Ära
(zum
Singular gewordene lat. Pluralform aera, d. h.
Zahlen, Posten, von aes, mit Änderung des Geschlechts), zuerst
bei den Westgoten vorkommend, bezeichnet die Reihenfolge der von einem festen Ausgangspunkte an gezählten Jahre, das Schema,
in das die geschichtlichen Begebenheiten ihrer Zeitfolge nach eingereiht werden. Der Anfangspunkt einer
A. ist in der Regel ein großes, die Geschichte der Welt oder eines
Volks bestimmendes Ereignis und heißt die Epoche. Fast
jeder geschichtliche, durch eine abgeschlossene Völkerfamilie repräsentierte Kulturkreis hat eine besondere Zeitrechnung
oder Ära.
Die Übertragung der Zahlenbestimmungen fremder Zeitrechnungen in die christliche ist oft
mit großen Schwierigkeiten verbunden, zumal sich die
Aren fremder
Völker nicht immer auf
Sonnenjahre stützen, sondern auch
auf Mondjahre, oder auf Magistratsjahre, deren
Dauer wesentlichen
¶
mehr
Schwankungen unterlag. Die wichtigsten der gegenwärtig gebräuchlichen Ären sind: die von Erschaffung der Welt, deren sich noch die Juden bedienen, die christliche der europ. Völker, die mohammed., die ind. Ären und die chinesische.
Die Epoche, mit der die von Erschaffung der Welt beginnt, ist sehr verschieden berechnet worden. In dem
Werke «Art de vérifier les dates» (Par. 1750 u. ö.,
neueste Ausg., 19 Bde., ebd. 1821-24)
sind nicht weniger als 108 Berechnungen der Zeit zusammengestellt, die von Adam bis Christus verflossen sein soll und deren
äußerste Punkte um mehr als 3000 Jahre auseinander liegen. Scaliger und Calvisius setzten die Epoche
3949, Petavius 3983, Frank 4181 v. Chr. Die Epoche der jüd. Weltära
ist durch den Rabbi Hillel (im 4. Jahrh. n. Chr.) auf das
J. 3449 vor der der Seleuciden (oder 3761 v. Chr.) berechnet worden, und kam seit dem 11. Jahrh. bei den Juden in Gebrauch. Die
konstantinopolitan. oder byzant. Weltära
, deren Epochenjahr 5508 v. Chr. fällt, hat lange im Bereiche
der griech. Kirche, in Rußland z. B. bis 1700, wo Peter d. Gr. die christliche Ära
einführte, in bürgerlichem und kirchlichem
Gebrauche bestanden. In wissenschaftlichen Werken war seit dem 17. Jahrh. lange die von Jos.
Scaliger aufgestellte Julianische Periode (s. d.) verbreitet, die für die Rechnung unleugbare Vorteile
bot.
Die von Christi Geburt rührt vom röm. Abt Dionysius (s. d.) Exiguus her, der in der ersten Hälfte des 6. Jahrh.
n. Chr. lebte. Er stellte eine Ostertafel auf, die er an die Jahre von der Menschwerdung Christi (anni ab incarnatione Domini)
knüpfte, neben welchem Ausdrucke beim Datieren auch die Bezeichnung anno gratiae, seltener a nativitate
Domini, und erst in späterer Zeit anno Christi, salutis oder orbis redemti aufkam. Diese Ära
findet sich in kirchlichem
Gebrauche in Rom
[* 3] bald nach der Mitte des 6. Jahrh.; im 8. Jahrh. ward
sie besonders durch die Schriften des Beda Venerabilis verbreitet.
Der erste Fürst, der sich ihrer zuweilen in Urkunden bediente, war Karl d. Gr. Schon mit dem 10. Jahrh. war sie in Frankreich und Deutschland [* 4] allgemein üblich und wurde bald die gemeinsame der abendländ. Christen. Für die vorchristl. Geschichte ist erst in neuerer Zeit die Zählung von Jahren vor Christi Geburt die allgemein übliche geworden. (S. Julianische Periode.) Die Astronomen setzen nun das Jahr, das nach der gewöhnlichen Zeitrechnung das erste v. Chr. war, gleich 0 und bezeichnen die vorhergehenden Jahre als -1, - 2, -3 u. s. f., so daß sich nach dieser Zählung immer eine Einheit weniger ergiebt.
Die Epoche der christlichen Ära
ist nach Dionysius, der unter incarnatio die Verkündigung Maria (25. März) verstand
und diese mit dem ihr vorangegangenen bürgerlichen Jahresanfang kombinierte, der 1. Jan. des Jahres, in welches die Geburt Christi
nach seiner Berechnung fiel, des 754. Jahres der Varronischen Ära.
Daß des Dionysius Berechnung nicht mit
den Angaben der Evangelien zusammenstimmt, sondern vielmehr nach diesen Christi Geburt mindestens fünf, höchst wahrscheinlich
sieben Jahre früher zu setzen ist, hat vorzüglich Ideler gezeigt. Neben dem 1. Jan. sind aber noch viele andere Tage des christl.
Jahres als Neujahrstage gebraucht worden und zum Teil bis ins 18. Jahrh.: der 1. März in Venedig,
[* 5] der 25. März besonders
in Florenz
[* 6] und Pisa
[* 7] sowie in England, der
Ostertag namentlich in Frankreich, endlich Weihnachten selbst in Frankreich, Italien
[* 8] und Deutschland. In Pisa zählte man die Jahre ab incarnatione vom 25. März 1 v. Chr., in Florenz vom 25. März 1 n. Chr. Man
nennt diese beiden auch anderweitig verbreiteten Zeitrechnungen calculus Pisanus und calc. Florentinus (bis wo
beide Zeitrechnungen abgeschafft).
Die mohammedanische Zeitrechnung beginnt mit der Hidschra (Hedschra, Hegira), d. i. der Auswanderung Mohammeds von Mekka nach Medina (s. Hidschra).
In Indien herrschen vorzugsweise drei verschiedene Ären. A. Die auf religiös-nationale Anschauungen gebaute
ist die Ära
des Kali-yuga. Sie beruht auf der alten mythischen Einteilung in vier Weltalter, Yuga (s. d.) genannt: Krita-yuga
das Weltalter der Wahrheit, Treta-yuga das Weltalter der Frömmigkeit, Dvāpara-yuga das Weltalter des Zweifels, Kali-yuga
das Weltalter der Sünde. Zwischen jedem Yuga ist eine Periode der Morgen- und Abenddämmerung (Sandhi),
die ein Sechstel der Dauer der ganzen Periode beträgt.
Das erste Weltalter mit seinem Sandhi umfaßt 4800, das zweite 3600, das dritte 2400, das vierte 1200 Götterjahre. Diese 12000 Götterjahre zusammen bilden ein Mahā-yuga, d. h. ein großes Weltalter. Da für die Götter das menschliche Jahr nur die Bedeutung eines Tags hat, so kommen auf das Götterjahr 360 gewöhnliche Jahre. Das Mahā-yuga enthält demnach 4 320000 ind. Jahre. Eine Periode von 1000 Mahā-yugas heißt Kalpa = 4 320000000 Jahre. Diese letztere Summe gilt als ein Tag des Brahma. Am Ende dieser großen Kalpaperiode geht die ganze Welt, selbst die Götter, unter; nur Gott lebt ewig fort.
Ebensolange dauert dann die Zeit der Vernichtung, worauf nun Brahma eine neue Schöpfung beginnt. Nach 100 Jahren, wenn also 36000 solche
Kalpas verflossen sind, stirbt auch Brahma. Den Beginn des Kali-yuga setzt man auf den 18. Febr. 3102 v. Chr. Im südl. Indien
wird noch jetzt häufig nach dieser Ära
gerechnet. Die beiden andern gebräuchlichen, aber auf histor. Epochen gegründeten
Zeitrechnungen sind: B. die Ära
des Vikrāmāditya, genannt Samvat, welche 57 v. Chr. beginnt;
C. die Ära
des Çālivâhana,
genannt Çāka, die vom J. 78 n. Chr. zählt.
Das ind. Jahr beginnt am ersten des Monats Vaiçākha, d. h. an dem Tage, wo der Mond [* 9] in dem Sternbilde der südl. Wage [* 10] voll wird, von Mitte April bis Mitte Mai. Die Indier rechnen nach Sonnenjahren zu 365 Tagen 6 St. 12 Min. 30 Sek., also nach einem Jahre, das nur um 3 Min. länger ist als das astronomisch bestimmte siderische Jahr. Da aber alle kirchlichen Feste an den Mondlauf geknüpft sind, so müssen sonnen- und Mondjahr gegeneinander ausgeglichen werden, was eine verwickelte Rechnung giebt. -
Vgl. Warren, Kāla-sankalita, a collection of memoirs on the various modes according to which the Indians divide time (Madras [* 11] 1825).
Die Buddhisten rechnen nach dem Todesjahre des Buddha Çakyamuni, das freilich bei verschiedenen Völkern
sehr verschieden angegeben wird. Nach der mit der Geschichte am meisten übereinstimmenden Angabe fällt das erste Jahr der
buddhistischen Ära
auf den Anfang des J. 477 v. Chr.
Über die der Chinesen s. China. [* 12]
Unter den alten, für das Geschichtsstudium wichtigen Ären sind zu nennen: die griechische Ära
nach Olympiaden,
die römische von der Erbauung Roms,
¶
mehr
die ägyptisch-chaldäische Ära
des Nabonassar, die syrische der Seleuciden, die des röm. Kaisers Diocletian und die spanische.
Über die Olympiadenära
s. Olympiade.
Die von Erbauung der Stadt Rom (p. u. oder p. u. c., d. i. post urbem conditam, oder a. u., d. i. anno urbis und a. u. c., d. i. anno urbis conditae oder ab urbe condita) ist von den Römern selbst verschieden berechnet worden. Unter den Angaben über die Zeit, in welche diese Erbauung zu setzen sei, sind namentlich zwei, als vorzüglich in histor. Gebrauch gekommen, hervorzuheben. Die eine wird nach ihrem vermutlichen Urheber, Terentius Varro, die Varronische genannt. Sie setzt jenes Ereignis in das Frühjahr (21. April, das Fest der Palilien) von Olympiade 6,3, d. i. das J. 753 v. Chr.; es ist demnach 753 p. u. das 1. Jahr vor, 754 p. u. das 1. Jahr nach Christi Geburt. Um also ein Jahr der Stadt, dessen Zahl 753 nicht übersteigt, in das entsprechende Jahr vor Christi zu verwandeln, oder umgekehrt, muß man die jedesmalige Jahreszahl von 754 abziehen.
Sind Jahre der Stadt, die 753 übersteigen, auf Jahre nach Christi zu reduzieren, oder umgekehrt, so muß man von jenen 753 abziehen,
wodurch man die Jahre nach Christi, oder zu diesen 753 addieren, wodurch man die Jahre der Stadt erhält.
Hierbei wird der fast vier Monate betragende Unterschied zwischen dem eigentlichen Anfange der Jahre der Stadt und denen der
christl. Zeitrechnung gewöhnlich nicht weiter beachtet. Die Varronische Ära
war seit Kaiser Claudius (41-54 n. Chr.) bei den
röm. Schriftstellern die vorherrschende und wird auch von den neuern gewöhnlich
gebraucht. Für die zweite Ära
sind die Palilien von Olympiade 6,4 oder 752 v. Chr. die Epoche. Sie wird, weil auf ihr die
Jahrzählung der kapitolinischen Fasten (fasti capitolini, s. Fasti) beruht, die Kapitolinische genannt. Im bürgerlichen
Gebrauche wurden die Jahre bei den Römern durch die Namen der betreffenden Konsuln bezeichnet.
Die Ära Nabonassars wird die Reihe von 424 Jahren genannt, die in dem ursprünglich ägyptischen, in des Ptolemäus Handtafeln enthaltenen Regentenkanon mit dem babylon.-chaldäischen Könige Nabonassar (s. d.) beginnt. Ihre auf astron. Beobachtungen der Chaldäer gestützte Epoche ist der 26. Febr. 747 v. Chr., mit welchem Tage damals das ägypt. Wandeljahr (s. Kalender), nach dem die Chaldäer rechneten, seinen Anfang nahm. An sie schließt sich dann die Philippische, von Philipp III. (s. d.) Arrhidäus von Macedonien, oder die Ära nach Alexanders Tode sofort an. Ihr Ausgangspunkt ist der Anfangstag des ägypt. Jahres, in das dieses Ereignis fiel (12. Nov. 324). Doch wird diese Ära bisweilen nicht weiter beachtet, sondern die Jahre nach der A. Nabonassars werden fortgezählt. Im bürgerlichen Gebrauche ist bei den Ägyptern und Chaldäern keine von beiden gewesen, sondern man pflegte vielmehr nach den Regierungsjahren des jedesmaligen Königs zu datieren.
Die der Seleuciden, nach der man im Syrischen Reiche gewöhnlich rechnete, hat den Herbst des J. 312 v. Chr. zur Epoche, in welchem Seleucus I. Nikator, nach dem Siege bei Gaza, Babylon in Besitz nahm. Diese Ära erhielt sich auch nach dem Untergange des Syrischen Reichs noch lange, war bei den Juden bis ins 11. Jahrh. in Gebrauch und ist noch jetzt bei der kirchlichen Festrechnung der syr. Christen üblich. Neben ihr kamen später in Syrien noch andere Ären auf, darunter die namentlich in Antiochia angewandte Cäsarianische oder Antiochische, deren Epochenjahr = 49 v. Chr. ist, und die Bostrenische (s. Bosra).
Die Diocletianische Ära, die mit dem Anfangstag des festen alexandrinischen Jahres (s. Kalender), in welchem der röm. Kaiser Diocletian seine Regierung antrat (29. Aug. 284), beginnt und wegen der in ihr 19. Jahr fallenden Christenverfolgung auch die Märtyrerära (Aera martyrum) genannt wird, wurde in Ägypten, [* 14] dessen Verwaltung Diocletian neu geordnet hatte, bis auf die Herrschaft der Araber als bürgerliche angewandt und ist noch bei den Kopten [* 15] und äthiop. Christen in kirchlichem Gebrauche.
Die spanische der Westgotenzeit beginnt 38 v. Chr. und dauerte bis in das 14. Jahrh.
Aus der neuern Zeit ist zu erwähnen die der Französischen Republik, deren Epoche der Stiftungstag der Republik, war (s. Kalender). Litteratur s. Chronologie.