charakters tief verwachsen sein können« (Herbart), z. B. Familienliebe, Ehrgefühl, von den sogen. Leidenschaften aber dadurch unterschieden, daß letztere tief eingewurzelte Begierden sind. Je nachdem die Abweichung dadurch hervorgebracht wird, daß zu viel, oder dadurch, daß zu wenig Vorstellungen zugleich im Bewußtsein vorhanden sind, teilt man (nach Kant) die in rüstige (sthenische) und schmelzende (asthenische) ein.
Die sonst beliebte
Einteilung in handelnde und leidende ist deshalb unpassend, weil im
Grund alle Affekte
als Affiziert- (Ergriffen-)
sein des
Gemüts ein
Leiden
[* 3] (gleichsam eine vorübergehende
Gemütskrankheit) darstellen und dadurch auch die Zurechnungsfähigkeit
des im
Affekt Befindlichen für die Dauer desselben aufheben. Die
Wirkung des
Affekts ist in beiden
Fällen
die nämliche: die Fähigkeit zur besonnenen Überlegung wird sowohl durch das Übermaß der auf einmal auftauchenden, sich
untereinander gegenseitig verdunkelnden
Vorstellungen als durch die
Abwesenheit solcher erschwert, ja vernichtet, die, wenn
sie vorhanden wären, den Gegenstand des
Affekts in einem andern
Licht
[* 4] erscheinen lassen würden
(Flut und
Ebbe des Vorstellens).
Der sthenische Affekt (z. B. Zorn, Freude) ist daher ganz, der asthenische (z. B. Furcht, Traurigkeit, Schrecken) wenigstens teilweise »mit Blindheit geschlagen«. Jener ist dem Rausch, dieser der Ohnmacht verwandt. Jener führt, da die psychischen Vorgänge jedesmal von entsprechenden physischen begleitet, durch solche verursacht oder Ursachen von solchen sind, durch das Zuviel im seelischen auch ein Zuviel im leiblichen, dieser aus gleichem Grund ein Zuwenig im Lebensprozeß (Hypertrophie, Atrophie) herbei, wobei die Wirkung, ganze oder teilweise Stockung desselben, die nämliche ist.
Sind die dem Affekt zu Grunde liegenden Vorstellungen derart, daß sie jede für sich eine Bewegung erzeugen würden, so bringen die von allen Seiten zugleich und nach allen Richtungen hin ausgehenden Bewegungsimpulse dieselbe Wirkung hervor, wie wenn überhaupt gar keine solchen vorhanden wären: sie heben sich untereinander auf. Der Affekt ist ebensowohl ein psychologischer wie ein physiologischer Gegenstand. In ersterer Hinsicht macht er durch das Zuviel oder Zuwenig der Vorstellungen blind, in letzterer durch das Zuviel oder Zuwenig der Muskelbewegungsanreize starr.
Der höchste Grad des Affekts ist mit Sprach- und Bewegungslosigkeit verknüpft. Der Zorn, die Freude lähmen alle, Furcht und Schrecken diejenigen Glieder, [* 5] mit welchen der Furchtsame sich verteidigen, der Erschreckte entfliehen könnte. Zorn und Schrecken, aber auch plötzliche Freude können den Tod oder doch bleibende Lähmung (durch Schlagfluß) herbeiführen. Der Affekt gleicht einem Windstoß, der das Meer aufwühlt; die Wellenbewegung [* 6] währt fort, nachdem er vorübergebraust ist.
Schwindet die organische Lähmung früher als der Affekt, und pflanzt sich der Aufruhr im Gemüt widerstandslos auf die Glieder des Leibes fort, so erfolgen Handlungen, welche Thaten des im Affekt Befindlichen zu sein scheinen, aber im strengen Sinn des Worts nicht sind, da sie ohne Überlegungs- und folglich ohne Zurechnungsfähigkeit vollbracht werden. Der Zorn wird Tobsucht, die Freude Ausgelassenheit, der Feige greift zur Notwehr und schreit um Hilfe, der Erschrockene läuft davon.
Schwindet dagegen, wie meistens, der
Affekt früher als die durch denselben verursachte Aufregung im
Körper
(Wallung des
Bluts,
Zittern der
Glieder), so wirkt diese umgekehrt nun auf die
Seele zurück und unterhält den
Affekt, der, sich selbst überlassen,
vorübergehen würde. Diese mit dem
Affekt verbundenen leiblichen Zustände, die teils allen Affekten
oder doch mehreren gemein, teils einzelnen derselben eigen sind
(Erröten bei der
Scham, Erbleichen bei der
Furcht,
Lachen bei
der
Freude,
Weinen bei der
Trauer, aber auch umgekehrt), können daher sowohl als Zeichen zur
Darstellung wie als
Mittel zur künstlichen
Erregung der Affekte
verwandt werden; der Redner, der
Schauspieler stellen nicht nur dar, sondern sie reden
und agieren sich selbst in den
Affekt hinein, indem sie
Ton,
Stellung, Gebärde des in demselben Befindlichen nachahmen. Affekte
als
krankhafte Gemütszustände sind keiner direkten, sondern nur einer indirekten Behandlung zugänglich; da sie vernünftige
Überlegung unmöglich machen, so richten
Gründe (z. B. Trostgründe bei Traurigen) gegen dieselben nichts aus. (»Den
Traurigen gib
Wein!«)
Alles, was sich thun läßt, ist, daß man die (äußern und innern) Anlässe zu denselben so gut wie
möglich fern hält, durch Konzentrierung des Vorstellungskreises einer zusammenhangslosen Mannigfaltigkeit, durch Erweiterung
desselben einer kurzsichtigen
Einseitigkeit desselben entgegenarbeitet. Dabei werden bleibende, in
Geschlecht,
Alter,
Temperament und individuellem
Naturell begründete organische
Dispositionen für oder gegen Affekte
(im allgemeinen oder besonderer
Art;
Frauen und
Kinder affektvoller als
Männer und Erwachsene;
Choleriker mehr zu sthenischen,
Melancholiker zu asthenischen
Affekten
geneigt;
Phlegmatiker von
Natur affektlos; Sanguiniker mehr gefühl- als affektvoll) sich niemals
gänzlich beseitigen lassen.