Abgeordnete,
Bezeichnung der freigewählten Volksvertreter im konstitutionellen Staate, im Gegensatz zu den durch persönliches Recht, durch Ernennung des Staatsoberhauptes oder durch Bevollmächtigung einer berechtigten Körperschaft (z. B. einer Stadt, eines geistlichen Stifts, einer Universität) zur Teilnahme an Landtagen Berufenen. In Frankreich nennt man die Mitglieder des Gesetzgebenden Körpers schlechthin députés, in England Members of Parliament (abgekürzt als Titel M.P.), im Deutschen Reiche Mitglieder des Reichstags.
Der Abgeordnete unterscheidet sich von dem Bevollmächtigten dadurch, daß er nicht bloß die Rechte und Interessen seiner Wähler, sondern vielmehr das Gesamtinteresse des ganzen Landes, bez. Reichs, zu vertreten, daher auch nicht nach Instruktionen, sondern nach seiner freien Überzeugung zu stimmen hat. So sind auch nach Reichsverfassung Art. 29 die Mitglieder des Reichstags Vertreter des ganzen Volks und an Aufträge oder Instruktionen nicht gebunden. Allerdings wird von einem Abgeordnete erwartet, daß er den Überzeugungen treu bleibt, die er vor seiner Wahl entweder ausdrücklich (in Wahlprogrammen, Wahlreden oder dergleichen) bekundet oder als notorisch von ihm vertreten stillschweigend anerkannt hat. Ob der Abgeordnete, wenn er aus irgendwelchem Grunde seine polit.
Überzeugung und Parteistellung wechselt, moralisch verpflichtet ist, sein Amt als Abgeordnete niederzulegen und einer Neuwahl sich zu unterwerfen, ist eine in der Praxis bestrittene Frage; doch scheint der polit. Anstand es zu erfordern. Dagegen haben die Wähler kein Recht, zu verlangen, daß der Abgeordnete sich nach ihren wechselnden Stimmungen richten, oder wenn sie infolge solcher ihm ihre Unzufriedenheit bezeigen (ihm ein Mißtrauensvotum geben), deshalb resignieren, oder daß er bei einzelnen Abstimmungen sich nach den ihrerseits ihm kundgegebenen Wünschen unbedingt richten müßte (sog. mandat impérativ).
Daß ein Abgeordnete, wenn er in den Staatsdienst eintritt oder in demselben eine Beförderung oder ein höheres Gehalt erlangt, sich einer Neuwahl unterziehen muß, ist, da sonst leicht Bestechungen auf diesem Wege vorkommen könnten, fast in allen Verfassungen vorgeschrieben. So auch Reichsverfassung Art. 21². Andererseits sind die Abgeordnete fast überall gegen willkürliche Verfolgungen sichergestellt und in der Freiheit ihrer Überzeugungen und Meinungsäußerungen geschützt durch verfassungsmäßige Vorschriften, insbesondere in der Weise, daß ein Abgeordnete selbst wegen Verdachts eines Verbrechens (außer bei Ergreifung auf frischer That) nicht ohne Genehmigung des Vertretungskörpers, dessen Mitglied er ist, verhaftet werden darf (Reichsverfassung Art. 31), daß auf Beschluß der Versammlung eine über einen Abgeordnete verhängte Untersuchungs- oder Civilhaft sowie jedes schwebende Strafverfahren für die Dauer der Sitzungsperiode aufgehoben werden muß (Reichsverfassung Art. 31), ferner daß kein Abgeordnete wegen seiner Abstimmung oder wegen der in Ausübung seines Berufs gethanen Äußerungen gerichtlich oder disciplinarisch verfolgt, oder sonst außerhalb der Versammlung (wo er der Geschäftsordnung unterliegt) zur Rechenschaft gezogen werden darf (Reichsverfassung Art. 30, Strafgesetzb. §. 11). Auf die Verbüßung einer bereits erkannten Freiheitsstrafe dagegen hat die Eigenschaft als Abgeordnete keinen Einfluß. Ob und welche Entschädigungen und Befreiungen die Abgeordnete während der Erfüllung ihrer Pflicht genießen (Diäten, Reisegelder oder freies Reisen auf den Eisenbahnen, Portofreiheit u. dgl.), ist in den verschiedenen Einzelstaaten verschieden festgesetzt. Die Abgeordnete zu den deutschen Einzellandtagen beziehen allgemein Diäten oder Tagegelder und Reiseentschädigungen; die zum Deutschen Reichstage erhalten keine Diäten und haben nur freie Eisenbahnfahrt zwischen ihrem Wohnort und dem Sitz des Reichstags während der Sessionen, resp. acht Tage vor- und nachher (s. Diäten). Portofreiheit für die Abgeordnete besteht in Deutschland nirgends (§. 6 des Gesetzes, betreffend die Portofreiheiten, vom