Ablaß
oder Indulgenz, eigentlich der Nachlaß einer von der Kirche auferlegten Bußleistung. Die Kirchenstrafen waren anfänglich öffentliche Büßungen, durch die der aus der Kirchengemeinschaft ausgeschlossene Sünder die Aufrichtigkeit und Beständigkeit seiner Reue bekunden sollte. (S. Buße.) Schon auf der allgemeinen Kirchenversammlung zu Nicäa (325) erhielten die Bischöfe das Recht, Abgefallenen bei nachweislich ernstlicher Reue einen Teil ihrer Bußzeit nachzulassen.
Als Zeichen der Reue wurden früh sog. «gute Werke» betrachtet: Gebet, Fasten, Almosen, Wallfahrten u. s. w. Seit dem 5. Jahrh., als die alte Strenge der Kirchenzucht nachließ, schien eine Umwandlung der öffentlichen Kirchenstrafen in geheime Leistungen guter Werke immer allgemeiner geboten. Diese erhielten bald den Charakter einer eigentlichen Kirchenstrafe. So war nur noch ein Schritt, um diese Werke als förmliche Genugthuung oder Satisfaktion für die begangene Schuld zu betrachten.
Dies geschah in der Kirche des Abendlandes unter dem Einflusse der german. Rechtsanschauung, nach der die Verletzung eines andern durch eine Buße, d. h. eine bestimmte als Äquivalent angenommene Leistung, gesühnt und damit der Verletzte abgefunden werden konnte. Demnach trat auch bei der Kirchenstrafe die Vorstellung einer Gott, als dem gekränkten Teile, zu leistenden Satisfaktion hervor. Die altgerman. Gesetzgebungen kannten nun sowohl die Übertragung der Bußleistung auf andere als auch die Kompensation des Verbrechens durch Geld (Wergeld). An diese Volkssitte knüpfte auch die Kirche an; so kamen seit Ende des 7. Jahrh. von England aus die sog. Beichtbücher in Umlauf, die in tabellarischer Übersicht Erleichterung oder Vertauschung der Kirchenstrafen, z. B. für Fasten Psalmengesang oder Almosen, auch Geldspenden an Kirchen und Kleriker boten.
Auch stellvertretende Büßungen kamen schon auf: ein Reicher konnte eine Bußzeit von sieben Jahren in drei Tagen absolvieren, wenn er die entsprechende Anzahl Männer mietete, die für ihn fasteten. Doch erschien noch im 9. Jahrh. die Meinung, als werde Sündenvergebung durch Geld erkauft, so lästerlich, daß mehrere Provinzialsynoden die Verbrennung der Beichtbücher anordneten. Aber die fortschreitende Veräußerlichung des Kirchentums und die größern Geldbedürfnisse des Klerus machten den Mißbrauch immer mehr zur herrschenden Sitte.
Schenkungen an
Kirchen und Klöster geschahen immer allgemeiner in der
Absicht, die
Sünden dadurch abzukaufen; bischöfl. und
päpstl.
Urkunden erteilten reichliche Privilegien an
Kirchen, die jedem, der zu ihrer
Stiftung oder
Erhaltung
einen Beitrag gab, einen
Teil der
Buße erließen, bisweilen selbst Vergebung aller
Sünden boten. Viele
Kirchen sind besonders
im 10. und 11. Jahrh. auf diese
Weise entstanden. Im 11. Jahrh. erscheint unter Papst
Alexander II. auch der
Name für Ablaß
(Indulgentia).
Man gewährte mit der Zeit den Ablaß
selbst für das Besuchen einer gewissen
Kirche an gewissen
Tagen, für das Anhören einer
Predigt, für bestimmte Gebete und gewisse fromme Leistungen
u. dgl.
Teils die immer schreiender hervortretenden
Mißbräuche
in der Handhabung des Ablaß
, teils hierarchisches Interesse bestimmten zwar Papst Innocenz III.
1215, die
Bischöfe in der
Übung des Ablaß
zu beschränken, und der vollkommene Ablaß (indulgentia plenariae) wurde allmählich
dem röm.
Bischofe vorbehalten.
Aber um so rücksichtsloser übte dafür
Rom
[* 2] selbst dieses Ablaß
wesen, das allmählich zur förmlichen
Besteuerung der Christenheit
ausartete. So wurde z. B. auf dem
Reichstage zu
Nürnberg
[* 3] 1466 ein Ablaß
vorgeschlagen, um
Geld zum Türkenkriege
aufzubringen. Die Scholastik begründete den Ablaß
auch theoretisch. Man behauptete, daß
Christus, Maria und die
Heiligen sich
überschüssige Verdienste vor Gott erworben und diesen «unendlichen» Schatz
«überverdienstlicher» Werke
(Opera supererogationis, s. d.) der
Kirche zur Übertragung an solche überlassen hätten, die
dieser
Gnade für würdig erachtet würden. Die Art, in der
Leo X. 1514 und 1516, angeblich zur
Führung
des Türkenkrieges, in Wahrheit zum
Bau der Peterskirche in
Rom und zur Bestreitung der Kosten seines luxuriösen Hofhaltes,
den Ablaß
handhabte, wurde einer der Hauptanstöße zur
Reformation. (S.
Tezel.)
In dem Streite
Luthers gegen den Ablaß
handel kam die scholastische Ablaßtheorie allseitig zur
Sprache.
[* 4] Die berühmten
Sätze, welche
Luther an die Schloßkirche zu Wittenberg
[* 5] schlug (s.
Reformation), waren noch nicht
gegen den Ablaß
selbst, sondern nur erst gegen dessen
Mißbrauch gerichtet. Einen Schritt weiter ging
Luther schon in dem bald
nachher verfaßten
«Sermon von und
Gnaden», in dem er die scholastische
Lehre
[* 6] von der Satisfaktion, als
drittem
Stücke des
Bußsakraments (s.
Buße), verwarf und dadurch dem ganzen Ablaß
wesen seine
Begründung entzog.
Die scholastische Lehre wurde aber durch eine Bulle Leos X. vom bestätigt. Hiernach werden durch die priesterliche Absolution sowohl die Schuld als die ewigen (Höllen-)Strafen erlassen; dagegen bedarf es zum Erlasse der zeitlichen Strafen einer vom Sünder selbst noch zu leistenden Genugthuung, welche die Kirche zu bestimmen hat. Unter diesen zeitlichen Strafen sind nicht bloß die kirchlichen, nach dem kanonischen Rechte auferlegten Bußen, sondern auch göttliche Strafen zu verstehen, und zwar teils irdische, teils ¶
mehr
Fegefeuerstrafen. Der Ablaß
ist entweder ein vollkommener oder ein unvollkommener. Bei jenem werden alle zeitlichen
Sündenstrafen nachgelassen, bei diesem nur ein Teil. Das Maß der unvollkommenen Ablaß
wird nach der Zeit bestimmt. Wie in der
alten Kirche Tage, Quadragenen (die Zeit der vierzigtägigen Fasten) oder Jahre von der Bußzeit nachgelassen
wurden, so werden jetzt von einer bestimmten Zahl von Tagen, Quadragenen oder Jahren verliehen. Den Seelen im Fegefeuer können
Ablaß
direkt nicht verliehen werden; wer aber einen Ablaß gewinnt, kann ihn fürbittweise (per modum suffragii)
einem Verstorbenen zuwenden, und diese Fürbitte gilt als immer wirksam.
Die Kirchenversammlung zu Trient
[* 8] hat manche Mißbräuche, namentlich die Geldgewinnste beseitigt. Ihre Verordnung
aber, bei der Verleihung der Ablaß
Maß zu halten, ist in Vergessenheit geraten. Die Ablaß
sind jetzt viel zahlreicher und leichter
zu gewinnen als früher. Auch kommt noch in neuern päpstl. Erlassen die Formel vor, daß für dieses oder jenes «gute
Werk» «vollkommene Sündenvergebung» verheißen wird. –
Vgl. von röm.-kath. Seite: Beringer, Die Ablaß
, ihr Wesen und Gebrauch
(9. Aufl., auf Grund der Arbeiten von Ablaß
Maurel und J. Schneider, Paderb. 1887);
von prot. Seite: E. Bratke, Luthers 95 Thesen und ihre dogmenhistor.
Voraussetzungen (Gött. 1884); Dieckhoff, Der Ablaßstreit, dogmengeschichtlich dargestellt (Gotha [* 9] 1886).