Witwenkassen
sind Versicherungsanstalten, welche sich gegen Erhebung von Jahresbeiträgen der Versicherungsnehmer verpflichten, vom Tode der letztern ab den von denselben hinterlassenen Witwen eine bestimmte Rente zu zahlen. Häufig ist auch außer dieser eventuellen Witwenrente (Witwengeld) eine Rente für die etwa hinterlassenen unmündigen Kinder bis zum Alter der Erwerbsfähigkeit (Waisengeld) versprochen, welche entweder neben der Witwenrente oder, wenn die Ehefrau, bez. die Witwe inzwischen gestorben sein sollte, allein zu leisten ist.
Über die Höhe der Leistungen beider Teile können verschiedene Vereinbarungen getroffen werden. Namentlich können die Jahresbeiträge als lebenslänglich oder nur bis zu einem bestimmten Alter zahlbar, als bezüglich der Höhe fest bestimmt oder dem jeweiligen Diensteinkommen entsprechend etc., die Witwengelder als im voraus unabänderlich festgesetzt oder in einem bestimmten Verhältnis zum letzten Diensteinkommen des Versicherungsnehmers etc. vereinbart sein.
Die Witwenkassen
haben weit mehr ungewisse Verhältnisse zu berücksichtigen als die
Lebensversicherung, und ihre wissenschaftlichen
Fundamente sind mannigfacher und problematischer, denn bei den Witwenkassen
kommen nicht allein die wahrscheinliche
Lebensdauer der Versicherungsnehmer und deren Ehefrauen, sondern auch die
Fragen: wieviel
Personen der in
Rede stehenden Art
heiraten, in welchem
Alter thun sie es, wie alt sind die
Frauen bei der Verheiratung, wie lange dauert
die
Ehe, wie lange der Witwenstand bis zum
Tode der
Witwen oder bis zu einer zweiten
Heirat, wieviel
Witwen überleben ihre
Männer,
wieviel
Kinder hinterlassen letztere, in welchem
Alter stehen dann die
Kinder, wie ist die
Sterblichkeit
derselben bis zum Versorgungsalter u. a. in Betracht.
Nichtsdestoweniger hat sich die neuere wissenschaftliche Behandlung des Versicherungswesens in
Deutschland
[* 2] und andern
Ländern
früher auf die Witwenkassen
als auf die
Sterbekassen
(Lebensversicherungen) erstreckt. Nach englischem
Muster wurde 1737 die dänische
Militär-Witwenkasse in
Kopenhagen
[* 3] gegründet, welche indes wegen zu niedriger Beiträge sich nicht als
zahlungsfähig erwies und 1775 durch die Allgemeine Witwenkasse
zu
Kopenhagen ersetzt wurde, 1750 das kasselsche Witweninstitut, 1752 das
lippesche, 1754 das bremische, 1757 das weimarische etc. Bis zum Ende des 18.
Jahrhunderts wurden namentlich in Nordwestdeutschland,
wo Kritter,
Karsten,
Tetens u. a. durch
Wort und Wirken der
Erkenntnis über die Witwenkassen
Bahn gebrochen hatten,
eine ziemlich erhebliche Anzahl von Witwenkassen
ins
Leben gerufen. In Süddeutschland kamen sie etwas später zur allgemeinern Geltung, 1787 wurde
die
erste in
Österreich
[* 4] (Unterösterreich), 1793 die in
Olmütz
[* 5] errichtet, in
Bayern
[* 6] bildeten sich erst in den ersten Jahrzehnten
des laufenden
Jahrhunderts für einzelne
Kreise
[* 7] Witwenkassen
heraus. Jetzt ist schwerlich irgend ein Kulturstaat
ohne Witwenkassen.
Sie wurden zum großen Teil vom
Staat selbst oder von Provinzialregierungen und Kommunalverwaltungen mehr oder weniger
nach den
Grundsätzen der
Versicherung gegründet und eingerichtet und zwar zunächst für deren Beamte, für
Pfarrer und
Lehrer,
deren Familienversorgung ihnen um so mehr obliegen mußte, als die
Besoldungen vielfach gering zu sein
pflegten. Oft
¶
mehr
war der Beitritt zu den Anstalten nur gewissen Klassen der Staats- und Kirchendiener erlaubt, wie es denn namentlich manche Witwenkassen
nur für
Pfarrer und Lehrer gab und gibt; oft wurde die Beteiligung an einer solchen Kasse den Beamten zur Pflicht gemacht, zuweilen blieb
sie ihrem freien Ermessen überlassen, zuweilen wurde auch Privatpersonen die Benutzung der Anstalten
gestattet, z. B. bei der Allgemeinen dänischen Witwen-Pensionsanstalt, der oldenburgischen
u. a.; oft übernahm der Staat die Garantie für die Leistungsfähigkeit der Kasse mit Gewährung von Zuschüssen aus allgemeinen
Staatsmitteln, oft verwaltete er nur dieselben unter dem Vorbehalt der Einziehung von Nachschüssen oder der Kürzung der
Witwengelder bei Unzulänglichkeit der Kassenleistungen.
Neben diesen vom Staat, von Provinzialbehörden und Gemeinden gegründeten Anstalten entstanden eine Reihe von offenen Privatinstituten,
wie die kasselsche von 1750, die Witwenversorgungssocietät zu Bremen
[* 9] von 1754, die kalenbergische von 1767 u. a.; doch gingen
diese Gesellschaften meistens bald wieder zu Grunde oder wurden von den Regierungen übernommen. In nur
sehr beschränktem Maß haben die Lebensversicherungsgesellschaften die Witwenkasse als Geschäftszweig eingeführt, während
viele Witwenkassen
von Korporationen, Gesellschaften und einzelnen Privatpersonen für ihre Angestellten errichtet wurden. So hat noch
heute das Witwenkassen
wesen hauptsächlich für die Beamten Bedeutung, für diese immerhin zahlreichen Personen aber einen
sehr hohen Wert.
Für die preußischen Beamten wurde als erste die Berliner [* 10] Pensionsanstalt für Witwen der Zivilbeamten von Interessenten 1773 errichtet; sie verteilte nur die Jahresüberschüsse ratierlich unter die Witwen, gab also keine festen Pensionen. Sie wurde verdrängt durch die königlich preußische Witwenverpflegungsanstalt, welche 1775 unter Landesgarantie gegründet wurde und auch dem Privatpublikum zum Beitritt offen stand, infolge der Katastrophe von 1806 zusammenbrach, doch 1816 reorganisiert und 1817 mit dem Beitrittszwang für die Staatsdiener ausgestattet wurde.
Für die Reichsbeamten schuf das Gesetz vom eine neue Witwen- und Waisenkasse; das mit diesem Gesetz in den wesentlichen Punkten übereinstimmende Gesetz vom ordnete aufs Neue die Verhältnisse der preußischen Witwenkasse. Nach diesen Gesetzen haben die Reichs-Zivilbeamten und die unmittelbaren preußischen Staatsbeamten, welche Anwartschaft auf Staatspensionen haben, bis zu ihrem Tod, bez. bis zum Austritt aus dem Dienst, wenn solcher ohne Pensionierung erfolgt, oder bis zur Pensionierung, bez. wenn zur Zeit der letztern noch minderjährige Kinder vorhanden sind, so lange, bis das jüngste derselben 18 Jahre alt geworden ist, jährlich 3 Proz. vom pensionsfähigen Diensteinkommen oder Wartegeld (bis von 9000 Mk.) oder von der Pension (bis von 5000 Mk.) zu zahlen.
Dafür leistet die Kasse, wenn der Beamte mit Hinterlassung von Familie stirbt und die Ehe nicht nach der Pensionierung oder innerhalb dreier Monate vor dem Tod und mit der Absicht, der Frau den Genuß des Witwengeldes zu verschaffen, eingegangen worden ist, in monatlichen Pränumerandozahlungen für die Witwe bis zu deren Tod oder Wiederverheiratung ein Drittel der Pension, welche der Verstorbene bezogen hat oder zu beziehen berechtigt gewesen wäre, wenn er am Todestag in den Ruhestand versetzt wäre, doch mindestens 160 und höchstens 1600 Mk., und für die Waisen bis höchstens zum vollen Betrag der Pension und bis zur Vollendung des 18. Lebensjahrs neben der Pension der Mutter je ⅓ des Witwengeldes oder, wenn die Mutter tot oder zum Witwengeld nicht berechtigt ist, je ⅓ des Witwengeldes.
Die für Arbeiterkreise wichtige Witwen- und Waisenversicherung ist bis jetzt nur in beschränktem Maß, z. B. durch Knappschaften, einzelne Fabrik- und Arbeiterkassen, verwirklicht. Die Ausdehnung [* 11] auf den ganzen Arbeiterstand bildet eine in Deutschland bereits ins Auge [* 12] gefaßte Aufgabe der Zukunft.
Vgl. von ältern Werken: Euler, Sur les rentes viagères, in den »Mémoires de Berlin« [* 13] 1760, und »Éclaircissements et calcul sur les caisses des veuves« (Petersburg [* 14] und im »Neuen Hamburger Magazin«),
die Schriften von Kritter, Florencourt, Tetens, Littrow u. a.